Direkt zum Inhalt

Genomsequenzierung: Am Ende einer diagnostischen Odyssee

Eine Genanalyse einzelner Patienten ist mittlerweile nicht nur möglich, sondern auch nützlich - und manchmal rettet sie schon Leben. Aber sind allzu große Hoffnungen noch verfrüht?
DNA

Als die Zwillinge Alexis und Noah Beery 14 Jahre alt waren, änderte sich ihr Leben durch DNA-Sequenzierung. Was sie bis dahin hinter sich hatten, gleicht einer medizinischen Odyssee. Von Geburt an litten sie unter schweren Bewegungsstörungen, und kein Arzt konnte der Familie Beery sagen, woran das lag. Im Alter von zwei Jahren erhielten sie die Diagnose Zerebralparese, aber das erklärte nicht alle Symptome der Kinder, und die Therapien halfen nur vorübergehend. Drei Jahre später bekamen sie eine neue Diagnose: Segawa-Syndrom, eine seltene Erbkrankheit, bei der die Produktion des Neurotransmitters Dopamin gestört ist. Die Behandlung mit L-Dopa, einer Vorstufe von Dopamin, bewirkte Wunder. Doch als die Zwillinge schon fast geheilt schienen, stellten sich neue Probleme ein: Zittern und Aufmerksamkeitsstörungen bei Noah und – schlimmer noch – Atemprobleme bei Alexis, die mehrfach beinahe zum Ersticken führten.

Im Jahr 2010 schlugen die Beerys, gemeinsam mit Wissenschaftlern am Baylor College of Medicine in Houston, Texas, einen bis dahin recht ungewöhnlichen Weg ein: Sie unterzogen die ganze Familie einer "Exom-Sequenzierung". Unter "Exom" versteht man die zwei Prozent des Genoms, die genetische Information für die Proteine enthalten. Die große Mehrheit der bisher bekannten genetisch bedingten Erkrankungen wird durch eine Sequenzveränderung in diesen proteinkodierenden Bereichen hervorgerufen. Um zu vergleichen, wie sich die DNA der Zwillinge von der ihrer Eltern und ihres gesunden Bruders unterscheidet, wurden diese ebenfalls sequenziert.

60 Tage nach der Sequenzierung lag das Ergebnis vor: Die Zwillinge tragen eine Mutation in einem Gen namens SPR. Ihnen fehlt es damit an einem Protein, das nicht nur bei der Herstellung von Dopamin, sondern auch von Serotonin eine Rolle spielt. Neben L-Dopa bekamen die jungen Patienten nun auch noch einen Vorläuferstoff von Serotonin. Seitdem sind sie symptomfrei – für Alexis war die Exom-Sequenzierung vermutlich lebensrettend.

Exom-Sequenzierung zu Diagnosezwecken ist noch recht neu, die Beerys gehören zu den Pionieren. Erst vor sechs Jahren veröffentlichten Wissenschaftler zum ersten Mal eine erfolgreiche Diagnose mit diesem Verfahren. Nun aber boomt das Forschungsfeld, denn gerade bei seltenen genetisch bedingten Erkrankungen ist dies oft die letzte Hoffnung, eine Diagnose zu erhalten. Es bilden sich große interdisziplinäre Zentren zur Erforschung von Erbkrankheiten, wie die Centers for Mendelian Genomics in den USA oder Initiativen Finding of Rare Disease Genes in Kanada ) und der Wellcome Trust Deciphering Developmental Disorders im Vereinigten Königreich. Gemeinsam haben sie schon die Exome von tausenden Patienten sequenziert.

Viele Menschen, die an seltenen genetischen Erkrankungen leiden, durchlaufen eine ähnliche medizinische Odyssee wie die Beery-Zwillinge. Mehr als 7000 verschiedene Erkrankungen, die auf Veränderungen in nur einem der etwa 22 000 Gene des Menschen zurückzuführen sind, wurden bisher beschrieben – so genannte monogene Erkrankungen. Die Zahl der noch unbekannten monogenen Erkrankungen ist vermutlich ähnlich hoch. Ein großer Teil dieser Erkrankungen ist sehr selten, manchmal sind weltweit nur wenige Menschen davon betroffen. Darüber hinaus sind sich viele der Erkrankungen in ihrem Erscheinungsbild recht ähnlich, was die Diagnose zusätzlich erschwert. Es mag also nicht verwundern, dass selbst hoch qualifizierte Spezialisten oft ratlos bleiben. Haben die Ärzte einen Verdacht, werden in der Regel einzelne Kandidatengene sequenziert. In über 50 Prozent der Fälle werden genetische Erkrankungen mit diesen Methoden jedoch nicht aufgeklärt.

Keine Prognose ohne Diagnose

Das hat dann Folgen. "Es werden teilweise unnötige oder falsche Behandlungen auf Grund klinischer Fehleinschätzung vorgenommen", sagt Frank Kaiser, Professor für Humangenetik an der Universität Lübeck. Außerdem gibt es ohne Diagnose auch keine Prognose über den weiteren Verlauf der Erkrankung, und auch das Risiko einer Erkrankung bei weiteren Schwangerschaften lässt sich nicht vorhersagen. "Solange ich keine molekulargenetische Diagnose habe, kann ich mich dazu gar nicht äußern", meint Kaiser. Zwar führt eine Diagnose nicht immer, wie bei den Beery-Zwillingen, auch zu einer Therapie – hilfreich ist sie dennoch.

Zwei Studien aus dem Jahr 2014 attestieren der Exom-Sequenzierung gute Erfolgsquoten. Wissenschaftler am Baylor College berichteten von einer Diagnoserate von etwa 25 Prozent bei den rund 2000 Patienten, die zwischen 2012 und 2014 zur Exom-Sequenzierung an ihr Zentrum überwiesen wurden. Angesichts der Tatsache, dass die meisten dieser Patienten schon etliche andere Untersuchungen hinter sich und noch keine Diagnose in der Hand hatten, ist das eine beträchtliche Leistung. Die andere Studie von Wissenschaftlern der University of California zeigte, dass die Erfolgsrate noch höher ist und bei 31 Prozent liegt, wenn die Exome der Eltern der Patienten ebenfalls sequenziert wurden. In Zukunft dürfte sich die Erfolgsquote sogar noch steigern, denn es werden ständig neue Gene entdeckt, die Erkrankungen verursachen können. Bis Ende 2014 wurden mit Hilfe der Genom- und Exom-Sequenzierung mehr als 500 neue Gene als Ursachen für Erkrankungen identifiziert .

Allerdings ist die Exom-Sequenzierung zu Diagnosezwecken noch nicht jedem zugänglich. Das Verfahren beruht auf neuen Technologien, die man Next Generation Sequencing (NGS) nennt. "Im Gegensatz zu vielen europäischen Nachbarländern haben wir in Deutschland das Problem, dass Next Generation Sequencing als Diagnoseverfahren nicht zugelassen ist. Exom-Sequenzierung wird von den Krankenkassen also nicht bezahlt", sagt Kaiser. "Ich weiß nicht, woran es da hakt. Aber es läuft darauf hinaus, dass Exom-Sequenzierung nur im Rahmen von Forschungsprojekten stattfinden kann."

Während man früher DNA-Strang für DNA-Strang vorging, kann man jetzt, mit Methoden des NGS, mehrere Tausend bis Millionen von Strängen gleichzeitig verarbeiten. Dadurch ist die Sequenzierung wesentlich schneller und kostengünstiger geworden. Als vor gut zehn Jahren die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gefeiert wurde – damals handelte es sich um ein Gemisch mehrerer Einzelpersonen –, hatte das Projekt noch rund drei Milliarden US-Dollar verschlungen und 13 Jahre gedauert. Die Sequenzierung der ersten beiden individuellen Genome wurde in den Jahren 2007 und 2008 publiziert und kostete, je nach Verfahren, rund 100 Millionen beziehungsweise 1,5 Millionen US-Dollar. Heute sind die Preise auf unter 2000 Dollar gefallen – und es dauert nur noch wenige Wochen, um die Genome oder Exome einer ganzen Familie zu sequenzieren.

"In Deutschland ist das Diagnoseverfahren nicht zugelassen. Ich weiß nicht, woran es da hakt"Frank Kaiser

NGS hat für die Diagnostik noch einen weiteren Vorteil: Es ist wesentlich sensitiver als herkömmliche Sequenziermethoden. Bei vielen genetischen Erkrankungen treten so genannte Mosaike auf; die krank machende Mutation ist nicht in allen, sondern nur in einigen Körperzellen zu finden und kann mit der herkömmlichen Sequenzierung von DNA aus Blutzellen oftmals nicht eindeutig oder gar nicht detektiert werden. Cornelia-de-Lange-Syndrom, das Spezialgebiet von Kaiser, ist eine solche Krankheit. "Auch bei den gesunden Eltern können solche krankheitsursächlichen Mutationen schon als Mosaik vorhanden sein", sagt Kaiser. "Das wirkt sich dann auf die Berechnung des Wiederholungsrisikos bei weiteren Kindern aus. Und das ist, was die Eltern am meisten interessiert."

Next Generation Sequencing und Exom-Sequenzierung haben das Potenzial, die Diagnose seltener genetischer Erkrankungen grundlegend zu revolutionieren. "In zehn Jahren werden die meisten bekannten monogenen Erkrankungen aufgeklärt sein – so die Ursache im proteinkodierenden Bereich liegt", meint Kaiser. Für viele Patienten mit seltenen Erkrankungen wird dann die diagnostische Reise sehr viel kürzer ausfallen. Darüber hinaus liefert die Information über die genetischen Ursachen einer Erkrankung Ansatzpunkte für die Entwicklung neuer Therapien.

Getan ist die Arbeit für die Humangenetiker damit natürlich noch nicht, das Genom wird der Wissenschaft noch lange Rätsel aufgeben. "Man wird sich stärker für die regulatorischen Bereiche interessieren. Exom-Sequenzierung ist dann antiquiert, man wird nur noch Genome sequenzieren", sagt Kaiser. Darüber hinaus wird man noch lange daran arbeiten, die genetischen Grundlagen auch komplexer Erkrankungen zu verstehen – solche, bei denen nicht ein einzelnes Gen eine Krankheit verursacht, sondern sehr viele genetische Faktoren das Risiko einer Erkrankung jeweils minimal erhöhen. Das ist bei den meisten Volkskrankheiten der Fall: bei Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes, psychischen Erkrankungen oder Alzheimer. "Das komplexe Zusammenspiel der einzelnen genetischen Varianten wird in den Vordergrund rücken", so Kaiser.

Das ist noch Zukunftsmusik – die Aufklärung monogener Erkrankungen hingegen schon Realität. Auch mit einem besseren Verständnis seltener monogener Erbkrankheiten ist viel gewonnen, denn obwohl die meisten genetischen Erkrankungen selten sind, stellen sie doch in ihrer Gesamtheit ein gesundheitliches Problem von beträchtlichem Ausmaß dar. Etwa acht Millionen Kinder werden jedes Jahr weltweit mit schweren genetischen Erkrankungen geboren – Erkrankungen, die lebensbedrohlich sind oder zu schweren Behinderungen führen können.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.