Psychotherapie: Sind Algorithmen die besseren Therapiemanager?
Psychotherapeutische Verfahren haben sich bei vielen psychischen Störungen als wirksam erwiesen. Doch längst nicht alle Patienten profitieren davon gleichermaßen. Therapieabbrüche und Misserfolge lassen sich teils mit individuellen Merkmalen der Patienten erklären, etwa der Therapiemotivation. Teils auch damit, dass die gewählten Verfahren nicht optimal zu den betreffenden Patienten passen.
Hier wollen Vertreter einer »personalisierten Psychotherapie« Abhilfe schaffen. »Natürlich reagiert jeder Psychotherapeut auf jeden Patienten und dessen Anliegen hochgradig individuell«, sagt Jürgen Hoyer, Psychotherapieforscher an der TU Dresden. In diesem Sinn sei jede Psychotherapie in starkem Maß personalisiert.
Bei dem Ansatz der personalisierten Psychotherapie gehe es aber darum, diesen Prozess mit Hilfe statistischer Methoden zu professionalisieren. »Und das ist auch nötig, um als Therapeut nicht einfach nur intuitiv vorzugehen.« Auch Therapeuten seien nicht davor gefeit, Informationen zu übersehen, auszublenden oder zu vergessen. Ist ein Therapeut etwa gerade sehr euphorisch über den Verlauf der letzten Sitzung, könnte er womöglich erste Anzeichen eines bevorstehenden Therapieabbruchs ausblenden. »Das kann einer Maschine nicht passieren.«
Software berechnet Abbruchrisiko
In Deutschland arbeitet vor allem der Psychotherapieforscher Wolfgang Lutz an seiner Psychotherapieambulanz in Trier an einer personalisierten Psychotherapie. Zusammen mit Kollegen hat er eine Software ausgetüftelt, den Trier Therapie Navigator. Mit dessen Hilfe will er in einem ersten Schritt die Abbruchgefahr anhand von Vorhersagevariablen prognostizieren. Die Variablen haben die Wissenschaftler auf der Basis von Archivdaten von rund 1200 Patienten in der Trierer Psychotherapieambulanz ermittelt.
Das Risiko eines Therapieabbruchs sei unter bestimmten Umständen höher als im Durchschnitt, so Lutz: »Wenn ein Patient etwa stärker belastet ist; wenn er größere zwischenmenschliche Probleme hat; wenn seine Hoffnung auf einen erfolgreichen Ausgang geringer ist oder eine Persönlichkeitsproblematik vorliegt. Wir geben dem Therapeuten dann eine Wahrscheinlichkeitsabschätzung unserer Software.« Ist das Risiko eines Abbruchs erhöht, ist es besonders wichtig, die Therapiemotivation und die Bereitschaft zur Mitarbeit zu fördern.
»Dem Computer ist es egal, wie komplex die Rechnung für eine treffende Vorhersage ist«
Jürgen Hoyer
»Die Güte der Vorhersage eines möglichen Therapieabbruchs ist noch verbesserbar«, sagt Jürgen Hoyer. Bislang schwankt der Vorhersageerfolg von Studie zu Studie sehr stark. Wolfgang Lutz konnte mit Hilfe seines Trier Therapie Navigators Therapieabbrüche von Patienten mit verschiedenen psychischen Störungen mit einer Trefferquote von fast 73 Prozent vorhersagen. Hoyer selbst und seinen Kollegen gelang das allerdings nicht, als sie bei Patienten mit sozialer Phobie Merkmale wie die Höhe des Selbstwertgefühls zur Prognose hinzuzogen. »Die Vorhersage wird erst besser, wenn man den therapeutischen Prozess, insbesondere die Reaktion auf die ersten Sitzungen, einbezieht«, so Hoyer.
Trotzdem hätten Maschinen ihre Vorzüge gegenüber dem Menschen. Der Therapeut stütze seine Prognose auf sein Wissen und seine Erfahrung – intuitiv, näherungsweise und mit vereinfachenden Heuristiken. Zum Beispiel könne er sich an die einfache Regel halten, dass ein Patient mit hoher Bildung über eine hohe Selbstkontrolle verfügt und die Therapie eher nicht abbricht. Doch so einfach ist es natürlich nicht. »Dem Computer hingegen ist es egal, wie komplex die Rechnung für eine treffende Vorhersage ist.«
Wolfgang Lutz und seine Kollegen in Trier begnügen sich aber nicht damit, nur den Behandlungsverlauf zu Beginn vorherzusagen. Sie geben Therapeuten zu Therapiebeginn auch Behandlungsempfehlungen: etwa, ob im individuellen Fall eher eine kognitive Verhaltenstherapie oder ein anderes Verfahren passt. Zudem prognostizieren sie, welche verhaltenstherapeutischen Strategien für den betreffenden Patienten am meisten Erfolg versprechen. Gilt es, konkrete Probleme möglichst schnell aktiv anzugehen? Oder erst einmal die therapeutische Beziehung und Motivation aufzubauen, weil mit Widerständen zu rechnen ist?
Algorithmen schlagen Therapieform vor
»Diese Vorhersagen treffen wir mit Hilfe von Algorithmen«, sagt Lutz. »Sie suchen zu jedem neuen Patienten nach bestimmten Kriterien wie der Diagnose oder der vorhergehenden Therapie die ähnlichsten Patienten aus unserer Datenbank heraus und berechnen das beste Vorgehen.« Wichtig sei dabei, dass der Therapeut diese statistischen Empfehlungen immer mit seinem klinischen Eindruck abgleicht. »Und auf dieser Grundlage soll er eine Behandlungsentscheidung für den individuellen Patienten treffen.«
In einer Studie von 2018 errechnete ein Team um Lutz mit einem speziellen Algorithmus einen »individuellen Vorteilsindex«. Schon 2014 war es mit diesem Index gelungen vorherzusagen, ob Patienten mit Depressionen stärker von einem Antidepressivum oder einer kognitiven Verhaltenstherapie profitieren würden. Lutz und seine Kollegen nutzten den Algorithmus nun, um für Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung das passende psychotherapeutische Verfahren zu bestimmen: eine traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie oder die EMDR-Therapie (kurz für eye movement desensitization and reprocessing), ein Verfahren, bei dem die Patienten den Fingerbewegungen des Therapeuten mit ihren Augen folgen, während sie das traumatische Geschehen in Gedanken noch einmal wachrufen. Bei nicht berufstätigen Patienten beispielsweise schlug die kognitive Verhaltenstherapie weniger gut an als bei berufstätigen: »Kognitive Verhaltenstherapie wirkt in der Regel etwas besser für Leute, die etwas mehr Struktur im Leben haben«, erklärt Wolfgang Lutz.
»Algorithmen können bessere Entscheidungen treffen, als wenn der Therapeut nach seinen persönlichen Einschätzungen und Werthaltungen entscheidet, welche Therapie ein Patient erhalten soll«
Jürgen Hoyer
Obwohl beide Behandlungsformen im Schnitt sehr effektiv waren, zeigten sich bei der Hälfte der Patienten markante Unterschiede. Bekamen sie die für sie optimale Behandlung, litten sie danach nur noch unter einer leichten depressiven Symptomatik. Durchliefen sie die in ihrem individuellen Fall weniger optimale Therapie, berichteten sie noch über moderat ausgeprägte depressive Symptome. Ähnliches stellte ein Team um den Psychologen Marcus Huibers von der Freien Universität Amsterdam fest: Depressionen besserten sich stärker unter der per Index ausgewählten Behandlung, in diesem Fall einer kognitiven Verhaltenstherapie oder einer interpersonellen Therapie.
In den Index flossen rund ein Dutzend Variablen ein: von körperlichen Beschwerden und Persönlichkeitsstörungen über das Geschlecht bis hin zu kritischen Lebensereignissen im vorangehenden Lebensjahr. »Ein Problem ist zwar, dass manche Vorhersagemodelle so komplex sind, dass man gar nicht mehr weiß, wie die Entscheidung zu Stande kommt«, sagt Jürgen Hoyer. »Gleichwohl können Algorithmen bessere Entscheidungen treffen, als wenn der Therapeut nach seinen persönlichen Einschätzungen und Werthaltungen entscheidet, welche Therapie ein Patient erhalten soll.«
Geht in der Psychiatrieambulanz in Trier eine Psychotherapie erst einmal ihren Gang, nimmt Wolfgang Lutz mit seinem Therapienavigator auch den Verlauf unter die Lupe. Zu diesem Zweck füllen die Patienten in der Ambulanz vor jeder Sitzung an einem Touchscreen-System im Behandlungsraum einen Fragebogen aus. Dabei geben sie unter anderem ihre Belastungen und zwischenmenschlichen Probleme an.
Ungünstige Therapieverläufe erkennt Wolfgang Lutz daran, dass die Therapieziele aus dem Blick geraten: »Wenn der Therapeut nicht mehr gezielt an den Problemen arbeitet, sondern die Therapie mehr zu einem normalen Gespräch geworden ist.« Entwickelt sich die Therapie nicht gut, erhält der Therapeut über den Navigator ein Warnsignal und Hinweise, wie er die Therapie wieder stärker fokussieren kann. Sinkt die Motivation des Patienten, bekommt er passende Maßnahmen vorgeschlagen.
Wie hilfreich so ein Feedback ist, demonstrierte ein Team um den Psychologen Jaime Delgadillo von der University of Sheffield bei mehr als 2200 Patienten mit Depressionen beziehungsweise Angststörungen. Die Patienten beurteilten jede Woche vor der Therapiesitzung elektronisch in einem Fragebogen die Schwere ihrer Symptome. Für Untergruppen mit dem gleichen Schweregrad berechneten Delgadillo und seine Kollegen den zu erwartenden Therapieverlauf.
Software warnt vor negativem Behandlungsverlauf
Bahnte sich ein ungünstiger Verlauf an, bekamen die Therapeuten in der Feedback-Gruppe ein Warnsignal über ein elektronisches Informationssystem, und die betreffenden Patienten profitierten davon. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Metaanalyse des Therapieforschers Michael Lambert von der Brigham Young University.
»Therapie mit ständiger Verlaufskontrolle mag aufwändig klingen«, sagt Wolfgang Lutz. »Aber in England ist ein solches Rückmeldesystem bereits Standard.« Dort werden im Rahmen des Programms »Improving Access to Psychological Therapies« die Fortschritte der Patienten dokumentiert und an die Therapeuten zurückgemeldet. In Deutschland sei das bislang nur an einzelnen Standorten wie der Trierer Ambulanz üblich.
Jürgen Hoyer kann sich vorstellen, dass ein solches Expertensystem in Zukunft von Therapeuten genutzt wird. Die Akzeptanz hänge natürlich davon ab, ob die Therapeuten und ihre Patienten gute Erfahrungen damit machen. Man müsse dafür sorgen, dass der Ansatz nicht zu technokratisch erscheine. »Der ein oder andere Patient könnte enttäuscht sein, wenn es im Therapiegespräch mehr um nackte Zahlen als um seine innersten Probleme geht.«
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