Alpen: Gigantischer Bergrutsch bedroht Schweizer Dorf
Die wichtigsten Sachen zusammenpacken und weg: Die Bevölkerung des Schweizer Alpendorfs Brienz in Graubünden musste am Dienstagvormittag (8. Mai) ihre Häuser verlassen. Etwa zwei Millionen Kubikmeter Gestein, genug, um einen Würfel mit 125 Metern Kantenlänge zu füllen, sind ins Rutschen gekommen und kurz davor, den Hang hinabzustürzen. Um bis zu 32 Meter pro Jahr bewegte sich zuletzt das instabile Gestein an der Südflanke des 2767 Meter hohen Bergs Piz Linard auf das rund 100 Einwohner zählende Dorf zu. Die Behörden der Gemeinde Albula, in der das Dorf liegt, rechnen damit, dass etwa in den nächsten drei Wochen Teile der Felsmassen ins Tal stürzen. Unklar ist noch, welches Ausmaß der Bergrutsch annehmen wird. Am wahrscheinlichsten sei eine Serie von Felsstürzen, es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass der Großteil des instabilen Hangs als einzelner, gigantischer Bergrutsch abbricht.
Der instabile Hang des Piz Linard ist Teil einer noch viel größeren Erdrutsch-Struktur, auf der auch das Dorf selbst steht und die bis ins darunter liegende Tal des Flusses Albula reicht. Ein ungefähr drei Quadratkilometer großes Gebiet gleitet dort unter seinem eigenen Gewicht langsam talwärts. Dieser Prozess begann mutmaßlich am Ende der letzten Eiszeit, als die Gletscher in den Alpen abschmolzen. Seither bewegte sich das bis zu 150 Meter dicke Gesteinspaket samt Dorf mit Geschwindigkeiten von wenigen Zentimetern pro Jahr bergab. Seit etwa 20 Jahren hat sich diese Bewegung allerdings beschleunigt; 2011 betrug sie rund 20 Zentimeter pro Jahr, im Jahr 2020 maßen Fachleute eine Geschwindigkeit von 1,20 Meter pro Jahr. Die Senkung verursacht seither immer wieder Schäden an Gebäuden und Infrastruktur.
Seit etwa 2018 sackt auch das Gestein oberhalb des Dorfs drastisch schneller ab; um etwa vier Meter pro Jahr, wie Fachleute 2021 in einer Veröffentlichung berichteten. Durch die Bewegung beginnt das Gestein zu zerbrechen, immer wieder stürzen große Felsbrocken den Hang hinab. Als am instabilsten gilt ein als »Insel« bezeichneter Bereich – jener Teil, an dem auch die schnellsten Bewegungen gemessen wurden. Wie viel Gestein tatsächlich zu Tal stürzt und welche Zerstörungen das anrichten wird, ist unsicher, denn besonders so große Rutschungen sind schwer vorherzusagen. Der Hang kann bekanntermaßen enorme Erdrutsche verursachen. Im Jahr 1877 lösten sich beim so genannten Igl-Rutsch insgesamt 13 Millionen Kubikmeter Gestein und glitten als enormer Schuttstrom auf jene Hangterrasse, auf der Brienz steht.
Das geschah jedoch relativ langsam: Der Bergrutsch dauerte mehrere Wochen, Menschen kamen nicht zu Schaden. Das Szenario könnte sich nach Angaben der Behörden wiederholen und der instabile Hang als länger andauernder Schuttstrom ins Tal rutschen. Der könne auch das Dorf erreichen und Schäden verursachen, heißt es in der Mitteilung der Gemeinde. Am wahrscheinlichsten allerdings sei, dass in den nächsten Wochen eine ganze Serie von größeren Bergstürzen von den instabilsten Regionen der »Insel« abgehen. Ein gewaltiger Erdrutsch, bei dem ein Großteil der Felsmasse in einer schnellen, vernichtenden Gesteinslawine zu Tal donnert, sei dagegen sehr unwahrscheinlich, doch ausschließen könne man es nicht.
Bis Freitag, den 12. Mai 2023, müssen die Einwohnerinnen und Einwohner Brienz verlassen haben und dürfen danach den Ort tagsüber noch betreten. Derweil beobachten Fachleute den instabilen Hang sorgfältig – erst wenn der Erdrutsch kurz bevorsteht, wird das Dorf vollständig evakuiert. Eine wichtige Rolle für den Ablauf des Erdrutsches könnte das Wetter spielen. Bei seismischen Untersuchungen stellte ein Team um Mauro Häusler von der ETH Zürich 2021 fest, dass Felsstürze und schnellere Rutschungen in dem Gebiet eng mit Niederschlägen zusammenhängen. Das ist nicht überraschend: Wasser, das in den Boden eindringt, erhöht dort den Druck in Poren und Klüften, so dass das Material quasi auseinandergestemmt wird, die Reibung sinkt und der Boden instabiler wird. In Graubünden soll es mindestens bis zum Wochenende regnen.
Korrektur: im Artikel war die Höhe des Piz Linard ursprünglich mit 3410 Metern angegeben. Tatsächlich ist das die Höhe des gleichnamigen Gipfels im Engadin; der Piz Linard bei Brienz ist 2767 Meter hoch. Wir bitten die Verwechslung zu entschuldigen.
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