Neuer Altersrekord: Uralte DNA schreibt Geschichte neu
Man hätte von Anfang an stutzig werden können. Diese Geschichte war einfach zu stimmig, um wahr zu sein. Denn die Erfahrung zeigt: Bei der Erforschung unserer frühesten Vorfahren ist am Ende immer alles komplizierter als gedacht.
Das zeigt sich nun auch bei einem außergewöhnlich robusten Menschenschlag, der vor etwa einer halben Million Jahren in der nordspanischen Sierra de Atapuerca lebte. In der "Knochenhöhle", der Sima de los Huesos, nahe der nordspanischen Stadt Burgos hat sich ein einzigartiges Archiv erhalten: Die einstigen Bewohner warfen wohl ihre verstorbenen Angehörigen in einen 13 Meter tiefen Schacht, in dem sich dann die Skelette sammelten. So stießen die Ausgräber um Juan-Luis Arsuaga von der Universidad Complutense de Madrid über Jahre hinweg auf insgesamt 28 Individuen, an denen sich allerlei Feinheiten im Körperbau untersuchen lassen.
Von Forschern tendenziell der Art Homo heidelbergensis zugeschlagen, galten die Angehörigen der Sima-de-los-Huesos-Gruppe als ausgezeichnete Kandidaten für den prototypischen Neandertalervorfahren. Wichtige Merkmale im Skelett und Gebiss deuteten darauf hin. Auch zeitlich stimmte alles. Und immerhin lebten diese Menschen ja genau dort, wo sich einige hunderttausend Jahre später auch der Neandertaler einrichten würde.
Doch nun landeten die Genetiker vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ihren jüngsten Coup [1]. Das Team um Svante Pääbo hat es zu Wege gebracht, in den rund 400 000 Jahre alten Knochen Erbgutreste ausfindig zu machen und zu sequenzieren. Diese DNA ist sage und schreibe etwa viermal so alt wie die vom Neandertaler, die das Team in den vergangenen Jahren rekonstruierte.
Erbgut aus den Mitochondrien
Zwar betrachteten sie ausschließlich die DNA aus den Mitochondrien, die so genannte mtDNA, die in den Zellen in vielfacher Ausfertigung vorliegt und insofern leichter auszulesen ist. "Trotzdem bewegen wir uns damit im absoluten Grenzbereich dessen, was technisch möglich ist", sagt Studien-Erstautor Matthias Meyer, "noch vor einem oder zwei Jahren hätte ich selbst nicht geglaubt, dass das machbar ist."
Und als wäre das nicht genug, wirbeln sie gleich den bislang einigermaßen sicher geglaubten Stammbaum durcheinander. Denn statt wie erwartet mit den Neandertalern sind die 400 000 Jahre alten Menschen aus Spanien deutlich näher mit einer ganz anderen Gruppe verwandt, zumindest was die mtDNA angeht: dem aus Asien bekannten Denisova-Menschen.
Winzige fossile Überreste dieser Art wurden vor einigen Jahren im sibirischen Altai-Gebirge gefunden und zunächst für Neandertalerhinterlassenschaften gehalten. Nach einer Genuntersuchung stellten die Wissenschaftler im Jahr 2010 jedoch überrascht fest: Tatsächlich waren sie auf Angehörige einer zuvor unbekannten Geschwisterart gestoßen. Nach der Höhle, in der die etwa 40 000 Jahre alten Fossilien – ein Zahn und ein Fingerknöchelchen – gefunden wurden, tauften sie die Forscher auf den Namen "Denisova".
Nur wenig mehr weiß man über sie, als dass sie sich sowohl mit dem Neandertaler als auch mit dem modernen Menschen vermischten und in Asien beheimatet waren. Die rätselhaften Denisova-Menschen avancierten schnell zu den bekanntesten Unbekannten in der Frühmenschenforschung.
Und nun spielen sie also auch in der Geschichte des spanischen Homo heidelbergensis eine Rolle. Während dessen Körperbau klar in Richtung Neandertaler weist, deutet das Erbgut in Richtung Sibirien. Wie passt das zusammen? "Wir können uns selbst noch keinen Reim darauf machen", räumt Meyer ein.
Erklärung gesucht
Vier Szenarien sollen erklären, wie es zu dieser Kombination kommen konnte, doch keines davon kann vollständig überzeugen, bemerken die Forscher: Das Nächstliegende wäre anzunehmen, aus dem Homo heidelbergensis hätten sich schlicht und ergreifend nur die Denisova-Menschen entwickelt und nicht die Neandertaler. Das scheidet aber wohl als Erklärung aus, weil die spanischen Fossilien vergleichsweise moderne Zähne aufweisen, der wesentlich jüngere Denisova-Zahn jedoch noch sehr robust wirkt. Er hätte sich wieder zurückentwickeln müssen.
Vielleicht war der Homo heidelbergensis auch eng mit dem gemeinsamen Vorfahren beider Arten verwandt, und während die Denisova-Menschen die mtDNA-Linie beibehielten, verschwand sie bei den Neandertalern aus noch zu klärenden Gründen aus dem Genpool.
Doch am plausibelsten klingen Szenarien, in denen es einmal oder auch mehrmals zu einem Gentransfer mit einem Dritten im Bunde kam, erklärt beispielsweise Chris Stringer vom Natural History Museum in London gegenüber der Fachzeitschrift "Nature" [2]. Dass sich damals immer wieder Angehörige benachbarter Gruppen – auch über vermeintliche Artgrenzen hinweg – miteinander fortpflanzten, haben die Genuntersuchungen der Vergangenheit in überraschender Deutlichkeit klargemacht.
Wer jedoch in diesem Fall als großer Genspender auftrat, ist ungewiss. Es könnte sich um einen späten Homo erectus gehandelt haben, der sowohl den Denisovanern als auch dem spanischen Homo heidelbergensis eine Portion Erbgut verpasste. Von diesem blieb dann im Wesentlichen nur der mitochondriale Anteil übrig, der älter wirken würde als das restliche Genom, weil er sich bereits früh von jenem Ast abspaltete, der zu Mensch, Neandertaler und Denisovaner führte.
Interessanterweise stolperten die Forscher bereits bei den alten Sibiriern über eine solche Diskrepanz: Die mitochondriale DNA und die Kern-DNA der Denisova-Menschen liefern unterschiedliche Daten für den Zeitpunkt, wann sich ihre Linie von der der Neandertaler abspaltete. Und im Denisova-Kerngenom stieß die Leipziger Forschergruppe gemeinsam mit dem Genetiker David Reich von der Harvard University auf vereinzelte Überreste eines archaischen Erbes, wie sie kürzlich der Fachwelt mitteilten.
Ob diese Rechnungen und Vermutungen am Ende aufgehen werden, ist derzeit jedoch noch alles andere als sicher. Zumal die Forscher bei ihren Analysen alter DNA nicht gerade aus dem Vollen schöpfen können. An den meisten Fundorten weltweit hat sich nach jetzigem Wissensstand keine DNA erhalten – zumindest keine brauchbare. "In den vergangenen 400 000 Jahren gab es starke klimatische Schwankungen, sowohl Kalt- als auch Warmzeiten", erläutert Matthias Meyer. Für die langen Moleküle in den Knochenzellen ist das klimatische Wechselbad fatal.
Stückwerk mit System
Doch im Schacht der Sima de los Huesos scheinen sich überraschend gute Erhaltungsbedingungen eingependelt zu haben. Zwar liegt der Rekord bei der Sequenzierung alter Säugetier-DNA noch deutlich höher – bei rund 700 000 Jahren. Doch stammte das Erbgut eines Pferdes, das ein Team um Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen kürzlich untersuchte, aus dem Permafrostboden Alaskas [3]. Unter solchen Kühlschrankbedingungen überdauern natürlich mehr Sequenzen – und vor allem längere.
In der Sima de los Huesos war das mitochondriale Erbgut hingegen in noch winzigere Stückchen zerfallen als bei der Untersuchung des Neandertalergenoms: Die Molekülketten waren nunmehr im Schnitt halb so lang. Entsprechend aufwändig mussten diese Teile eingefangen und im Computer wieder zusammengesetzt werden.
Bei der Ausgrabung der Knochen wurde das Material zudem mit moderner menschlicher DNA verunreinigt. Typische Zerfallsmuster hätten ihnen geholfen, alt von neu zu trennen, schreiben die Wissenschaftler. Wie sicher sind die Ergebnisse? "Wir haben die Resultate zur Kontrolle mit verschiedenen Verfahren durchgerechnet", erklärt Matthias Meyer, "aber es blieb immer eindeutig bei der engen Verwandtschaft mit der Denisova-Linie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Befund auf irgendeinem Fehler beruht."
So zeigt sich einmal mehr, was viele Frühmenschenforscher seit Längerem ahnen: dass eine Geschichte des Menschen, die vor allem auf der Anatomie von Knochen aufbaut, zahlreiche Lücken und Irrtümer aufweist. Die Hoffnung ist, dass die Untersuchung des eigentlichen Erbguts aus den Sima-de-los-Huesos-Knochen künftig mehr Klarheit bringt, doch die Kern-DNA ist so rar, dass die Suchmethoden bislang meist ins Leere laufen.
In einem Jahr wollen die Leipziger Wissenschaftler immerhin ein paar brauchbare Sequenzen aus den Knochen isoliert haben. Dann könnten wir endlich die Antwort haben – oder zumindest einen Haufen neuer Fragen.
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