Junge Singles: Spätstart ins Liebesleben
Ich bin 22 und war noch nie in einer Beziehung. Wenn ich das erzähle, reagieren die Menschen häufig erstaunt. Viele wollen wissen, woran es liegt. Regelmäßig höre ich auch die Frage, ob ich inzwischen jemanden gefunden habe. Peinlich berührt muss ich dann wieder zugeben, dass es da niemanden gibt oder dass ich zwar an jemandem interessiert bin, aber das Interesse einseitig ist. Ich sehe den anderen dabei zu, wie sie tindern, auf Dates gehen und Beziehungen führen – während ich den Anschluss zu verlieren scheine. Ich spüre den Druck, mitzuhalten und endlich einen Partner zu finden. Langsam frage ich mich, ob mit mir etwas nicht stimmt.
»Wenn man noch keine romantische Beziehung hat oder hatte, muss das kein Problem sein«, beruhigt Paul Enzlin, Professor für Sexologie an der Katholischen Universität Löwen in Belgien. »Vor allem, wenn es einem nichts ausmacht, Single zu sein.« Es sei die Außenwelt, die Singles manchmal das Leben schwer mache: »Man bekommt das Gefühl vermittelt, dass mit einem etwas nicht in Ordnung ist, dass man den Erwartungen nicht gerecht wird«, erklärt der Sexualwissenschaftler. Fachleute sprechen von »Minderheitenstress«.
»Single zu sein wird als ein Zustand angesehen, den es so schnell wie möglich zu überwinden gilt«Marieke Dewitte, Psychologin
»Es herrscht die Vorstellung vor, dass eine Beziehung ein Muss ist«, stimmt Marieke Dewitte zu, Professorin für klinische Psychologie an der Universität Maastricht. »Single zu sein wird als ein vorübergehender Zustand angesehen, den es so schnell wie möglich zu überwinden gilt.« Das Idealbild der romantischen Beziehung ist so tief in unserem Denken verankert, dass viele Singles sich schämen. Ohne Partnerschaft kein erfülltes Leben, so die Idee. Das lasse das Singledasein wie ein persönliches Versagen erscheinen.
»Haben Sie schon einmal eine Serie oder einen Film über einen glücklichen Single gesehen?«, fragt mich Enzlin während unseres Gesprächs. Ich überlege einen Moment, finde jedoch kein einziges Beispiel. In so gut wie jeder Serie und jedem Film kommen Liebesbeziehungen vor, vielleicht nicht als Haupthandlung, aber zumindest in einem Nebenstrang. »Wir leben in einer Welt, in der meist glückliche Paare gezeigt werden«, sagt Enzlin. »Als Single findet man sich in den Medien nicht repräsentiert. Das macht es besonders schwierig, selbst wenn man sich mit seinem Single-Status ziemlich wohl fühlt.«
In der Tat fühle ich mich als Single ziemlich wohl, trotz des gesellschaftlichen Drucks. Ich konzentriere mich auf mich selbst und habe mich zu dem Menschen entwickelt, der ich sein wollte. Ich bin karriereorientiert, habe viele Hobbys und ein erfülltes Sozialleben.
Die ersten Schritte ins Liebesleben
Immer mehr junge Menschen haben ihr »erstes Mal« oder ihre erste Beziehung später im Leben. Das geht aus einer Studie von Rutgers hervor, einem niederländischen Kompetenzzentrum für Sexualität. Für meine Heimat Belgien gilt das auch, wie Untersuchungen von Sensoa zeigen, dem flämischen Fachzentrum für sexuelle Gesundheit. Während demnach im Jahr 2006 mehr als acht von zehn 18-Jährigen schon mindestens einmal Sex hatten, waren es 2022 nur noch sechs von zehn. In Deutschland wartet rund jeder dritte Jugendliche bis zur Volljährigkeit, ergab eine repräsentative Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2019. Der Anteil an deutschen Jugendlichen, die beim ersten Geschlechtsverkehr 16 oder jünger sind, ist seit 2009 rückläufig.
Ein ähnlicher Trend zeichnet sich in den USA ab. Dort ist die Zahl der jungen Menschen, die keinen Sex haben, laut einer in den »Archives of Sexual Behavior« veröffentlichten Studie von 30 Prozent im Jahr 2009 auf 44 Prozent im Jahr 2018 gestiegen. Bei den Frauen beobachteten die Forschenden einen Anstieg von 50 auf 74 Prozent. Neuere Untersuchungen aus den USA ergaben außerdem, dass 35 Prozent der unverheirateten alleinstehenden Erwachsenen nach eigenen Angaben noch nie eine feste Partnerschaft hatten. Im Durchschnitt sind diese Singles zwar jung. Aber auch jeder fünfte unter den 40-jährigen Singles war Selbstauskünften zufolge noch nie in einer Beziehung.
Wird es umso schwieriger, mit Sexualität und Beziehungen zu experimentieren, je länger man wartet? »Der Schritt wird größer«, bestätigt Dewitte. »Doch nur weil man als Teenager nicht experimentiert hat, heißt das nicht, dass man für den Rest seines Lebens Probleme hat.« Es stimme allerdings, dass die sexuelle Entwicklung in der Regel an Fahrt aufnehme, wenn die Pubertät einsetzt. »Später ist man eher zurückhaltend, weil dann der präfrontale Kortex und damit die innere Bremse voll entwickelt ist.« Beim Experimentieren in der Pubertät durchlaufen die Jugendlichen viele Schritte, bevor sie zur Penetration übergehen, berichtet Dewitte. Sie küssen sich zuerst, dann streicheln sie sich ein bisschen über und unter der Kleidung, erst danach folgt der Sex. Im Erwachsenenalter werden die Zwischenschritte oft übersprungen.
»Zuzugeben, während der Pubertät nie experimentiert zu haben, ist nach wie vor schwierig. Aber die Pubertät ist nicht die einzige oder entscheidende Phase«, sagt Enzlin. »Das Studium zum Beispiel ist ebenfalls eine Zeit, in der viel experimentiert wird.«
Genau in dieser Phase konnte bei mir pandemiebedingt keine Rede sein von sozialen Kontakten, geschweige denn von sexuellen Experimenten. »Die Coronakrise hat jungen Menschen viele Möglichkeiten genommen«, erklärt Enzlin. Das mache es schwieriger, bestimmte Meilensteine zu erreichen. Der Schritt zum ersten Sex mit einem neuen Partner könne größer sein. »Das Gleiche gilt allerdings für Menschen, die 20 Jahre lang mit demselben Partner geschlafen haben und dann einen neuen kennen lernen. Sex ist nie gleich. Es ist ein individueller Lernprozess.«
Die Qual der Wahl
Abgesehen von Lockdowns und anderen Coronamaßnahmen gibt es weitere mögliche Erklärungen dafür, warum sich heute weniger junge Leute auf Sex oder eine Beziehung einlassen als früher. Einige wollen keine Beziehung, haben vielleicht ganz andere Ziele und Prioritäten. Manche verlieben sich womöglich schnell ineinander, aber dann wird doch keine Beziehung daraus.
»Es gibt zum Beispiel Singles, die sich nicht entscheiden können, weil es heutzutage so viele Möglichkeiten gibt«, erklärt Marieke Dewitte. Früher war man weniger mobil und lernte jemanden im eigenen Dorf kennen. Heute kann man dank Dating-Apps Menschen auf der ganzen Welt kennen lernen. »Das hat zur Folge, dass die Leute immer weiter swipen, anstatt sich zu verabreden. Sie denken, dass sie immer noch jemand Besseres finden können.« Sich nicht zu entscheiden, sei jedoch eine verpasste Chance. »So etwas wie den perfekten Partner gibt es nicht. Wenn man sich mit verschiedenen Menschen trifft, findet man heraus, welcher am besten zu einem passt.«
44 Prozent der jungen Erwachsenen würden lieber eine Toilette putzen, als noch mal auf ein Tinder-Date zu gehen
Ich habe ebenfalls Probleme, mich zu entscheiden. Tinder scheint süchtig zu machen; ich swipe und swipe und swipe. Der Schritt zur Verabredung fühlt sich riesig an. Und ich bin nicht die Einzige, die kein großer Fan von Dating-Apps ist. Eine US-Umfrage zeigt, dass 44 Prozent der Generation Z, also meiner Generation, lieber eine Toilette putzen würden, als ein weiteres Mal auf ein Tinder-Date zu gehen.
Oder leiden sie vielleicht unter Bindungsängsten? Auch ich wurde schon gefragt, ob das eventuell der Grund dafür sei, dass ich noch nie eine Beziehung hatte. Ich schätze es durchaus, autonom zu sein und Zeit für mich zu haben. Ich finde es jedoch auch sehr spannend, tiefe Freundschaften zu verschiedenen Menschen zu entwickeln. Ist das schon Bindungsangst?
»Man muss nicht unbedingt eine Liebesbeziehung eingehen, um tiefe Beziehungen oder Sexualität zu erleben«, sagt Dewitte. Heutzutage leben immer mehr Menschen einvernehmlich nicht monogam, haben offene Beziehungen. »Deshalb bin ich der Meinung, dass das Singledasein als eine Beziehungsform angesehen werden sollte, für die man sich bewusst entscheiden kann.«
Bedürfnis nach Bindung und Nähe
Trotzdem frage ich mich immer wieder, ob ich nicht wichtige Erfahrungen verpasse. Schließlich kann man in einer Beziehung enorm viel lernen. »Eine Beziehung fordert einen auf jeden Fall heraus«, stimmt Paul Enzlin zu. »Man lernt von der anderen Person und dem, was sie bereits erlebt hat. Man lernt aber auch von den Kollegen oder von Freunden.« Es gibt zahlreiche andere Kontexte, in denen man sich weiterentwickeln kann.
Die Stigmatisierung des Singledaseins hat laut Dewitte viel mit unserem Bedürfnis nach Bindung zu tun. »Viele Menschen suchen ihr ganzes Leben lang nach jemandem, der sie liebt. Der Wunsch, begehrt zu werden, das Gefühl, für jemanden einzigartig zu sein, sich gegenseitig auserwählt zu haben: Das alles ist wichtig für unser Selbstwertgefühl.« Letztlich gehe es darum, das Bedürfnis nach Bindung zu befriedigen. Auch die Identität werde zu einem großen Teil von anderen Personen geprägt. »Aber es muss nicht unbedingt ein Liebespartner sein.«
»Wenn man nie berührt wird, fühlt es sich an, als würde man nicht wirklich existieren«Paul Enzlin, Sexologe
Dieses Bedürfnis nach Bindung verspüre ich ebenfalls. Ich fühle mich manchmal einsam und sehne mich danach, dass mich jemand von Zeit zu Zeit in den Arm nimmt. »Wenn man allein zu Hause ist, kann sich eine gewisse Schwere breitmachen – selbst wenn man ein reges Sozialleben hat«, sagt Enzlin.
Dennoch lege ich viel Wert auf Autonomie. Womöglich sogar ein bisschen zu sehr. Ich habe meine Gewohnheiten, mache, was ich will, und muss auf niemanden Rücksicht nehmen. Wird es mir dadurch schwerer fallen, mich auf einen Partner einzustellen?
»Wenn man lange Zeit alleinstehend war, hat man sich sein eigenes Leben aufgebaut, was es manchmal schwieriger macht, eine Beziehung einzugehen. Man hat einen bestimmten Lebensstil, bestimmte Gewohnheiten und ist vielleicht etwas weniger flexibel«, antwortet Dewitte. Sie plädiert für ein gesundes Gleichgewicht zwischen Autonomie und Bindung. »Sich in Autonomie und ›Ich-Zeit‹ zu verlieren, ist eine verpasste Gelegenheit.« Aber man sollte sich auch nicht ständig auf den Partner konzentrieren und das eigene Leben vernachlässigen.
»Singlismus«: Diskriminierung von Singles
Ohne Partnerin oder Partner zu leben, hat einige Nachteile. »Die Gesellschaft ist nicht auf die wachsende Zahl von Singles eingestellt«, sagt Dewitte. Für Alleinlebende ist die Miete teurer. Ebenso ein Einzelzimmer im Hotel: Man zahlt praktisch genauso viel wie für ein Doppelzimmer. Auch die Verpackungsgrößen in Supermärkten sind eher auf Paare oder Familien ausgerichtet. »Wir müssen als Gesellschaft anfangen, über diese Dinge nachzudenken, damit wir die Menschen nicht in Beziehungen drängen, nur weil das finanziell günstiger ist.« Singles werden diskriminiert – Enzlin spricht sogar von »Singlismus«, analog zu Rassismus und Altersdiskriminierung.
US-Forschung zeigt, dass finanzielle Probleme und die fehlende Teilhabe an Gruppen – etwa Kontakte zu anderen Paaren – bei Singles Stress verursachen können. Einsamkeit ist demnach ebenfalls eine Folge des Singledaseins. Laut Enzlin kann ein Haustier guttun. Die Wärme eines anderen Wesens zu spüren, auch wenn es kein Mensch ist, hilft gegen Einsamkeit. »Nähe und Wärme vermitteln ein angenehmes Gefühl. Berührung ist wichtig, um sich selbst zu spüren. Wenn man nie berührt wird, fühlt es sich an, als würde man nicht wirklich existieren«, sagt der Sexualwissenschaftler.
Sich manchmal einsam zu fühlen, sich nach Hautkontakt zu sehnen und sich als Außenseiter zu fühlen: Das sind auch meiner Meinung nach die Nachteile des Singledaseins. Es gibt aber ebenso Vorteile: sich selbst entfalten und entwickeln zu können und zu entdecken, was man gerne tut und wer man wirklich ist. Dennoch wird mich die Frage, ob mit mir etwas nicht stimmt und ob ich etwas verpasst habe, wahrscheinlich für immer verfolgen. »Es gibt nicht den perfekten Weg«, sagt Enzlin. »Der eine lernt vielleicht sehr früh jemanden kennen, der andere sehr spät. Doch womöglich ist es für beide weder zu früh noch zu spät, sondern genau der richtige Zeitpunkt.«
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