Albrecht Dürer: Als das Ende der Zeit anbrach
Am 29. Juni des heiligen Jahres 1500, am jährlichen Festtag der römischen Patrone Peter und Paul, fegte ein heftiges Gewitter durch den Vatikan. Ein Blitz schlug in die päpstliche Residenz ein und brachte ihr Dach zum Einsturz. Papst Alexander VI., der berüchtigte Kirchenfürst Rodrigo Borgia, wurde dabei am Arm verletzt. In den folgenden Wochen verbreitete sich die Nachricht über dieses ungeheuerliche Ereignis wie ein Lauffeuer in der Christenheit. Ein vom Himmel gesandtes Unwetter, durch das ausgerechnet am Peter-und-Pauls-Tag des heiligen Jahres der Papst beinah getötet wurde, konnte kein Zufall sein!
Einige Monate später und mehr als 1000 Kilometer weiter nördlich griff der Nürnberger Pelzhändler, Immobilienmagnat und Hobbyhumanist Sebald Schreyer zur Feder. In einem Brief an Conrad Celtis in Wien, einem der bedeutenden Humanisten der deutschen Renaissance, schrieb er sich seine Ängste von der Seele: Der Blitzeinschlag im Papstpalast sei als allerletzte Mahnung Gottes vor dem kommenden Weltuntergang zu deuten. Weise nicht vieles auf das Ende hin?, fragte Schreyer. Hätten nicht soeben die Türken mit 150 000 Mann die Stadt Methoni in Griechenland eingenommen und wären damit erstmals bis an die Adria vorgedrungen? Sei das christliche Abendland nicht viel zu zerstritten, um der Gefahr durch die Türken entgehen zu können (er spielte auf den Schweizerkrieg und den Italienischen Krieg an). Wir seien doch selbst schuld. Welch entsetzliche Folgen hätten Hochmut, Neid und Libido – vor allem jene ganze spezielle Libido, deren Namen er nicht auszusprechen wage: die »Sodomie« der Männerliebe. Solchen Verfalls wegen werde die Welt bald wie »Sodoma e Gomorra« von Flammen verzehrt werden. Schreyer schrieb sich angesichts all dieser schlimmen Vorzeichen regelrecht in Rage. Schon jetzt strafe Gott die Menschen mit Katastrophen, Kriegen, Hungersnöten, Teuerung, Pest und allerlei neuartigen Krankheiten. Schreyer lebte unweit eines anderen berühmten Nürnbergers: des Künstlers Albrecht Dürer, der heute vor 550 Jahren zur Welt kam.
Inspirierte die Antike den Nürnberger Künstler?
Schreyers Auflistung der schlimmsten und bedrohlichsten Katastrophen stimmt in vielem mit den vier Unheilsbringern auf dem berühmtesten Holzschnitt Dürers überein: den »Apokalyptischen Reitern«. Ohne jede Rücksicht auf das wehklagende Volk unter den Hufen ihrer fliegenden Pferde sausen Sieg, Krieg, Teuerung und schließlich der Tod als verwesender Leichnam über die Welt hinweg. Niemand kann sie aufhalten.
Das Bild passt zu dem Vorurteil, die Menschen des Mittelalters hätten sich stets ihrem Schicksal ergeben und duldend im Jetzt verharrt. Doch Dürer war wie seine Mitmenschen Teil der Zeit. Tatsächlich wurde, wie der Brief von Schreyer zeigt, die eigene Wirklichkeit durchaus genau beobachtet und reflektiert. In Wahrheit ging es immer wieder um die große Frage der Zukunft: »Wie mache ich etwas aus meinem Leben?« Wie es schon der römische Geschichtsschreiber Sallust im 1. Jahrhundert v. Chr. sagte: »Faber est suae quisque Fortunae« – »Jeder ist seines Glückes Schmied.«
Meist haben Kunsthistoriker Dürers Frühwerk, vor allem seine Druckgrafiken, recht einseitig auf die Frage nach den Vorbildern hin untersucht: Wie sehr und wodurch ließ sich der Künstler von antiken Vorlagen oder den Werken anderer Künstler beeinflussen? Zu wenig wurde hingegen nach ebenjenen bewegenden Themen gefragt, die Dürer und seine Zeitgenossen umtrieben und die sich in seinen Werken spiegeln.
Es war eine merkwürdig widersprüchliche Melange aus kühler Naturbeobachtung und Frömmigkeit, aus Gotteszweifel und dem großen Drang, Außergewöhnliches und die Ordnung Störendes zu deuten. Auch verzehrten sich die Menschen damals geradezu nach tagesaktuellen Nachrichten – 1502 erschien in Nürnberg die erste deutsche Zeitung: die »Newe Zeytung«.
Allerdings wurden alle noch so abseitigen Neuigkeiten stets als Teil des großen Plans Gottes gedeutet. So sprach ganz Deutschland im Frühjahr 1496 von einem »Wunderzeichen«, als am 1. März im Marktflecken Landser zwischen Mülhausen und Basel eine »wunderbare Sau« zur Welt gekommen war. Das Ferkel hatte zwei Leiber mit acht Beinen sowie einen Kopf mit zwei Zungen und vier Ohren. Es war ein regelrechtes Medienereignis – und ist von Dürer in einem Kupferstich veröffentlicht worden. Gedeutet wurde es als Vorzeichen des erwarteten Antichristen und der so genannten Türkengefahr.
Am 1. Mai 1503 erregte die Natur erneut die Gemüter der Nürnberger – und zwar in Gestalt von farbigen Kreuzen, die vom Himmel auf Leiber und Gewänder herabfielen. Viele Menschen fürchteten den nahen Tod. Dabei handelte es sich bei den »Kreuzen« in Wahrheit um Folgen eines ganz und gar harmlosen meteorologischen Phänomens: Unter bestimmten Bedingungen tragen Saharawinde feinen Wüstenstaub bis in unsere Breiten, so dass Regentropfen bisweilen dunkel gefärbt sind. Immer wieder gab es damals Berichte über solche »Blutregen« oder »Kreuzwunder«. Dürer selbst wurde Zeuge dieses Vorfalls: »Daz grost Wunderwerck, daz jch all mein dag gesehen hab, ist geschehen jm 1503 Jor, als awff vil Lewt krewcz gefallen sind, sunderlich mer awff dy Kind den ander lewt. (…) vnd es was gefallen awffs Eyrers Magt, der ins Pirkamers hyndserhaws saß (in Pirckheimers Hinterhaus war Dürer vermutlich geboren worden), jns hemt jnn leinnen duch. Vnd sy was so betrübt drum, daz sy weinet und ser klackte; wann sy forcht, sy müst dorum sterben.«
Die Zeichen hinter der sichtbaren Welt
Dass es sich dabei um Vorzeichen für Gottesstrafen handle, war zur damaligen Zeit keine altmodisch-abergläubische, also vermeintlich mittelalterliche Vorstellung, sondern Ausdruck eines modernen Gedankenguts, das im italienischen Humanismus wurzelte – und somit eine wissenschaftliche Interpretation war. Dieser so genannte Neoplatonismus reaktivierte das griechisch-antike Weltverständnis des Philosophen Platon, wonach es hinter Ereignissen und Zeichen der sichtbaren Welt immer auch eine Ebene des Verborgenen – Okkulten – gebe, dessen Bedeutung es mit Hilfe der Philosophie, Mathematik, Alchemie oder Astrologie zu ergründen gelte. Die starke Fixierung auf Vorzeichen aller Art gipfelte um das Jahr 1500 in einer geradezu apokalyptischen Atmosphäre. Schreyer schreibt in besagtem Brief auch von einem Kometen, der, wie ihm ein gelehrter Mathematiker unter dem Siegel der Verschwiegenheit versichert hätte, in jenem Jahr gesichtet wurde und eine weitere Mahnung Gottes bedeute.
So entdeckte auch Dürer das Thema »Apokalypse« als ideale Aufstockung seines noch dünnen druckgrafischen Bildersortiments. Seine faszinierende Behandlung des Stoffs auf 15 großformatigen Blättern führte zu einem für die Kunstgeschichte epochalen Schritt in der Entwicklung der Druckgrafik. Und dies, obwohl der biblische Text dieser Geschichte vom Untergang der Welt den Zeitgenossen hinter vorgehaltener Hand als wirr-fantastisch galt. Martin Luther wird es wenig später offen aussprechen und urteilen: »Mein Geist will sich in dies Buch nicht schicken.«
Bei aller zeitlichen Nähe der Apokalypse-Edition von 1497 zum Jahrhundertwechsel im Jahr 1500: Nur wenige erwarteten in der Neujahrsnacht der Jahrhundertwende einen Weltuntergang. Das Orakeln war vielmehr eine alltägliche Praxis, die nur selten in Panik mündete. Meist galt sie dem Zeitvertreib und gründete in der Regel auf der Sterndeuterei. Es gab also keine konkrete Angst vor dem Moment der Jahrhundertwende, wie sie etwa Ende 1999 verbreitet war, als viele glaubten, ein Absturz der Computersysteme könne die Welt in eine Katastrophe führen.
Von Dürer bis zu Papst Alexander VI. beschäftigten sich die Zeitgenossen ausgiebig mit Horoskopen. Zufälligerweise ließen sich Maler und Papst sogar von ein und demselben Astrologen beraten: Dürers Freund Lorenz Beheim war vor seiner Rückkehr nach Franken 1503 zwei Jahrzehnte lang oberster Hofbeamter der Borgias in Rom gewesen. Weil Merkur am Tag von Dürers Geburt im Haus der Venus stand, sei er »ein eleganter Maler; und weil umgekehrt Venus sich im Hause des Merkur befand, … ein talentvoller Liebhaber«, so Beheim in Dürers Horoskop.
Gleichwohl gab es Vorbehalte gegenüber abergläubischer Vorzeichendeuterei – gerade wenn es darum ging, in noch so kleinen Ungewöhnlichkeiten stets das Wirken höherer Mächte zu sehen. Conrad Celtis etwa, den Dürer als seinen Mentor ansah, zählte die weit verbreiteten und oft kostspieligen Wahrsagungen zu den üblen Lastern und den Hauptursachen für sozialen Abstieg: »Rotwein und Weiber und Wahrsagerei, Zocken mit Karten und Pferde und Hunde richten den tüchtigsten Manne zu Grunde.«
Die meisten Kunden, die solche aus heutiger Sicht merkwürdig pessimistischen, damals jedoch hochmodernen Darstellungen schätzten, dürfen wir unter der gebildeten Bürgerschaft der stark gewachsenen Städte vermuten. Dürers Erfolg wirft somit ein interessantes Licht auf die psychische Befindlichkeit dieses Bürgertums und dessen Lebensgefühl in einer spätmittelalterlichen Stadt. Aus stadtbürgerlicher Perspektive ging es bergauf. Man lebte in einer Epoche des Wachstums, trotz der schrecklichen Heimsuchung durch die Pest, die seit Mitte des 14. Jahrhunderts etwa alle zehn Jahre durch die Lande zog. Fast jede deutsche Wirtschaftsmetropole – Lübeck, Köln, Augsburg oder Nürnberg – hatte seither ihre Einwohnerzahl verdoppelt. Feste Stadtmauern boten Sicherheit, immer präzisere Gesetze garantierten das Recht des Einzelnen vor Gericht. Handwerker spezialisierten sich, und im Fernhandel ließen sich prächtige Gewinne erwirtschaften, die in Luxusgüter oder Stiftungen fürs Seelenheil investiert wurden.
Dabei lebten viele Familien erst seit ein oder zwei Generationen in solchen Städten, die »arrival cities« waren, wie der kanadische Journalist Doug Saunders das positiv bewertete Phänomen heutiger Megastädte nennt. Nicht zu unterschätzen waren indes die Folgen des starken Zivilisationsdrucks, dem die neuen Städter ausgesetzt waren. Die zahlreichen, seit dem 15. Jahrhundert gepflegten Stadtchroniken berichten mit Vorliebe von schweren Verfehlungen wie Ehebruch, Bigamie, Schändung von Heiligtümern, Vergewaltigung, Raub- und Kindsmord sowie von deren drakonischer Bestrafung: Ertränken, Verbrennen und Vierteilen. Nicht selten ist von unkontrollierten Gewaltausbrüchen unter Nachbarn und Passanten die Rede, in denen es meist um verletzte Ehre ging.
Den gerechten Gott provozieren
Die Grundlage für den zivilisierten Umgang miteinander bildete ein alttestamentarisches Instrument, das die Bibelwissenschaftler »Tun-Ergehen-Zusammenhang« nennen. Der mittelalterliche Christenmensch kannte es als »Werkgerechtigkeit«. Gemeint ist, dass jede Handlung, ob gut oder böse, eine Konsequenz im Diesseits wie im Jenseits hat. Der stets gerechte Gott bestraft demnach die bösen Taten und belohnt die guten Werke. Für Dürer bot dieses Kredo auch Anlass zur Provokation – wenn er etwa mit seinen aktionsreichen Herkules- und Orpheusszenen an sich gute Helden scheitern und dann bestrafen lässt, wie im Fall des begnadeten Sängers Orpheus, der seiner Homosexualität wegen zu Tode geprügelt wird.
In der dynamischen städtischen Gesellschaft zu Zeiten Dürers verwischte der Zusammenhang zwischen »Tun« und »Ergehen«. Sozialer Aufstieg und Reichtum, aber auch Konkurs und Verelendung hingen nicht mehr unmittelbar an »eigener Hände Arbeit« – wie Dürer den rechtschaffenen Erfolg seines eigenen Vaters würdigte. Dieser lebte um 1480 als Goldschmied in der Burgstraße 27, direkt neben Hans Fugger, einem Vetter jenes Jakob Fugger des Reichen aus Augsburg, bei dessen kometenhaftem Aufstieg zum reichsten Banker Europas der »eigenen Hände Arbeit« naturgemäß keinerlei Rolle mehr gespielt hatte. Gerade weil der »Tun-Ergehen-Zusammenhang« im 15. Jahrhundert im Urteil der Zeit mehr und mehr verwässerte, wurde er zu einem der wichtigsten gesellschaftlichen Themen. Daher rührt die Faszination für Strafe und Gerechtigkeit, und zwar weniger im moralisch-politischen Sinn – so wird ihn erst die Reformation begreifen –, sondern als wissenschaftliche Neugier an den Regeln des Schicksals, dessen Phänomene man astrologisch, theologisch und kosmologisch erforschte.
Nicht zufällig sind dies die großen Leitmotive in Dürers frühen Werken: Weshalb scheitert selbst der beste Mensch immer wieder? Wie sind jene überirdischen Mächte beschaffen, die das Schicksal des Menschen steuern? Was hat es mit dem Paradoxon auf sich, wonach das Leben einerseits fremdbestimmt ist, andererseits aber auch eigenverantwortlich zu führen ist? Zu seinem Selbstbildnis von 1493 etwa schreibt er: »My Sach die gat, als es oben schtatt« – »Mein Leben wird verlaufen, wie es oben festgeschrieben ist«, während er mit seinem jugendlich wachen Blick zugleich zu fragen scheint, was dort oben wohl über ihn und seine Zeit festgeschrieben ist. Dürer verspürte augenscheinlich Lust dabei, sich solche himmlischen, verborgenen und zugleich mächtigen Schicksalskräfte vorzustellen. Er war stolz darauf, dass er als bildender Künstler in der privilegierten Lage war, solche Strukturen darstellen zu können – gleich einem Astronomen, dem es vergönnt ist, einen anderen Kosmos studieren und erklären zu dürfen.
Somit diente ihm die »Kunst« als Mittel zur Auseinandersetzung mit den großen Themen seiner Zeit. Er nutzte sie im gleichen Sinn, wie es auch die politischen Künstler des 20. Jahrhunderts taten – und die Medien der Gegenwart noch immer tun. Würde Dürer heute leben, fände er seine Motive wohl im globalen Klimawandel oder in der Corona-Pandemie.
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