Nähen statt zählen: Merkwürdiger Knochen half vielleicht bei der Lederverarbeitung
Ein ungefähr 40 000 Jahre altes Knochenfragment aus dem Nordosten Spaniens könnte einst als Unterlage für Lederarbeiten gedient haben. Die regelmäßigen, kreisförmigen Einkerbungen entstanden demnach, weil der einstige Benutzer oder die Benutzerin mit einem Feuersteinstichel Löcher in ein Stück Leder schlug, um es anschließend zu vernähen. Der Knochen diente dabei als Arbeitsplattform, die bei jedem Schlag eine Kerbe bekam. Die in Teilen sehr regelmäßige Anordnung der Kerben habe also für sich genommen keinen tieferen Sinn. Sie sei lediglich das Ergebnis der Bemühung des Benutzers um eine besonders regelmäßige Naht, schreiben Luc Doyon von der Université de Bordeaux und Team im Fachblatt »Science Advances«.
Immer wieder schlagen Fachleute vor, dass regelmäßige Markierungen auf steinzeitlichen Artefakten eine eigene Funktion gehabt hätten, etwa als Zählmarken oder zur Verzierung des Gegenstands. Häufig gibt es auch gute Gründe für diese Annahme, zum Beispiel weil das Fundstück in einer Form geschnitzt oder auch anderweitig verziert ist. Insgesamt legen diese Deutungen nahe, dass moderne Menschen – und womöglich sogar deren nahe Verwandten – bereits sehr früh zu abstraktem, mathematischem Denken in der Lage waren.
Ein Fundstück wie der Knochen der aktuellen Studie, der am Fundplatz Canyars zum Vorschein kam und zur altsteinzeitlichen Kultur des Aurignaciens gehört, erfüllt diese Bedingungen nicht: Er ist weder geschnitzt noch verziert, zudem ist nur ein Teil der Vertiefungen regelmäßig angeordnet. Tests an modernen Knochen ergaben, dass die Kerben am ehesten mit einem typischen Steinwerkzeug des Aurignaciens, einem Stichel mit dreieckiger Spitze, erzeugt wurden. Andere Werkzeuge wie zum Beispiel Knochenahlen brachen ab oder hinterließen andere Spuren.
Doyon und sein Team ließen darum 17 Freiwillige mit Hilfe eines Feuersteinstichels und einer Rinderrippe als Unterlage Löcher in ein Stück Leder schlagen. Wenn die Teilnehmer einen weichen Hammer verwendeten, ergaben sich dieselben Vertiefungen wie auf dem steinzeitlichen Knochen. Auch eine regelmäßige Punktreihe bekamen die Freiwilligen hin, wenn sie darum gebeten wurden.
Für den Forscher und seine Kollegen liegt es also nahe zu vermuten, dass die ursprünglichen Verwender des Knochenfragments damit Lederarbeiten durchführten. Sie nehmen an, dass die Menschen des Aurignaciens im Grunde genauso vorgingen wie heutige Schuster: Wenn diese kräftiges Leder vernähen wollen, stanzen sie zunächst entlang der Naht mit einem Locheisen viele kleine Löcher vor und ziehen anschließend festes Garn durch. Der Unterschied zu damals liegt wohl in der Verwendung einer Nadel mit Öhr, die erst 15 000 Jahre später erstmals belegt ist. Aber auch ohne sie lassen sich passgenaue Kleidungsstücke herstellen, das Nähgarn muss dann eben anderweitig durch die Löcher gezogen werden.
Lederkleidung zuzuschneiden und zu vernähen könnte nach Meinung des Autorenteams eine Schlüsselfähigkeit des modernen Menschen bei der Anpassung an wechselnde Verhältnisse gewesen sein. Seinerzeit veränderte sich über die Jahrtausende hinweg das Klima teils dramatisch und zwang die Menschen, sich immer wieder eine neue Heimat zu suchen und in neue Gebiete zu wandern.
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