150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
Als der untersetzte, weißhaarige Mann am 28. Mai 1937, einem Freitag, gegen 9.15 Uhr auf der Union Street im schottischen Aberdeen plötzlich kollabierte und keine halbe Stunde später im Krankenwagen für tot erklärt wurde, las man in den folgenden Tagen in allen großen Zeitungen der Welt Nachrufe. Denn der Patient, der im Alter von 67 Jahren einem Herzinfarkt erlegen war, war niemand geringeres als Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie und damals auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Nicht zufällig hatte ihn ein Journalist in einem Atemzug mit Albert Einstein genannt: Während der Physiker, das sprichwörtliche Genie, das Universum vermessen habe, sei dem Psychologiegenie Adler etwas noch Wichtigeres gelungen: die Kartierung der menschlichen Seele.
Bis heute hält sich der Glaube, seelische Gesundheit sei in erster Linie eine Art Anpassungsleistung an gesellschaftliche oder kulturelle Konstellationen und Situationen. Wie gut uns das gelingt, gibt den Grad unserer seelischen Normalität an – oder das, was wir darunter verstehen. Adlers Konzept der Individualpsychologie, die er ab 1911 nach seinem Bruch mit Sigmund Freud entwickelte und ausdifferenzierte, unterscheidet sich davon maßgeblich. Der österreichische Arzt und Psychotherapeut hat nicht die existierenden Gegebenheiten im Blick. Stattdessen spricht er von einer Anpassung an das Überleben in der Zukunft. Wie er in seinem Buch »Der Sinn des Lebens« schreibt, ist Anpassung an ein Unrechtssystem weder eine Option noch ist sie gesund.
Adler fragt nicht: Wie kann der Mensch die sein Ich umzingelnden Gefährdungen schultern und kulturelle Bewältigungs- oder Verzichtleistungen erbringen? Und wie kann sich das Individuum voll entfalten und sein wahres Selbst ausbilden? Vielmehr stellt er Fragen wie: Sind die Bedingungen für ein gesundes und sozial gelingendes Leben überhaupt von vornherein gegeben? Was ruft im einzelnen Menschen psychische Störungen und Krankheiten hervor? Und ist diese Frage nicht identisch mit: Wie positioniert sich das Individuum zu den Grundbedingungen sozialer Existenz? Und was sind überhaupt diese Grundbedingungen? Bei Adler geht es um das »Wie des Lebens«: Wie leben? Wie überleben? Wie in Konkurrenz mit den anderen überleben?
In letzter Ausprägung ist seine Psychologie eine »Metapsychologie«. Er will den Menschen in seiner Gesamtheit verstehen: »In der Individualpsychologie (…) betrachten wir die Seele selbst, den Geist an sich; wir prüfen den Sinn, den der Mensch der Welt und sich selbst gibt, seine Ziele, die Richtung seiner Bestrebungen und die Art, wie er an die Lebensfragen herangeht«, wie er 1931 schrieb.
Ganzheit ist in Adlers Individualpsychologie nichts Statisches. Im Gegenteil. Im Vordergrund steht stets aktives, auf ein Ziel ausgerichtetes dynamisches Tun. Die französische Philosophin Maryse Choisy fand dafür ein charmantes Bild: Bei einer Autopanne würde Freud die Kühlerhaube öffnen und anfangen, den Motor zu reparieren, Jung würde mit einem Kanister losmarschieren, um Benzin zu besorgen, Adler dagegen würde sich über eine Karte beugen und das Fahrtziel studieren.
Bei Adler ist das Ich zur Handlung fähig und willig. Es ist Akteur, nicht wie bei Freud von dominanten bis übermächtigen Trieben überwältigt. Seine Psychologie dreht sich nach 1918 zunehmend um Sicherheit und Anerkennung, sozialen Status, Männlichkeit und Selbstbehauptung. Kurz: um das Verhalten in einer Welt und um das Verhalten zur Welt. Es geht um die Angst, zu wenig zu sein. In seiner »Gebrauchspsychologie« geht es darum, welchen Gebrauch jemand von den Möglichkeiten macht, die ihm im Leben geboten werden und gegeben sind.
Die eigene Minderwertigkeit kompensieren
Entscheidend in Adlers System ist das innere Erleben eines Menschen und seine Fähigkeit zur Kompensation, zur Eigengestaltung dessen, was er sein will. Dabei spielt auch das Fiktionsprinzip des deutschen Philosophen Hans Vaihinger (1852–1933) eine Rolle: die Idee, dass Vorstellungen so mächtig und real werden können, als ob sie tatsächlich wahr seien. Die finalistische Perspektive ist bei Adler zentral: Welches Ziel wird angepeilt und wie organisiert sich dementsprechend das Leben im Jetzt? Dem Konzept des Therapeuten zufolge strebt das Individuum nach Macht und Überlegenheit. Adlers Neurosenpsychologie wird damit zur Moralpsychologie. Unmoralisch dabei ist in seinen Augen, Macht über andere zu gewinnen, Machtgier ist für ihn antisozial.
1927 veröffentlicht Adler sein Buch »Menschenkenntnis«, das wie viele seiner Werke auf Vorträgen beruht. Er will seine Theorie nun auf eine anthropologische Basis stellen. Das Ergebnis ist eine soziale Philosophie. Menschenkenntnis bedeutet für Adler die Aufhebung der Isolierung des Einzelnen. Eine der Grundvoraussetzungen hierfür ist die Kenntnis des Seelenlebens des Kindes. Impressionen, Erlebnisse, spezifische Haltungen der frühen Lebensjahre stünden, davon ist Adler überzeugt, in Wechselwirkung mit der späteren Entwicklung. Sämtliche Einzelphänomene des seelischen Lebens formieren sich zu einem untrennbaren Ganzen, einer Bewegungslinie, einer »Lebensschablone« mit einem Ziel, das im Lauf des Lebens kaum mehr geändert werde.
In »Menschenkenntnis« setzt Alfred Adler neue Akzente. Nun betont er das Unbewusste als stärksten Faktor im seelischen Leben, ein bis dato von ihm wenig geschätzter Terminus. Die biologisch-physiologische Argumentation, die vorher eine wichtige Rolle bei seinen Überlegungen gespielt hat, gibt es nur noch in Umrissen. Das neurotische Machtstreben, verstanden als Unterwerfung der anderen, wird stattdessen zum Gegenprinzip des Gemeinschaftsgefühls. Zwei Jahre später wird Adler verstärkt auf Bezeichnungen wie »Streben nach Überwindung« und »Streben nach Vollkommenheit« zurückgreifen.
Bei einer Autopanne würde Freud die Kühlerhaube öffnen und anfangen, den Motor zu reparieren, Jung würde mit einem Kanister losmarschieren, um Benzin zu besorgen, Adler dagegen würde sich über eine Karte beugen und das Fahrtziel studieren
Für Adler ist Sinn des Lebens ein wahrer, objektiver, überindividueller Lebenssinn, der für die gesamte Menschheit gilt, wie er 1933 in seinem Werk »Der Sinn des Lebens« darlegt. Das Minderwertigkeitsgefühl betrachtet er inzwischen als eine anthropologische Grundtatsache, »ein unablässig wirkender Stachel« der Entwicklung. Entwicklung und Anpassung meinen dabei das Hinarbeiten auf einen paradiesischen Zustand der Zukunft. Nur wer sich vervollkommnet, wird, so Adler, der Gemeinschaft nützlich sein.
In späten Aufsätzen betont er eine evolutionär-kosmische Perspektive. Psychische Schieflagen seien Fehler des Lebensstils. Durch ein Aufgehen in der Gemeinschaft lasse sich dies ausbalancieren. Regeneration sei jedem allezeit möglich. Der Einzelne sei fähig, aktiv zu werden, aktiv aus seelischen Dilemmata zu lernen, Einsicht zu gewinnen. Das gelte auch für größere Gruppen, die ein falsches Leben führen.
Adlers Überlegungen besitzen bis heute Relevanz. Lob oder Hilflosigkeit, körperlicher Schmerz oder Mobbing können tief sitzende Erinnerungsketten triggern, die das bilden, was Adler theoretisch beschrieb. Die Untrennbarkeit von Körper und Psyche findet sich in der modernen Psychosomatik wieder. Und auch sein Konzept der Ganzheit konnte die Neurobiologie mittlerweile stützen und mittels Hirnscans nachweisen, dass Umweltfaktoren und soziale Beziehungen Entwicklung und Plastizität des Gehirns maßgeblich beeinflussen. Genetisch fundierte Sozialität und Antisozialität, die Grundmuster der Individualpsychologie, wurden so physiologisch gestützt.
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