News: Altes Modell gerät ins Wanken
Zu den Leptonen gehört auch das Myon: Es ist ähnlicher Natur wie das Elektron, hat aber eine 207-mal größere Masse als sein Cousin. Außerdem ist es instabil und zerfällt nach kurzer Zeit. Wie das Elektron, so besitzt auch das Myon ein magnetisches Moment – trägt also bildlich gesehen einen winzig kleinen Stabmagneten mit sich, der in Richtung des Spins weist. Die Stärke des Moments ist über eine dimensionslose Proportionalitätskonstante, den so genannten gyromagnetischen Faktor oder auch Landéschen g-Faktor, an eine andere quantenmechanische Größe – den Drehimpuls – gekoppelt.
Laut einer ursprünglichen Theorie von Paul Dirac sollte g genau den Wert zwei haben. Tatsächlich weicht der g-Faktor aber von zwei ab, man bezeichnet das auch als anomales magnetisches Moment des Myons oder kurz "g-2" (gesprochen: "g minus 2"). Die Erklärung für die Abweichung liegt in der Unbestimmtheit quantenmechanischer Systeme: Die Heisenbergsche Unschärferelation erlaubt es dem Myon, einen ganzen Zoo an "virtuellen Teilchen" zu emittieren und direkt wieder aufzusaugen, bevor jemand einen Blick auf sie werfen kann. Auch die virtuellen Teilchen wechselwirken mit dem Magnetfeld und beeinflussen den g-Faktor. Die Physik vermag diese Abweichung vom Wert zwei mit einer Genauigkeit von 0,6 zu einer Million zu berechnen – sie beträgt ungefähr ein Achthundertstel. Im Rahmen der Messgenauigkeit bisheriger Experimente ließ sich dieser Wert auch sehr gut bestätigen.
Drei Jahre lang haben nun 68 Forscher aus den USA, Russland, Japan und auch aus Deutschland von der Universität Heidelberg am Brookhaven National Laboratory Experimente durchgeführt, um das magnetische Moment des Myons so genau wie nie zuvor zu bestimmen. Dazu schickten die Forscher polarisierte Myonen in einen Speicherring, dessen Magnetfeld genau senkrecht zum Spin der Myonen und damit auch zu ihrem magnetischen Moment stand. Das starke Feld des 14 Meter großen supraleitenden Magneten bewirkte, dass sich die elektrisch geladenen Myonen auf Kreisbahnen bewegten. Während das Myon so seine Kreise zog, drehte sich sein Spin, der anfangs in Bewegungsrichtung ausgerichtet war, ein wenig schneller als es selbst, sodass nach 29 Umdrehungen im Ring der Spin eine zusätzliche Umdrehung gemacht hat. Die Differenz zwischen der Rate, mit der das Myon kreist, und der Rate, mit der sich sein Spin dreht, ist proportional zu g-2 – dem anomalen magnetischen Moment.
Damit sich die Myonen nicht im Laufe der Zeit auf einer Spiralbahn aus ihrem Gefängnis winden, haben die Forscher ein zusätzliches elektrisches Feld angelegt, das die Elementarteilchen einsperrt. Allerdings erfordert diese Maßnahme einen weiteren Trick, denn auch ein elektrisches Feld beeinflusst den Myonenspin und das wäre unerwünscht. Glücklichweise bleibt bei einer Geschwindigkeit von 99,94 Prozent der Lichtgeschwindigkeit – der magischen Geschwindigkeit – der Spin und das magnetische Moment unangetastet. Also mussten die Physiker genau diese Geschwindigkeit für die Myonen einstellen.
Schließlich detektierten die Forscher die Änderung des Spins über den Zerfall der Myonen. Dabei entstehen nämlich Positronen – die Antiteilchen des Elektrons –, die beim Zerfall die Spinrichtung des Myons quasi aufgeprägt bekommen. Ein System aus empfindlichen Detektoren maß die Zeit und Energie der Antiteilchen. Die Wissenschaftler sammelten so die Daten von einer Milliarde Myonenzerfällen.
Die Auswertung lieferte das verblüffende Ergebnis, dass die Anomalie des magnetischen Moments eine Winzigkeit größer als der theoretische Wert war – eine Kleinigkeit, die bei bisherigen Experimenten in der Messgenauigkeit untergegangen war. Laut Vernon Hughes von der Yale University gibt es drei Erklärungsmöglichkeiten: Erstens könnte es sein, dass das Standardmodell zur Erklärung nicht mehr ausreicht, eine Erweiterung wäre nötig. Die so genannte Supersymmetrie, die Elementarteilchen und Kräfte miteinander vermischt, würde sich hier anbieten. Zweitens besteht noch eine sehr kleine Chance, dass Experiment und Theorie doch konsistent sind, dass die Abweichung vom theoretischen Wert nur eine statistische Fluktuation wäre – diese Wahrscheinlichkeit liegt aber gerade mal bei einem Prozent. Drittens kann man auch nie ausschließen, dass an irgendeiner Stelle ein systematischer Fehler unterlaufen ist – auch wenn das sehr, sehr unwahrscheinlich ist.
Lee Roberts von der Boston University kommentiert: "Viele Leute meinen, dass die Entdeckung der Supersymmetrie schon hinter der nächsten Ecke wartet. Vielleicht haben wir das erste kleine Fenster zu dieser Welt geöffnet."
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