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Klimawandel: Der tosende Rückzug der Alpengletscher

Die Gletscher der Alpen schrumpfen mit jedem Jahr weiter, manche verschwinden gar für immer. Wie Beobachtungen zeigen, höhlen Schmelzwasserkanäle und warme Luft die Eismassen von innen aus und beschleunigen ihren Zusammenbruch.
Einer der großen Gletscherkessel, die sich in den letzten Jahren im unteren Bereich des Lares-Gletschers in der Adamello-Presanella-Gruppe gebildet haben.
Der Anfang vom Ende: Ein Gletscherkessel hat sich über einem Hohlraum unter dem Eis gebildet. Wenn er einstürzt, beschleunigt sich der Rückgang des Eises dramatisch.

Die Reise zum Fuß eines Gletschers beginnt meist auf einem Trampelpfad im dunklen Grün eines Waldes. Während man den Pfad hinaufsteigt, lichtet sich langsam das Dickicht und macht Platz für Weiden und Graslandschaften. Noch weiter den Hang hinauf, gelangt man ins Reich der Geröllfelder und alten Moränen. In dieser Welt aus Stein sind nur mit Mühe spärliche Zeichen von Leben zu erkennen. Jetzt noch eine letzte Anstrengung, dann erreicht man das untere Ende des Gletschers. Wer solche Eisriesen regelmäßig untersucht, merkt während der beschwerlichen Märsche sicherlich, dass der Weg zum Studienobjekt mit jedem Jahr ein wenig länger dauert.

Der beste Zeitpunkt, einen Gletscher zu erforschen und zu vermessen, liegt zwischen dem Ende des Sommers und dem Beginn des Herbstes. Während dieser kurzen Zeit sind die Schäden, die die warme Jahreszeit am Gletscher hinterlassen hat, in ihrer Gänze sichtbar, bevor die herbstlichen Schneefälle sie überdecken und vor neugierigen Blicken verbergen. Dann ziehen die Glaziologen ihre Stiefel an und steigen mit ihren Instrumenten beladen den Berg hinauf, um die verbliebenen Eiszungen zu vermessen und deren Zustand einzuschätzen.

Früher waren die einzigen dazu verfügbaren Hilfsmittel Maßband und Absteckstab. Beides gibt es zwar noch heute, sie werden allerdings mit einer Vielzahl deutlich modernerer Instrumente kombiniert, darunter Radargeräte, Drohnen und Satellitenbilder. Mit den Maßbändern lässt sich nach wie vor der Abstand zwischen festen Referenzpunkten und der Gletscherfront bestimmen. Indem man jedes Jahr die gleichen Messungen durchführt, zeigt sich, wie weit sich die Eismassen zurückgezogen haben – oder vorgerückt sind, auch wenn das nur noch selten vorkommt. Absteckstäbe sind Stangen, die durch eigens dazu angefertigte Löcher ins Eis getrieben werden. Indem man vergleicht, wie hoch der Stab zu verschiedenen Zeiten des Jahres aus dem Eis ragt, erfasst man, wie viel der Gletscher an Dicke verloren hat.

Kombiniert man beide Werkzeuge geschickt, lässt sich anhand der ermittelten Werte für Länge und Dicke ableiten, wie sich das Volumen verändert hat. Diese Größe ist sehr schwer abzuschätzen, sie ist aber gleichzeitig der wichtigste Wert, um den Zustand des Gletschers zu beurteilen. Heute ergänzen und verbessern Fachleute solche Schätzungen durch 3-D-Modelle, die anhand von Drohnen und Radarmessungen erstellt werden, und werten regelmäßig aktualisierte Satellitenbilder aus, um die Grenzen des Eises abzuschätzen.

Die Wiege der Glaziologie

Die Alpengletscher bedecken eine Fläche von zirka 2000 Quadratkilometern. Das ist verglichen mit anderen geografischen Lagen zwar wenig, trotzdem hat die Region eine besondere Verbindung zur Glaziologie – denn hier wurde die Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründet. Dank dieser historischen Bedeutung gehören die Alpengletscher zu denjenigen, die Forscherinnen und Forscher am besten kennen und zu denen die meisten Daten vorliegen. Die größte vereiste Oberfläche liegt dabei in der Schweiz, gefolgt von Italien, Österreich und Frankreich. Kleine, randständige Gletscher liegen außerdem in Slowenien und Deutschland.

Ein System von Gletscherspalten

Im Lauf der letzten 200 Jahre sind tausende Amateure, Spezialisten und Freiwillige zu den Alpengletschern hinaufgestiegen, um sie zu vermessen. Bis vor 50 Jahren konnte man das Ergebnis dieser Expeditionen nicht voraussagen, denn Zeiten des Vorrückens wechselten sich mit Rückzugsperioden ab. Aber seit Anfang der 1980er Jahre hat sich alles verändert. Das Klima und somit auch die Gletscher haben sich auf eine Einbahnstraße begeben. Während sich die Atmosphäre erwärmt, ziehen sich die einstigen Eisriesen merklich zurück – mit jedem Jahr verschwinden mehr von ihnen sogar komplett. Dieses Verhalten lässt sich besonders gut an den Daten des Silvrettagletschers (in den Schweizer Alpen) nachvollziehen: Von 1920 bis 1980 schrumpfte der Gletscher mal, mal wuchs er. Seit dem Jahr 2004 etwa zeigt die Kurve jedoch stetig nach unten und schlägt zwischendurch nicht mehr nach oben aus. Jedes Jahr dünnt das Eis um zirka einen Meter aus.

Ein mörderischer Sommer

Besonders einschneidend war das Jahr 2022 mit einem Sommer, der für die Alpengletscher eine Katastrophe darstellte. Die Saison brach alle Negativrekorde des Gletscherrückgangs seit dem extrem heißen Sommer 2003. In vielen Fällen mussten die Fachleute sogar die Achsen der grafischen Darstellungen anpassen, um die Eisschmelze von 2022 korrekt abzubilden. Einige Gletscher haben im besagten Jahr 100 Meter an Länge und 6 Meter an Dicke verloren; die Eismassen aller alpinen Gletscher reduzierten sich um mehrere Prozent. Das Beunruhigende: Jener Sommer war zwar bis zu dem Zeitpunkt ungewöhnlich, doch Klimamodellen zufolge nur ein Vorgeschmack auf das, was in einigen Jahrzehnten als normal gelten wird. Schon das Jahr 2023 war ein weiteres Schicksalsjahr für die Eismassen in den Alpen: Laut einer aktuellen Untersuchung der Schweizerischen Kommission für Kryosphärenbeobachtung der Akademie der Naturwissenschaften verloren die Schweizer Gletscher in den beiden Jahren zusammen zehn Prozent ihrer Masse, so viel Eis wie zwischen 1960 und 1990 zusammengenommen. Mit fortschreitendem Klimawandel wird es also kaum noch Gletscher in den Alpen geben.

Das Gletscherdebakel von 2022 ereignete sich, weil zwei Faktoren zusammentrafen: Zum einen sammelte sich im Winter auf den Alpen deutlich weniger Schnee, als im Mittel erwartet wird. In den italienischen Alpen lagen die Werte stellenweise gar um 90 Prozent unter dem Durchschnitt. Am stärksten war der piemontesische Teil der Alpen betroffen. Zum anderen war 2022 in vielen europäischen Ländern, darunter in Italien, das wärmste Jahr seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen (die Durchschnittstemperatur lag 1,15 Grad höher als der Mittelwert von 1991 bis 2020), zahlreiche meteorologische Rekorde wurden gebrochen. Am 25. Juli etwa maß die Messstation Payerne in den Schweizer Alpen 0 Grad Celsius in einer Höhe von 5184 Metern – 67 Meter über dem bisherigen Rekord. An diesem Tag gingen alle Alpengletscher, einschließlich der höchstgelegenen an den Hängen des Mont Blanc, in eine Schmelzphase über.

Weil all jene außergewöhnlichen Ereignisse gleichzeitig auftraten, war der Schaden vielfach größer als gewöhnlich, mit den genannten Rekord-Rückzugsraten. Der Mangel an Schnee und die hohen Temperaturen störten die beiden grundlegenden Prozesse, die das Verhalten der Gletscher kennzeichnen: Weil zu wenig Schnee fiel, konnten die Gletscher nicht wachsen – Fachleute sagen: Der positive Teil der Massebilanzen der Gletscher war verringert. Die hohen Temperaturen wiederum beschleunigten die Schmelze, indem sie den wenigen gefallenen Schnee verschwinden ließen und anschließend direkt das über mehrere Jahre gewachsene Kerneis angriffen, was den negativen Teil der Eisbilanz vergrößerte.

Zum ersten Mal seit Beginn der Messungen verschwand bei vielen Gletschern über 3000 Metern die Schneedecke, die sich in den kälteren Monaten gebildet hatte, vollständig. Und nicht nur das: Immer häufiger leiden auch die tiefer liegenden Schneeschichten, der so genannte Firn, der eigentlich nach und nach zu neuem Eis werden sollte und daher für den Gletscher essenziell ist. Das hat fatale Auswirkungen: Der Mandrone-Gletscher etwa, der Hauptarm des Adamello-Gletschers, hat sich im Sommer 2022 um 140 Meter zurückgezogen. Zuvor lag der durchschnittliche jährliche Abbau bei 15 Metern.

Kaum wiederzuerkennen: Verändertes Schmelzverhalten

Die Glaziologen brachten allerdings nicht nur diese wichtigen und Besorgnis erregenden Daten von ihren Expeditionen mit. Sie berichteten auch von Gletscherlandschaften, die durch die Kapriolen des Wetters der letzten Saison nicht wiederzuerkennen waren. Nicht immer konnten sie ihre Messkampagnen sicher durchführen. Manche Gletscher haben ihren gesamten Endbereich verloren, was es praktisch unmöglich machte, Messungen vorzunehmen. Andere wiesen breite, unüberquerbare Spalten auf, und wieder andere waren von Bruchstücken der umliegenden Felswände verwüstet, die durch das Abschmelzen des Permafrosts instabil und gefährlich geworden waren.

In den letzten Jahren war die Schmelze so gravierend, dass sie anders als früher ablief. So hatte sie nicht nur an der Oberfläche der Gletscher, sondern auch in deren Tiefe sichtbare Auswirkungen. Man könnte denken, dass die Vorgänge im Inneren der Gletscher nicht zu sehen sind, doch das ist nicht immer der Fall. Zunehmend weisen die Gletscher spezielle Spalten auf, die auf die strukturelle Schwächung in der Tiefe hinweisen: Eiskessel. Wie der Name erahnen lässt, sind dies kreisrunde Spaltensysteme, die sich um eine Vertiefung in der Oberfläche des Gletschers bilden. Ihr Aussehen ähnelt nicht zufällig den typischen Dolinen von Karstlandschaften. Beide Formen, Doline und Eiskessel, entstehen, wenn die Decke über einem Hohlraum – sei es im Kalkstein oder im Eis – allmählich absinkt.

Eine Gletschermühle

Will man nachvollziehen, wie sich diese Hohlräume bilden, muss man nach den Auswirkungen vorangegangener Sommer – die ebenfalls immer wärmer wurden – auf die Gletscher suchen, die im Inneren von Kanälen durchzogen sind. In den letzten Jahren haben verschiedene Forschungsgruppen begonnen, solche intraglazialen Kanäle zu untersuchen. Über sie fließt Schmelzwasser in der Sommersaison ab. Es entsteht vor allem auf der Oberfläche der Gletscher, wo die atmosphärische Wärme und die Sonnenstrahlen am stärksten wirken. Teilweise erreicht es die Gletscherfront, indem es durch supraglaziale Kanäle (in der Schweiz auch »bédière« genannt) über die Gletscheroberfläche fließt. Der größte Teil des Wassers sammelt sich allerdings innerhalb des Eises in sinklochartigen Vertiefungen, so genannten Gletschermühlen: Sie graben sich vertikal ein und bilden eine Art Brunnenschacht, der einige Meter im Durchmesser erreichen und bis zu mehrere zehn Meter tief werden kann.

Die Gletschermühlen speisen das Netz der Kanäle im Inneren des Eises, die das Wasser effizient in den unteren Teil des Gletschers abführen, bis sie es letztlich in der Nähe der Front frei geben und damit den für jeden Gebirgsgletscher typischen Gletscherbach speisen. Auch wenn der Begriff »Bach« eher an kleine oder schmale Wasserläufe erinnert, können die größten Gletscher der Alpen bis zu mehrere tausend Liter Wasser pro Sekunde hervorbringen.

Ein Mechanismus, der nicht mehr rundläuft

Unter normalen Umständen sollten die intraglazialen Kanäle saisonalen Veränderungen unterliegen. Im Sommer vergrößern sie sich durch die enorme Menge an Schmelzwasser, das bemerkenswerten Druck aufbauen kann. Im Winter dagegen sollten sie sich schließen, da das verringerte Schmelzwasser einen schwächeren Innendruck ausübt. In Zeiten des Klimawandels läuft dieser Mechanismus allerdings nicht mehr rund, vor allem in den Gletscherzungen, den untersten und flachsten Teilen der Eisgiganten.

Durch starke Schmelze, das zunehmende Verjüngen und die schwache Neigung sind die Zungen immer mehr vom Eisstrom abgeschnitten, der von den höheren Teilen des Gletschers herabfließt. Daher können sich die Kanäle im Winter nicht mehr schließen und werden im Lauf der Zeit immer breiter. So weisen sehr große Gletscherzungen in den Alpen umfangreiche Hohlräume in ihren Endbereichen auf, die vom Schmelzwasser und von der warmen Luft, die in ihnen zirkuliert, gegraben wurden. Die größten dieser Höhlen enthalten stark ausgeprägte Luftströme, die das Eis von innen schmelzen und in der Höhlendecke feine Muster erzeugen.

Im Winter vergrößern sich die Hohlräume nicht weiter. Während sie sich aber in der Vergangenheit schlossen, weil sich der Gletscher talwärts bewegte und dabei verformte, bleiben sie heute offen, da der Eisstrom immer schwächer wird. So vergrößern sich die Hohlräume Jahr für Jahr. Glaziologen treffen sie daher immer häufiger an, wenn sie die Fronten der Gletscher vermessen. Die Eisgrotten sind ebenso faszinierend wie zerbrechlich. Durch die dünnen Wände scheint ein schwaches bläuliches Licht und erzeugt eine surreale Atmosphäre, als befände man sich auf einem anderen Planeten. Die größten dieser Höhlen ziehen sich über Dutzende, wenn nicht Hunderte von Metern in den Gletscher hinein und sind mitunter mehrere Meter hoch.

Wenn die Decken der Hohlräume nachzugeben beginnen, bilden sich die runden Gletscherspalten. Hierbei stürzen die vertieften Eiskessel ein und hinterlassen große Löcher im Eis, in denen das darunterliegende felsige Gletscherbett freiliegt oder sich für kurze Zeit kleine Seen aufstauen. Solche Einsturzlöcher besitzen üblicherweise einen Durchmesser von 10 bis 30 Metern und sind einige Meter tief, selten mehr als zehn. Die kreisrunden Spalten entstehen tatsächlich auch nur an Stellen, an denen der Eispanzer bereits recht dünn ist, denn sonst hätte das Wachstum der unterirdischen Kanäle keine solch destabilisierende Wirkung.

Offener Kessel mit kreisförmigen Gletscherspalten

Kollaps mit Folgen

Das Wasser in den Vertiefungen, die durch den Einsturz der runden Spalten entstehen, und das Freilegen des Felses unter dem Eis wirken sich negativ auf die Energiebilanz des Gletschers aus. Wegen ihrer dunklen Farbe nehmen Fels und Wasser viel Sonnenenergie auf und geben anschließend eine große Menge Wärme an das Eis ab, was dessen Rückzug letztlich beschleunigt. In den letzten Jahren haben Fachleute beobachtet, dass ein Gletscher sich um mehrere zehn oder gar mehrere hundert Meter zurückziehen kann, nachdem ein Eiskessel eingestürzt ist. Das Auftauchen der runden Spalten auf den Zungen der Alpengletscher ist daher ein beunruhigendes Zeichen, das auf den Kollaps ganzer vereister Regionen in einigen Jahren hinweist. Eine von diesen Strukturen übersäte Gletscherzunge, wie sie beispielsweise beim Adamello-Gletscher, dem größten Eisriesen der italienischen Alpen, vorkommt, wird über kurz oder lang komplett verschwinden oder zumindest drastisch schrumpfen.

Die Verbreitung der runden Gletscherspalten ist daher ein Warnsignal, das zeigt, wie fragil die Eisriesen unter den neuen klimatischen Bedingungen sind und wie anders die Schmelzprozesse im Gegensatz zu früher ablaufen. Die Ursachen des tragischen Einbruchs des Marmolata-Gletschers am 3. Juli 2022 finden sich etwa in seiner Tiefenstruktur. An jenem Tag löste sich ein Sérac, also eine hohe Struktur aus Eis, ab und verursachte eine Lawine, die sich über den Wanderweg zur Punta Penia ergoss, dem höchsten Gipfel der Gebirgskette. Das Unglück kostete elf Menschen das Leben. Bis dahin hatte niemand vorhergesehen, dass ein solches Ereignis bei einem kleinen und häufig besuchten Gletscher wie dem Marmolata-Gletscher geschehen kann.

Noch ist unklar, was genau sich an diesem Tag zugetragen hat, aber die bisher gesammelten Hinweise scheinen darauf hinzudeuten, dass der Auslöser des Bruchs in der Tiefe des Gletschers zu finden ist, wo sich vermutlich Schmelzwasser angesammelt hatte. Am Tag des Unglücks verzeichnete man auf dem Gipfel der Marmolata den 23. Tag in Folge Temperaturen über dem Gefrierpunkt. Anschließend blieb der Gletscher noch drei Wochen lang in eine Blase aus warmer Luft gehüllt, die weiterhin Tag und Nacht zu seinem Schmelzen beitrug. Weil so wenig Schnee auf dem Gletscher lag, wirkten sich die hohen Temperaturen direkt auf das Eis aus, was die Struktur des gesamten Gletschers auf immer tiefgreifendere und gefährlichere Weise in Mitleidenschaft zog. Das wochenlange Ausbleiben von Nachtfrost störte dann die klassische sommerliche Gletscherdynamik. So gab es keinen täglichen Eiszyklus mit Gefrieren und Schmelzen, sondern eine intensive Schmelzphase, die fast einen Monat lang andauerte.

Beispiellose Zeit

Noch nie seit Beginn der Glaziologie waren die Gletscher in einem solchen Zustand. Wir erkennen, dass die Gletscher sich nicht einfach leise zurückziehen und irgendwann verschwinden. Vielmehr bäumen sie sich bisweilen aus dem Nichts auf, ohne dass man es vorhersagen könnte. Mit der Klimaerwärmung verändert sich auch der Berg: Die Gletscher legen ein Verhalten an den Tag, das bis vor einigen Jahren kaum vorstellbar war. Wir müssen uns an die neuen Eigenschaften der eisigen Umgebungen im Sommer anpassen und uns an neue Regeln für alpine Gebiete halten.

Adamello-Mandrone-Gletscher

In Zeiten des Klimawandels ist kaum mehr Platz für Gletscher, wie das Jahr 2022 eindeutig klargemacht hat. Und das Folgejahr war nicht besser: Im März 2023, zum Zeitpunkt ihrer maximalen Dicke, lag die Schneemenge im gesamten Pobecken bei einem Drittel des normalen Werts, ähnlich wie schon 2022 (Daten der Forschungsorganisation Fondazione CIMA). Der Juli 2023 wiederum war weltweit der heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen.

Gletscher sind nicht nur einfach ein Opfer des Klimawandels. Ihr Verschwinden in Gebirgen wie den Alpen wird spürbare Auswirkungen sowohl auf die Natur als auch auf den Menschen haben. Ein Fünftel des Anstiegs der Meeresspiegel, also etwa 3,5 Millimeter jedes Jahr, ist auf das Schmelzen der kontinentalen Gletscher zurückzuführen, die auf die Bergketten der Erde verteilt sind. Eine Studie von 2021 schätzt, dass die Gebirgsgletscher trotz ihrer begrenzten Ausmaße jedes Jahr mehr als 250 Milliarden Tonnen Wasser an die Ozeane abgeben. Dabei dienen sie aber Millionen von Menschen als Trinkwasserquelle und werden zur Stromerzeugung aus Wasserkraft genutzt. Bis zu 1,9 Milliarden Menschen könnten betroffen sein, wenn diese Quelle versiegt, ermittelte ein Forschungsteam im Jahr 2019. Ein Schatz, der wortwörtlich wie Eis in der Sonne dahinschmilzt.

Allerdings ist noch nicht alles verloren. In welchem Ausmaß die Gletscher künftig erhalten bleiben, hängt einzig davon ab, wie schnell wir es schaffen, auf die Nutzung fossiler Brennstoffe – die Ursache der Klimaerwärmung – zu verzichten. Jedes halbe Grad klimatischer Erwärmung, das wir verhindern können, trägt zum Überleben tausender Gletscher auf den Gebirgen der Erde bei – und zum Überleben der Ökosysteme, die von ihnen abhängen. Um sie zu erhalten, ist jedoch ein schneller und deutlicher Kurswechsel nötig.

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