Direkt zum Inhalt

Altruismus: Von Natur aus selbstlos?

Ob Terroranschläge, Hungersnot oder Wassermangel: Ausgerechnet bei tödlicher Gefahr verhalten sich Menschen oft erstaunlich uneigennützig. Woran liegt das?
Eine Hand reicht anderen Händen eine Schale mit Essen
Warum riskieren Menschen ihr Leben, um Fremden zu helfen? Dieses evolutionsbiologische Rätsel ist noch nicht gelöst.

Wir schreiben den 14. Juli 2043. Frankreich erlebt die schlimmste Dürre seit zehn Jahren. Alle Vorschriften und Gesetze zur Begrenzung des Wasserverbrauchs blieben wirkungslos, deshalb musste man das Leitungswasser in der ganzen Region Île-de-France abstellen. Stattdessen rollen Tanklastwagen durch Paris. Straße für Straße, Viertel für Viertel werden die Menschen zu den Fahrzeugen gerufen, um sich für die kommende Woche ihre Wasserration abzuholen. Eile ist geboten, manche haben mehrere Kanister dabei. Obwohl jeder Haushalt bloß Anspruch auf fünf bis sechs Liter hat, sind die für die Verteilung zuständigen Personen mit der Ausweiskontrolle schnell überfordert. Es dauert nicht lange, bis hitzige Streitereien entbrennen und jeder versucht, sich unsanft vorzudrängeln.

Ein überzeichnetes Katastrophenszenario? Vor dem Hintergrund des Klimawandels könnten derart dystopische Zustände schon bald vielerorts Realität werden. Für die Bewohner der Insel Mayotte, eines französischen Überseegebiets, wurden sie bereits im Jahr 2023 wahr. Auf Grund schwer wiegender Niederschlagsanomalien während der Spätsommer- und Herbstmonate musste die Regierung Lieferrunden zur Versorgung mit Wasser einrichten. Die Menschen konnten ihre Vorräte nur jeden dritten Tag auffüllen. Schließlich übernahm das Militär die Aufgabe, die Bevölkerung, die zudem unter Armut und grassierender Kriminalität leidet, mit Wasser zu versorgen.

Bilder des Grauens | Eine eindringliche Szene aus dem Stummfilm »Panzerkreuzer Potemkin« (UDSSR 1925, Regie: Sergej Eisenstein) illustriert die lange Zeit vorherrschende Sichtweise, dass wir bei tödlicher Gefahr schnell in Panik geraten und einander nicht helfen: Die Menschen flüchteten kopflos vor den schießenden Soldaten, keiner kümmerte sich um die Verletzten.

Um zu überleben, mussten unsere Vorfahren zweifellos oft an sich selbst denken. Ist es nicht zu befürchten, dass wir die Nachkommen von Individuen sind, die sich angesichts des sozialen Dilemmas »Zuerst ich oder andere vorlassen?« eher für den eigenen Vorteil entschieden haben? Es liegt sogar nahe, dass sich vor allem jene fortpflanzten, die nicht bloß versuchten, als Erste an begehrte Ressourcen zu kommen, sondern diese auch auf Kosten ihrer Mitmenschen horteten.

In einer berühmten Szene im Stummfilm »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) flüchtet eine Menschenmenge auf der gigantischen Freitreppe in Odessa in kopfloser Panik, als bewaffnete Soldaten auf sie schießen. Frauen, Männer, Kinder, jeder versucht nur noch, sich in Sicherheit bringen; Verletzte werden sich selbst überlassen. Der individuelle Überlebenswille scheint hier sogar fundamentale soziale Bindungen zwischen sich nahestehenden Menschen hintanzustellen.

Doch was geschieht wirklich in solchen Momenten von Todesgefahr? Diese Frage mit den üblichen Werkzeugen der experimentellen Psychologie anzugehen, gestaltet sich schwierig. Schließlich verbietet es sich aus ethischen Gründen, Versuchspersonen absichtlich in derartige Situationen zu bringen.

Menschen im brennenden Wolkenkratzer

Was uns bleibt, ist die Untersuchung wirklicher Begebenheiten. Im Jahr 2005 veröffentlichten Rita Fahy und Guylène Proulx eine Forschungsarbeit, für die sie die Berichte der Überlebenden des Attentats auf das Word Trade Center in New York ausgewertet hatten. Letztere ließen erahnen, was die Menschen in der Hölle der brennenden Türme erlebt hatten. Laut der Mehrzahl der Aussagen verhielten sich die Betroffenen während des Anschlags jedoch erstaunlich ruhig. Bruno Dellinger, ein französischer Firmenchef, der im Inneren des World Trade Center arbeitete, erzählt in seinem Buch »World Trade Center, 47e étage«, dass die Menschen beim Verlassen des Gebäudes geordnet die Treppen hinuntergingen und sich dabei sogar unterhielten. Natürlich hatten sie Angst. Aber es führte nicht zu einer Panik, in der jeder nur noch seine eigene Haut zu retten versuchte. Im Gegenteil: Man tat, was in dieser Situation am rationalsten war – das Gebäude so gut wie möglich zu evakuieren.

Bombenanschläge in London

Grundsätzlich scheint das Phänomen der Massenpanik seltener als gedacht. Einiges deutet darauf hin, dass in bedrohlichen Situationen vielmehr eine Tendenz zur Zusammenarbeit besteht. Während des Attentats in der Londoner U-Bahn am 7. Juli 2005 etwa herrschte nach der Explosion große Solidarität, wie ein Team um den Sozialpsychologen John Drury 2009 nachwies. Man tröstete sich gegenseitig, man versuchte Überlebende aus dem Schutt zu bergen und gab denjenigen, die es brauchten, etwas zu trinken. Auch hier herrschte Angst, allerdings verhinderte sie weder, dass die Menschen einigermaßen gefasst blieben, noch, dass sie sich gegenseitig halfen. Man kämpfte zwar ums Überleben, tat das jedoch offenbar gemeinsam.

Das egoistische Gen

Als Evolutionsbiologe hatte ich zunächst Schwierigkeiten, solchen Berichten über selbstlose Kooperation in Gefahrensituationen zu glauben. Laut dem Biologen Richard Dawkins (dem Bestseller-Autor von »Das egoistische Gen«) sind Lebewesen lediglich ein Vehikel für Gene, die sich mit deren Hilfe zu vermehren suchen. Aber wenn zwei Menschen nicht miteinander verwandt sind – was treibt sie dann dazu, einander zu helfen und dabei womöglich die Weitergabe ihrer eigenen Gene zu gefährden?

Wenn Menschen bei der Flucht aus einer brennenden Bahn andere nicht beiseitestoßen, dann, weil man das eben einfach nicht tut

Laut einer älteren Theorie des Soziologen Norris Johnson von 1987 ist Hilfsbereitschaft das Ergebnis »sozialer Normen«. Dominieren bestimmte Regeln das Leben im öffentlichen Raum, würden sie auch bei Gefahr nicht einfach übertreten. Anders gesagt: Wenn Menschen bei der Flucht aus einer brennenden Bahn andere nicht beiseitestoßen, dann, »weil man das eben einfach nicht tut«. Allerdings haben Menschen zu allen Zeiten soziale Normen verletzt, wenn es hart auf hart kam, beispielsweise gestohlen, um nicht zu verhungern. Warum sollten sie sich an Regeln halten, wenn sie kurz davorstehen, in den Flammen zu sterben?

Ein uralter Reflex

2005 stellte der Biologe Anthony Mawson eine Hypothese auf, die mich mehr überzeugte. Ihm zufolge suchen wir bei Gefahr Sicherheit an vertrauten Orten, bei Personen oder auch in beruhigenden Verhaltensweisen. Für Kinder ist häufig die Mutter der wichtigste Rückzugsort. Später fühlen wir uns bei Menschen geborgen, mit denen wir unser Leben teilen, oder wir suchen Schutz in unserer Wohnung.

Die vorherrschende Reaktion in Angst einflößenden Situationen scheint oft die Suche nach Körperkontakt zu sein. Doch der Wunsch nach körperlicher Nähe würde noch nicht erklären, warum wir anderen Menschen bei Gefahr helfen.

Wie der Psychologe John Drury 2018 vorschlug, hat eine allen drohende Gefahr einen äußerst vereinenden Effekt. Individuen fühlen sich plötzlich als Teil einer Gruppe und handeln daraufhin entsprechend jener Normen, die dieser helfen. Als ich ernsthaft begann, mich für das Phänomen der Kooperation in lebensgefährlichen Situationen zu interessieren, erschien mir dennoch keine der bisherigen Erklärungen vollkommen befriedigend. Die Stärke der Gemeinschaft in der Not zu feiern, deutete für mich eher in Richtung einer ideologisch betrachteten »Tugend«. Ich hätte kein Problem damit, wenn eine Menschenmenge in brenzligen Situationen egoistisch reagiert: Kann man jemandem vorwerfen, sein eigenes Überleben an erste Stelle zu setzen? Ich finde das zwar nicht tugendhaft, aber auch nicht verurteilungswürdig.

Im Kugelhagel der Attentäter

Mitten in diesen Überlegungen trafen die Attentate vom 13. November 2015 die französische Hauptstadt. Kurz danach rief das CNRS (Centre national de la recherche scientifique, Frankreichs nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung) zu Studien auf, in denen die Auswirkungen des terroristischen Anschlags auf die Gesellschaft erforscht werden sollten.

Unser Forschungsteam bekam die Gelegenheit, mit 32 der 1500 Menschen sprechen, die an jenem Abend im Bataclan das Konzert der Band Eagles of Death Metal besucht hatten. Die Vorgänge ließen sich rekonstruieren: Gegen 21.40 Uhr betraten drei bewaffnete Männer die Halle und eröffneten das Feuer. Manche Personen, mit denen wir redeten, waren zu diesem Zeitpunkt vor der Bühne, andere befanden sich auf der Empore. Sie waren also unterschiedlich weit von den Terroristen entfernt, befanden sich mehr oder weniger nahe an den rettenden Ausgängen und hatten somit unterschiedlich gute Chancen, zu fliehen und zu überleben. Im Gespräch benutzten wir einen Fragebogen, der die Verhaltensweisen detailliert nachzeichnen sollte, die die Betroffenen sowohl bei sich selbst als auch bei anderen Gästen beobachtet hatten. Diese Unterscheidung ist wichtig: Menschen geben bezüglich des eigenen Verhaltens eher sozial erwünschte Antworten. Eine egoistische Verhaltensweise bei anderen zu beschreiben, fällt uns viel leichter.

Solidarität | Während des Attentats im Pariser Musikclub Bataclan ermöglichten Menschen einander teilweise unter Einsatz ihres eigenen Lebens die Flucht. Auf dem Bild sind Sicherheitskräfte und vermutlich zwei Überlebende zu sehen, die es wenige Minuten zuvor nach draußen geschafft hatten.

Mehr helfende als egoistische Aktionen

Die Interviews lieferten uns in der Summe 400 auswertbare »soziale Episoden« – damit ist jede einzelne Situation gemeint, an der zwei oder mehr Personen beteiligt waren, von denen mindestens eine sozial bedeutsam agierte. Wir teilten die Episoden in zwei Kategorien ein: erstens »unterstützend«, etwa eine andere Person trösten, retten oder schützen; und zweitens »nicht unterstützend«, wie jemanden umstoßen oder gar verletzen, um selbst schneller zum Notausgang zu gelangen.

Ein Überlebender erzählte uns, dass einige Menschen über andere hinwegtrampelten, um sich von den Terroristen zu entfernen

Eine befragte Person berichtete beispielsweise, dass »jeder auf sich allein gestellt war«, nachdem die Terroristen zu schießen begonnen hatten. Man habe »sich vordrängeln« und bereit sein müssen, »andere wegzustoßen« und bloß »die Stärksten und Schnellsten kamen hinaus«. Ein anderer Überlebender erzählte uns, dass einige Menschen über andere hinwegtrampelten, um sich von den Terroristen zu entfernen. Bei den Versuchen, nur noch »die eigene Haut zu retten«, sei es zu Verletzungen gekommen. Er kam zu dem Schluss, man könne »jemanden in Panik unmöglich aufhalten«.

Solche Aussagen stützen die frühere These einer bei Todesgefahr blind und egoistisch agierenden Menge. Aber als wir die Zahlen betrachteten, kamen in den Berichten unserer Gesprächspartner unterstützende Handlungen ungefähr dreimal häufiger vor als nicht unterstützende.

Trotz des Risikos, selbst entdeckt zu werden, riefen manche immer wieder »Sie laden nach!«, wenn den Attentätern die Munition ausging, um anderen in diesem Moment die Flucht zu ermöglichen

So hörten wir etwa, wie ein Wachmann heldenhaft versucht hatte, andere auf der Empore in einen sicheren Raum zu bringen. Uns wurde oft erzählt, dass man sich um die Verletzten kümmerte und dass Frierenden Kleidungsstücke angeboten wurden. Die Menschen hielten sich gegenseitig auf dem Laufenden, wo die Terroristen sich gerade befanden und was sie taten. Jemand erzählte uns etwa, dass einige Leute ihn eindringlich warnten, er dürfe »auf keinen Fall die Treppe hinuntergehen«. Trotz des Risikos, selbst entdeckt zu werden, riefen manche immer wieder »Sie laden nach!«, wenn den Attentätern die Munition ausging, um anderen in diesem Moment die Flucht zu ermöglichen. Auch um auf das rettende Dach des Gebäudes zu gelangen, nahmen die Menschen Rücksicht aufeinander: »Jeder wartete, bis er an der Reihe war, es war verrückt«, erzählte eine weitere Person, die wir interviewen durften.

Im Anschluss analysierten wir die Verhaltensweisen in Hinblick darauf, wie weit sich die Handelnden während der Episode von der Gefahr entfernt befanden und ob sie zu dem Zeitpunkt selbst die Chance hatten zu fliehen: Je näher die Terroristen waren, desto seltener kam es zu unterstützendem Verhalten. Eventuell bestand in diesem Fall weniger Handlungsspielraum, weil man mehr Angst haben musste, dabei entdeckt zu werden. Außerdem sank die Wahrscheinlichkeit, anderen zu helfen, wenn sich gerade die Möglichkeit zur eigenen Flucht bot.

Verallgemeinerungen sind schwierig

Natürlich können wir nicht ganz ausschließen, dass sich die Teilnehmer besser an die positiven Ereignisse erinnerten als an die negativen. Und unsere Studie mit den Überlebenden des Bataclan hat das evolutionsbiologische Rätsel nicht gelöst. Aber durch sie erkannten wir, wie schwierig es ist, das menschliche Verhalten in Extremsituationen zu erforschen. Egal, ob es um Hunger, Wasserknappheit oder terroristische Bedrohung geht – jede Verhaltensanalyse muss jeweils die genauen Bedingungen und die Vielzahl der möglichen Situationen miteinbeziehen, in denen sich eine individuelle Person befand. Wenn die Medien etwa von chaotischen Szenen bei der Hilfsgüterverteilung oder von Plünderungen im Gazastreifen berichten, dürfen wir nicht daraus schließen, dass sich viele Menschen in extremen Mangelsituationen egoistisch verhalten. Es handelt sich um eine einzigartige Situation, und häufig kommt es bereits zu einer Eskalation, wenn nur einzelne Individuen schlechte Entscheidungen treffen. Das klingt auf den ersten Blick trivial, doch der Wunsch, allgemein gültige Aussagen zu treffen, könnte das genaue und systematische Erfassen der Ausgangslage behindern.

Bei vielen Vogelarten ist das Vertreiben von Eindringlingen eine Gemeinschaftsaktion

Im Bataclan hing die Bereitschaft, sich prosozial zu verhalten und zu kooperieren, von zwei Faktoren ab: der eigenen Entfernung von der Gefahr und der Möglichkeit, sich ihr zu entziehen. Es scheint, als würde unser kognitives System zwischen mehreren Optionen auswählen und dabei berücksichtigen, wie sich das auf unsere direkten Überlebenschancen auswirkt. Den Einfluss sozialer Normen und das Nähe suchende Verhalten sollte man dabei natürlich auch nicht vollständig außen vor lassen.

Im Schutz der Gruppe

Attacke | In der Brutzeit setzen sich Möwen bei der Verteidigung der Nistplätze auch für andere Mitglieder der Kolonie ein.

In manchen lebensgefährlichen Situationen hängt die eigene Rettung zudem entscheidend vom Zusammenhalt der Gruppe ab. Vor allem wenn es unmöglich ist, zu fliehen, könnte es der erste Reflex sein, sich zusammenzuschließen, um so die Überlebenschancen zu erhöhen. So etwas lässt sich im Tierreich häufig beobachten. Bei vielen Vogelarten ist das Vertreiben von Eindringlingen eine Gemeinschaftsaktion. Insbesondere brutkoloniebildende Vögel wie Silbermöwen verteidigen so ihr Revier und ihre Nistplätze. Bei manchen Fischarten dagegen koordiniert der Schwarm sein Verhalten derart, dass der Räuber verwirrt ist und es für ihn schwierig wird, sich auf ein einzelnes Beutetier zu konzentrieren. Für das Individuum bietet der Schwarm also Überlebensvorteile, wohingegen einzelgängerische Fische schneller gefressen und somit von der Evolution aussortiert werden.

Möglicherweise bringen solche ursprünglichen Mechanismen auch Menschen bei unausweichlicher Gefahr dazu, die körperliche Nähe anderer zu suchen. Vielleicht wollen wir damit den Angreifer ähnlich wie ein Fischschwarm »verwirren«. Oder die Gemeinschaft eröffnet Fluchtwege – etwa indem man sich gegenseitig mit einer Räuberleiter auf das Dach des Bataclan hilft. Über mehrere hunderttausend Jahre der Evolution könnte sich die Neigung zum gemeinschaftlichen Handeln für unsere Vorfahren demnach ausgezahlt haben.

Der gute Ruf

Ein Tier, das sich nicht an der kollektiven Verteidigung beteiligt, wird vielleicht künftig in der Gruppe geächtet. Das ist zwar nur eine Hypothese. Aber bei Menschen lässt sich diese Form von Retourkutsche mitunter durchaus beobachten. Wer den Ruf hat, hilfsbereit zu sein, den unterstützt man umgekehrt bereitwilliger, sollte er in Not geraten. Wir achten zudem sorgfältig darauf, uns bei der Arbeit mit zuverlässigen Zeitgenossen zu umgeben, wie meine Kollegen Jean-Baptiste André und Nicolas Baumard in mehreren Studien beobachteten.

Werden als Folge des Klimawandels auftretende Mangelsituationen zu einem Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung führen?

Wenn wir die kollektiven Reaktionen in Katastrophensituationen besser verstehen, können wir uns künftig gezielter und befreit von moralischen Auslegungen darauf vorbereiten. Wir werden noch viele Lernmöglichkeiten haben, denn bisher malen wissenschaftliche Studien ein eher düsteres Zukunftsbild. Werden als Folge des Klimawandels auftretende Mangelsituationen zu einem Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung führen? Fachleute vermuten ein derartiges Phänomen bei den Maya zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert. Ihnen zufolge könnten klimatische Veränderungen die Hochkultur nach langen Dürreperioden und daraus resultierenden blutigen politischen Konflikten an den Rand des Untergangs gebracht haben. Auch die Dürren in Syrien in den Jahren 2006 und 2007 sollen zu einer massiven Landflucht in die Großstädte geführt haben, was – so eine heute lebhaft diskutierte These – vielleicht wiederum den Nährboden für den Bürgerkrieg im Jahr 2010 bereitete.

Unser Team hat deshalb ein Projekt namens In Extremis initiiert. Auf diese Weise wollen wir die psychologischen Mechanismen und kausalen Verbindungen in Katastrophensituationen näher beleuchten. Wir konzentrieren uns dabei weniger auf die Konflikte selbst, die letztlich nur das Ergebnis von Veränderungen in unserer Gesellschaft sind. Vielmehr wollen wir in heutigen Dürreregionen einen anderen Parameter untersuchen: das soziale Vertrauen. Darunter verstehen wir die Bereitschaft des Einzelnen, in Beziehungen zu seinen Mitmenschen zu investieren.

Was ist soziales Vertrauen?

Vertrauen birgt ein gewisses Risiko, denn es macht uns vorübergehend verwundbar. Stellen Sie sich vor, Sie teilen eine sensible Information mit einem Kollegen. Das tun Sie in der Annahme, dass er das Erfahrene nicht zu Ihrem Nachteil herausposaunt.

Außerdem beinhaltet Vertrauen eine zeitliche Komponente. Wenn etwa ein Vorgesetzter in die Ausbildung eines jungen Mitarbeiters investiert, verlässt dieser das Unternehmen vielleicht, sobald er genügend Kompetenzen erlangt hat, oder er bleibt und wird ein wertvoller, dankbarer Mitarbeiter. Vertrauen lebt also neben der Risikobereitschaft davon, auf Kosten der direkten Belohnung an eine bessere Zukunft zu glauben.

Soziales Vertrauen ist von Vorteil, wenn eine Gesellschaft Krisen überstehen muss. Doch werden Extremsituationen die beiden Säulen des sozialen Vertrauens – Risikobereitschaft und langfristige Zielsetzung – verstärken oder eher erschüttern? Im letzteren Fall würden Menschen, die sich etwa durch Wassermangel bedroht fühlen, wahrscheinlich auf individualistisches Handeln setzen und auf Kosten anderer ihre eigenen Reserven horten.

Einer der wichtigsten Entscheidungsfaktoren ist das Ausmaß der Gefahr, der wir ausgesetzt sind. Laut unseren Erkenntnissen löst eine mäßige Bedrohung möglicherweise noch keine Hilfsbereitschaft aus. Solange es die Chance gibt, sich selbst der Gefahr einfach zu entziehen, tritt unterstützendes Verhalten seltener auf. Das entspricht den momentan typischen Gegebenheiten hier zu Lande: Die Trockenperioden sind zeitlich begrenzt und auf einige Regionen beschränkt. Waldbrände sind Furcht einflößend, aber in der Regel weit weg. Die meisten Einwohner können sich noch sagen »Das betrifft mich nicht« oder »Man wird eine technische Lösung dafür finden« oder vielleicht sogar »Die Menschheit wird es rechtzeitig schaffen, einen anderen Planeten zu besiedeln«. Ganz egal, ob solche Projekte umsetzbar wären: Schon die Diskussion darüber könnte uns davon abhalten, uns heute durch unseren Einsatz persönlich verwundbarer zu machen, im Vertrauen darauf, dass er sich später auszahlt.

Weiß man hingegen, dass kein Plan B existiert, oder ist man selbst unmittelbar von Waldbrand, Wassermangel oder extremen Hitzewellen betroffen, könnte sich das soziale Vertrauen in der Schicksalsgemeinschaft verstärken. Unser Projekt soll dazu beitragen, die Triebfedern des sozialen Vertrauens rechtzeitig zu aktivieren, die Entscheidungsfähigkeit der Gesellschaft zu verbessern und mit geeigneten Strategien das Schlimmste zu verhindern. Sollten wir uns tatsächlich im Jahr 2043 in einem von Dürre geplagten Paris treffen, werden wir uns hoffentlich gegenseitig helfen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine bearbeitete und gekürzte Übersetzung des Artikels »L’humain, champion de la coopération« in der französischen Zeitschrift »Cerveau&Psycho«.

WEITERLESEN MIT SPEKTRUM - DIE WOCHE

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen »spektrum.de« Artikeln sowie wöchentlich »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Genießen Sie uneingeschränkten Zugang und wählen Sie aus unseren Angeboten.

Zum Angebot

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen

Dezecache, G. et al.: The nature and distribution of affiliative behaviour during exposure to mild threat. Royal Society Open Science 4, 2017

Dezecache, G. et al.: Nature and determinants of social actions during a mass shooting. PLOS ONE, 2021

Drury, J.D.: The role of social identity processes in mass emergency behaviour: An integrative review. European Review of Social Psychology, 2018

Mawson, A.R.: Understanding mass panic and other collective responses to threat and disaster. Psychiatry Interpersonal & Biological Processes 86, 2023

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.