Direkt zum Inhalt

Angriff auf die Ukraine: Trauma Krieg

Krieg und Vertreibung sind traumatisierend. Wie kann die Psyche solch schreckliche Erfahrungen verwinden? Was vielen Geflüchteten hilft: reden statt zu verdrängen.
Bombardiertes Gebäude in Charkiw in der Ukraine am 9. März 2022

Zerbombte Wohnhäuser, heulende Sirenen, düstere Schutzkeller – teilweise ohne Strom und Wasser: Millionen Menschen in der Ukraine erleben gerade, was es bedeutet, im Krieg zu sein. Mehr als 500 Personen sind nach Angaben der UN-Menschenrechtskommission infolge der russischen Invasion bereits gestorben, mehr als 900 wurden verletzt und mehr als zwei Millionen Menschen sind laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk bislang geflohen.

Die meisten Geflüchteten hat bisher das Nachbarland Polen aufgenommen, rund 80 000 sind nach Zählung der Bundespolizei mittlerweile in Deutschland angekommen. Es handle sich um die »am schnellsten wachsenden Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg«, schrieb das Flüchtlingshilfswerk am 7. März 2022 auf Twitter. Gleichzeitig sitzen immer noch etliche Menschen in umkämpften Städten wie Mariupol fest, für die bislang keine Fluchtkorridore eingerichtet werden konnten. Sie kämpfen nicht nur mit den russischen Soldaten, sondern zunehmend mit Versorgungsengpässen: Es fehlt an Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten.

Solche Erlebnisse hinterlassen oft tiefe Spuren in der Psyche der Betroffenen: Sie werden von vielen als traumatisierend erlebt. Wie hält man das aus? Wie lassen sich die Folgen eines Traumas abmildern? Und was kann man also tun, um Geflüchteten zu helfen?

Das Bewusstsein abspalten: Wie Traumata entstehen

Der Begriff »Trauma« (griechisch für »Wunde«) bezeichnet in der Psychologie eine seelische Verletzung, die Menschen durch außergewöhnliche Belastungssituationen erhalten, in denen ihr eigenes Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit – oder die einer ihnen nahestehenden Person – akut bedroht gewesen ist. Beispiele für solche Ereignisse sind schwere Unfälle oder Erkrankungen, Naturkatastrophen, sexuelle Gewalt oder eben Krieg.

Für Körper und Psyche bedeuten solche Erlebnisse enormen Stress. Noch während des Geschehens können die ersten Anzeichen einer akuten Belastungsreaktion einsetzen. Das Herz beginnt zu rasen, man schwitzt, hat das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Gleichzeitig distanzieren sich die Betroffenen innerlich von dem Erlebten, fühlen sich wie betäubt, nehmen die Situation als unwirklich oder wie von außen betrachtet wahr. Psychologen sprechen in diesem Fall auch von einer Dissoziation: Die Betroffenen spalten instinktiv einen Teil ihres Bewusstseins ab, um die eigene Psyche zu schützen. Später können Gereiztheit, Angst, Wut, Trauer und Verzweiflung hinzukommen.

Hilfe für Betroffene

Die Telefonseelsorge ist für alle Menschen da, die von Krisen betroffen sind, oder aus anderen Gründen psychische Unterstützung benötigen. Sie berät kostenfrei, anonym und rund um die Uhr per Telefon unter 0800 1110111 oder 0800 1110222, per Mail und im Chat.

Kinder und Jugendliche finden zusätzlich Hilfe bei der Nummer gegen Kummer unter 116 111.

Die Telefonseelsorge »Doweria« berät Menschen auf Russisch. Sie ist erreichbar unter 030 440308 454.

Das »Zentrum Überleben« unterstützt traumatisierte Flüchtlinge unter 030 3039060 dabei, medizinische und therapeutische Hilfe erhalten.

Deutsche, die sich in der Ukraine aufhalten, können sich an die Krisenhotline des Auswärtigen Amts wenden unter +49 30 5000 3000.

Unterstützung bei der Suche nach qualifizierten Traumatherapeuten und -therapeutinnen für Erwachsene und Kinder bietet die TherapeutInnen-Suche der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie.

Weitere Hilfsangebote für spezifische Personengruppen finden Sie auch auf der Internetseite der Bundesregierung.

In den meisten Fällen lassen diese Symptome nach kurzer Zeit von selbst nach. Halten sie jedoch über Wochen und Monate an oder tauchen erst verzögert auf, kann das ein Zeichen für eine Traumafolgestörung wie eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sein. Ebenso sind Depressionen, Angst- oder Essstörungen mögliche Nachwirkungen eines Traumas.

Bis zu 40 Prozent der Kriegsflüchtlinge betroffen: PTBS als häufigste Traumafolge

Krieg und Vertreibung traumatisieren Menschen besonders häufig nachhaltig: Etwa 20 bis 40 Prozent aller Kriegsflüchtlinge entwickeln im Anschluss eine Posttraumatische Belastungsstörung. Dabei erleben die Betroffenen das Geschehen ungewollt vor ihrem inneren Auge wieder und wieder – zum Beispiel in Form von Albträumen oder Flashbacks. Auslöser können vergleichsweise harmlose Dinge sein wie ein lautes Geräusch, das die Betroffenen an einen Schuss oder eine Explosion erinnert, oder eine Sirene, die wie ein Fliegeralarm klingt. Viele Patientinnen und Patienten mit PTBS versuchen deshalb instinktiv, Situationen zu meiden, die sie an das Geschehene erinnern, und unterdrücken jegliche Gedanken daran. Sie fühlen sich oft emotional taub, sind reizbar, schreckhaft, unruhig und nervös. Auch Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen können auftreten.

Die Wahrscheinlichkeit, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, steigt mit jedem weiteren erlebten Trauma

Ob jemand letztlich eine Posttraumatische Belastungsstörung oder eine andere Erkrankung entwickelt, hängt nicht nur von der Art und der Intensität des Traumas ab. Zahlreiche andere Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle. So deuten Studien zwar darauf hin, dass negative Lebensereignisse, die erfolgreich überwunden wurden, Menschen im Umgang mit Krisen stärken können. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, mit jedem weiteren erlebten Trauma. Das könnte einer der Gründe sein, warum Kriegsflüchtlinge besonders anfällig für Traumafolgestörungen sind: Während oder nach ihrer Flucht werden sie oft mit zahlreichen weiteren Bedrohungssituationen konfrontiert, seien es unsichere Fluchtrouten, Gewalterfahrungen oder Misshandlungen.

Wie sehr ein Trauma nachwirkt, hängt deshalb entscheidend davon ab, wie sich das Leben der Betroffenen im Anschluss entwickelt: Findet eine Person nach Krieg und Flucht schnell ein neues Zuhause? Erhält sie soziale und emotionale Unterstützung? Wird sie gut in die Gesellschaft integriert? Oder harrt sie monate-, gar jahrelang mit unklarem Aufenthaltsstatus in einem überfüllten Flüchtlingslager aus, in dem es immer wieder zu Spannung und Unruhen kommt?

Optimismus vs. Verdrängung: Welchen Rolle persönliche Verarbeitungsstrategien spielen

Wie gut jemand schreckliche Erlebnisse überwindet, wird auch von persönlichen Verarbeitungsstrategien beeinflusst. So deuten Untersuchungen etwa darauf hin, dass Humor, Optimismus und die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, Menschen die Fähigkeit verleihen, schwierige Lebenssituationen ohne seelische Narben zu überstehen; sie also resilienter machen. Ein Hang zur Spiritualität kann die Folgen von Traumata ebenfalls abmildern: Viele Menschen finden in schwierigen Situationen Halt in ihrem Glauben und ziehen daraus die Kraft, weiterzumachen.

Langfristig leiden vor allem jene Personen unter Traumafolgen, die das belastende Ereignis als zentralen Teil ihrer Biografie betrachten. Darauf deuten Untersuchungen an Menschen hin, die den Terroranschlag auf der norwegischen Insel Utøya im Jahr 2011 überlebt haben. Zudem erinnern sich PTBS-Patientinnen und -Patienten meist lebhafter und detailreicher an das Geschehene, machen sich aber gleichzeitig weniger Gedanken darüber und bemühen sich weniger um eine Einordnung oder Interpretation.

Ein zentraler Bestandteil von Traumatherapien ist deshalb üblicherweise die behutsame Konfrontation mit dem Erlebten. Dabei arbeitet der Therapeut oder die Therapeutin das Geschehene gemeinsam mit der betroffenen Person auf und hilft, sowohl den Teufelskreis der Vermeidung zu durchbrechen als auch die Kontrolle über die Erinnerungen zurückzugewinnen. Solch professionelle Hilfe sollte sich in jedem Fall suchen, wer auch Wochen oder Monate später noch unter Angst, Gereiztheit oder Unruhe leidet, raten Experten. Und genauso brauchen Menschen, die nach dem Ereignis derart neben sich stehen, dass sie nicht mehr für sich selbst oder ihre Kinder sorgen können, oder die eine Gefahr für sich und andere darstellen, unbedingt professionelle Soforthilfe. Erste Ansprechpartner sind dabei Hausärzte, niedergelassene Psychotherapeuten und Psychiater sowie Notdienste von Kliniken (siehe »Hilfe für Betroffene«).

Wenn die Kinderseele leidet

Naturkatastrophen, Krankheiten, Gewalt oder Krieg wirken sich auch auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen aus. Hunderttausende Flüchtlinge aus der Ukraine sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk Jungen und Mädchen. Werden Kinder und Jugendliche durch ein traumatisches Erlebnis von ihren Bezugspersonen getrennt oder aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen, wirkt sich das in der Regel besonders negativ auf sie aus – je jünger die Kinder, desto stärker. Flüchtlingskinder aus Syrien entwickeln beispielsweise in rund 38 Prozent aller Fälle eine psychische Erkrankung, wie ein Team der Technischen Universität München 2015 berichtete. 22 Prozent der unter 14-Jährigen zeigten dabei Anzeichen einer Posttraumatische Belastungsstörung.

Da Kinder nicht immer von sich aus über das Geschehene oder ihre Gefühle reden, sollten Erwachsene auf sie besonders Acht geben, um Traumata zu erkennen. Diese können sich bei den Jungen und Mädchen zum Beispiel durch Gedächtnislücken und Konzentrationsschwierigkeiten äußern. Ebenso können Kopf- oder Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen oder Bettnässen darauf hinweisen, dass etwas nicht stimmt. Das Verhalten von Kindern ändert sich nach einem traumatischen Erlebnis oft. So haben sie etwa ein gesteigertes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, weinen viel, sind ängstlich und haben Schwierigkeiten, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen oder Freundschaften zu knüpfen. Aggressives Verhalten kann ebenfalls die Folge eines Traumas sein.

Wie bei Erwachsenen ist es auch für Kinder und Jugendliche wichtig, über das Erlebte zu sprechen und es in die eigene Biografie einzuordnen. Eltern sollten es deshalb vermeiden, über die Ereignisse zu schweigen und sich einzureden, die Kinder seien noch »zu klein« gewesen, um alles mitzubekommen.

Reden und reden lassen: Was Betroffene und Angehörige tun können

Obwohl es kein Patentrezept für Resilienz gibt, können bestimmte Denk- und Verhaltensweisen dazu beitragen, die Folgen von Krisen abzumildern. Oft hilft schon etwas Wissen darum, wie das menschliche Gedächtnis arbeitet und was einen erwarten kann. Dass sich aufdrängende Erinnerungen und das Wiedererleben des Ereignisses normal sind und dass diese Reaktionen meistens im Lauf der Zeit nachlassen, wie die Wissenschaftlerin Ines Blix, die damals die Überlebenden der Attentate in Norwegen untersuchte, im Buch »Nach Seepferdchen tauchen« erklärt.

Die Psychotherapeutenkammer Niedersachsen rät gemeinsam mit der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig in einer Handreichung für Betroffene von Traumata, Zeit mit anderen Menschen zu verbringen und über das Geschehene zu reden. Positiv können sich zudem unter anderem ausreichend Schlaf, gesunde Mahlzeiten, Bewegung, Tagebuch schreiben und der Versuch, einen normalen Tagesablauf aufrechtzuerhalten, auswirken. Als Entspannungstechniken kommen beispielsweise Meditation, Atemübungen oder beruhigende Selbstgespräche in Frage. Ungünstige Bewältigungsstrategien seien hingegen, das Ereignis zu verdrängen, sich zurückzuziehen, Schuldige zu suchen oder die eigenen Gefühle mit Alkohol und Drogen zu betäuben.

Wer helfen will, kann die Betroffenen trösten und ihnen zuzuhören – ohne dabei jedoch aufdringlich zu sein oder jemanden zum Reden zu zwingen

Und was ist mit denen, die Geflüchteten helfen wollen, ihre schreckliche Erfahrungen zu überwinden? Jede und jeder kann etwas tun. Dabei ist es zunächst ratsam, Betroffenen praktische Unterstützung anzubieten: Braucht jemand Wasser und Lebensmittel, Kleidung, Windeln? Ist bekannt, welche Formulare auszufüllen sind? Möchte man Verwandte kontaktieren? Zudem kann man die Menschen trösten und ihnen zuzuhören – ohne dabei jedoch aufdringlich zu sein oder jemanden zum Reden zu zwingen, schreibt das Österreichische Rote Kreuz in seinem Handbuch zur psychologischen Ersten Hilfe.

Wichtig ist, nicht zu versuchen, alle Probleme selbst zu lösen. Besser und nachhaltiger ist es, den Betroffenen zu helfen, sich selbst zu helfen. Das erleichtert es ihnen, nach und nach die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen.

Hilfe für Betroffene

Die Telefonseelsorge ist für alle Menschen da, die von Krisen betroffen sind, oder aus anderen Gründen psychische Unterstützung benötigen. Sie berät kostenfrei, anonym und rund um die Uhr per Telefon unter 0800 1110111 oder 0800 1110222, per Mail und im Chat.

Kinder und Jugendliche finden zusätzlich Hilfe bei der Nummer gegen Kummer unter 116111.

Die Telefonseelsorge »Doweria« berät Menschen auf Russisch. Sie ist erreichbar unter 030 440308 454.

Das »Zentrum Überleben« unterstützt traumatisierte Flüchtlinge unter 030 3039060 dabei, medizinische und therapeutische Hilfe erhalten.

Deutsche, die sich in der Ukraine aufhalten, können sich an die Krisenhotline des Auswärtigen Amts wenden unter +49 30 5000 3000.

Unterstützung bei der Suche nach qualifizierten Traumatherapeuten und -therapeutinnen für Erwachsene und Kinder bietet die TherapeutInnen-Suche der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie.

Weitere Hilfsangebote für spezifische Personengruppen finden Sie auch auf der Internetseite der Bundesregierung.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.