100 Jahre Roter Oktober: Angst vor der eigenen Geschichte
"Die Vergangenheit ist nach wie vor ein Schlachtfeld, das immer neu umgepflügt wird", schrieb Maria Stepanowa in einem Artikel in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 25. April 2017. Unter dem Titel "Russlands Sinn und Irrsinn" konstatiert die Moskauer Chefredakteurin des Kulturportals "colta.ru", dass Geschichte in Russland eine Frage der Erfindung sei. Nie gehe es um Wahrheit, "sondern immer nur um das, was die Machthaber dem Volk gerade verordnen wollen". Das sich in diesen Tagen zum 100. Mal jährende Jubiläum der Oktoberrevolution ist dafür ein Paradebeispiel.
Der 25. Oktober, laut gregorianischem Kalender der 7. November, galt lange Zeit als ein fester Bestandteil der russischen Erinnerungskultur. Jahr für Jahr gedachte die Sowjetunion landesweit mit großem Pomp der Oktoberrevolution 1917, um im kollektiven Gedächtnis die Erinnerung an diesen Tag wachzuhalten, an dem die Bolschewiki unter der Führung Lenins gewaltsam die Macht im Staat übernahmen.
Welchen Platz nehmen das Epochenjahr 1917 und ihr Hauptprotagonist Wladimir Iljitsch Lenin in der russischen Erinnerungskultur überhaupt ein?
Bolschewistische Camouflage
Der zehnte Jahrestag der Oktoberrevolution – ihr Hauptprotagonist war bereits mehr als drei Jahre tot und das im Ersten Weltkrieg territorial dezimierte Zarenreich in Gestalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wiedererstanden – galt ganz dem Heldengedenken an den Roten Oktober. Damit gab bereits die erste Dekade der Erinnerung an die große sozialistische Oktoberrevolution ein gewisses Grundmuster vor, welche legitimitätsstiftende Bedeutung dieser Tag für die kommunistische Herrschaft und deren Repräsentanten zukünftig einnehmen soll.
Für die Bolschewiki bot dieser Jahrestag 1927 ein geeignetes Forum, um ihr Selbstbild als einer heroischen Kampfgemeinschaft öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen und einen Mythos zu schaffen, der die kommunistische Herrschaft für die Massen legitimieren sollte. Allerdings war dieses Selbstbild von Anfang an nichts anderes als eine "bolschewistische Camouflage", um die historische Realität zu verschleiern, so Dietrich Beyrau, vormaliger Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Tübingen.
Stalin – usurpierte Revolution
Im November 1937 glich die UdSSR kaum noch dem Land, das im November 1927 den zehnten Jahrestag der Revolution begangen hatte. Josef Stalin, der den Terror zum Machtprinzip erklärt hatte, hatte die Partei auf Linie gebracht und ideologisch neu ausgerichtet. Stand für Lenin die kommunistische Weltrevolution primär auf der politischen Agenda, hatte Stalin nach dem Tod des Revolutionsführers den Aufbau und die Sicherung des Sozialismus im eigenen Land zur Chefsache erklärt. Diese Maxime des "Sowjetunion first", die darauf abzielte, den Agrarstaat ins Industriezeitalter zu katapultieren, wurde seit 1929 mit ehrgeizigen Fünfjahresplänen mit aller Macht und ohne Rücksicht auf Verluste vorangetrieben.
Dementsprechend standen die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution ganz im Zeichen des Fortschritts. Anders als zehn Jahre zuvor, als die Symbolik der Gedenkfeiern noch direkt auf die Heldentaten während der Revolution und auf den Bürgerkrieg verwiesen hatte, zeigte die Choreografie des Jubiläums am 7. November 1937 ein Land, das nach Aussage seiner Regierenden einen großen Sprung nach vorne gemacht hatte. Die "Literaturnaja Gaseta" brachte dies auf den Punkt: "Nie zuvor hat die Nation das Datum der Großen Oktoberrevolution mit so viel Feierlichkeit und Jubel begangen wie an diesem 20. Jahrestag."
1937 waren die unter Stalin eingeleiteten radikalen sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse, mit denen der Kremlchef die Modernisierung des Landes vorantrieb, weitgehend abgeschlossen. Die Gedenkfeier zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution bildete den Rahmen, in dem sie präsentiert wurde. Zentraler Teil der Feierlichkeiten stellte die mit großem militärischem Pomp begangene Truppenparade auf dem Roten Platz dar, die als Leistungsschau für die industrielle und militärische Stärke der aufstrebenden Sowjetunion verstanden werden darf, so der spanische Historiker José M. Faraldo, der die Feiern von 1937 als Siegesfeier des Stalinismus bezeichnet.
Stalins Nachfolger als Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, versuchte seine Herrschaft auf dem XX. Parteitag (14.-25. Februar 1956) durch eine selektive Verurteilung der Verbrechen seines Vorgängers abzusichern. Sie ermöglichte erstmals wieder eine marxistische Debatte über die Grundlagen der Russischen Revolution und ihre ambivalenten Folgen für Russland. Das Schlagwort "Zurück zu Lenin" passte zur Kritik am Stalinismus, für die man den Revolutionsführer zum Kronzeugen machte. Etwa durch dessen "Testament", einer zuvor unter Verschluss gehaltenen Schrift, in der er sich kurz vor seinem Tod kritisch mit Stalin und anderen politischen Größen seiner Zeit auseinandersetzte.
Allerdings erlag auch der dritte Sowjetführer, wie nach ihm alle anderen Kremlherren bis hin zu Gorbatschow, dem Irrglauben, die leninistische Staats- und Gesellschaftsform sei für die Sowjetunion das einzig zukunftsweisende Gesellschaftsmodell und lediglich von Stalin in Misskredit gebracht worden.
Breschnew – schwindender Revolutionseifer
Die Feiern zum 60. Jahrestag der Revolution waren eher verhalten und beinahe unpolitisch. Die Presse berichtete über das Ereignis recht spärlich und auch für die Parteiführung schien das Jubiläum an die Große Oktoberrevolution nur eine reine Pflichterfüllung zu sein. Glaubt man der an der University of Bristol lehrenden Historikerin Juliane Fürst, lag diese Apathie an einer gewissen Revolutionsmüdigkeit, die sich in der Ära Breschnew unter den Sowjetbürgern breitgemacht hatte.
Das kommunistische System hatte sich in den 1970er Jahren gefestigt, gleichzeitig kam es zu einer Erstarrung des sowjetischen Systems, das immer weniger in der Lage schien, sich von innen heraus zu erneuern. Diese in der Forschung mit dem Begriff der "Stagnation" beschriebene Situation in der spätsozialistischen Breschnew-Ära war nach Ansicht des russischen Historikers Artemy Kalinowski mit ein Grund für den allgemein erlahmenden Revolutionseifer. Hinzu kam, dass der Apparatschik Breschnew kein Freund ideologischer Kampagnen war.
In seiner Rede zum 60. Jahrestag rief der Generalsekretär des ZK der KPdSU die Sowjetbürger auf, Frieden und sozialen Fortschritt zu bewahren, sich technisch weiterzubilden, sich ideologisch zu engagieren und sich hinter die Partei zu stellen. Für einen Epigonen der Bolschewiki von 1917, "die einst zur Weltrevolution aufriefen und im erbarmungslosen Kampf gegen Zögernde die Zukunft der Revolution sahen" (Fürst), klang das sehr moderat.
Einen Monat vor dem Revolutionsjubiläum 1977 legte Breschnew eine neue Verfassung vor, die den "nichtrevolutionären Status der Revolution" betonte. Nicht mehr darin festgeschrieben war die Diktatur des Proletariats. Staat und Partei repräsentierten fortan nicht mehr nur die Arbeiter und Bauern, sondern das gesamte Volk.
Allerdings, so Juliane Fürst, beraubte Breschnew die Revolution nicht ganz ihrer emotionalen Kraft. Um die Gefühlsbindung der Sowjetbürger mit ihrem Staat zu stärken, koppelte er die glorreiche Revolution mit einem anderen historischen Ereignis, das viel besser geeignet war, sich mit dem Staat zu identifizieren: Der heroische Kampf im "Großen Vaterländischen Krieg". Dieser gemeinsame Waffengang, der auf sowjetischem Boden ausgefochten wurde, und den die Bevölkerung mit einem hohen Blutzoll von rund 27 Millionen Toten bezahlt hatte, berührte quasi die ganze Nation und war deshalb im kollektiven Gedächtnis der Sowjetbürger viel präsenter als jenes lokale Ereignis, das sich vor 60 Jahren am westlichen Rand des Imperiums zugetragen hatte. Es war diese Entscheidung, vermittels des Zweiten Weltkriegs auf Patriotismus statt auf Bolschewismus zu setzen, die 40 Jahre später in national übersteigerter Form zum Leitmotiv des Revolutionsgedenkens unter Wladimir Putin werden sollte.
Gorbatschow – bröckelnder Revolutionsmythos
Selbst der – vor allem im Westen – als Reformer gefeierte Michail Gorbatschow knüpfte zu Beginn seiner Regierungszeit noch an den traditionellen sowjetischen Gründungsmythos an. In seiner Kremlrede 1987 "Oktober und Perestroika: Die Revolution geht weiter" nannte er die Stalinzeit eine tragische Verirrung der sowjetischen Geschichte und propagierte – wie Nikita Chruschtschow – einen Kurs "zurück zu Lenin".
Aus der großen sozialistischen Oktoberrevolution wird der "Tag der Eintracht und Versöhnung"
Trotz dieser ideologischen Anbindung an die Galionsfigur der Oktoberrevolution kam es im Zuge von Perestroika und Glasnost zu einem politischen Tauwetter, das erstmals auch zu einer Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte führte. Dokumente, die jahrzehntelang in der UdSSR unter Verschluss gehalten wurden, gelangten sukzessive ans Licht der Öffentlichkeit. Maßgeblichen Anteil an dieser "Archivrevolution" hatte der Historiker Dmitri Wolkogonow, in dessen Amtszeit als Leiter der Kommission für die Freigabe von Staats- und Parteidokumenten (1991-1993) mehr als 78 Millionen Akten zugänglich gemacht wurden. Erstmals erfuhr die Bevölkerung die historische Wahrheit über das kommunistische Terrorsystem und über die Rolle, die dabei der lange Zeit als Säulenheiliger der Revolution verehrte sowjetische Staatsgründer Lenin gespielt hatte.
Die veröffentlichten Geheimakten offenbarten die Grausamkeit und Skrupellosigkeit, die Lenin seit dem "bolschewistischen Umsturz" – wie man die Oktoberrevolution 1917 nunmehr bezeichnete – an den Tag gelegt hatte. Sie berichten von dem von ihm gezielt entfesselten roten Terror während des Bürgerkriegs und darüber, dass er es war, der die Grundlagen für die Diktatur Stalins legte.
Jelzin – Hinwendung zum vorrevolutionären Russland
Mit dem Triumph Boris Jelzins 1991 begann der sowjetische Gründungsmythos weiter zu verblassen. Spätestens nach der Abwehr des Augustputsches 1991, als eine Gruppe von Funktionären der KPdSU versucht hatte, Gorbatschow abzusetzen, wurde die große sozialistische Oktoberrevolution mit "Putsch", "Umsturz" oder "Machtergreifung" gleichgesetzt.
Im Zuge der Entmythologisierung des Revolutionsführers wurde 1991 Leningrad wieder in Sankt Petersburg umbenannt und zwei Jahre später die Ehrenwache vor dem Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz abgezogen. Auch wurden erste Stimmen laut, den einbalsamierten Leichnam des "Roten Pharao" aus dem Mausoleum zu entfernen und ihn ordentlich zu bestatten. Doch dann, Mitte 1993, geriet die Vergangenheitsbewältigung ins Stocken. Der Grund dafür lag in der Furcht vor den Protesten der kommunistischen Wählerschaft, die seit Oktober 1993 eine reale Gefahr für die Regierung von Boris Jelzin darstellte.
"Dass die Kommunisten zu diesem Zeitpunkt wieder an die Macht kommen könnten, war nach dem Scheitern der wirtschaftsliberalen Reformen unter Vizepremier Jegor Gajdar keineswegs unwahrscheinlich", so die russische Historikerin Irina Scherbakowa.
Ein Großteil der Bevölkerung sah sich von den liberalen Reformen, die dem Land statt Wohlstand Hyperinflation und leere Warenregale bescherten, getäuscht und wünschte sich die "gute alte Zeit" der Sowjetunion wieder zurück. Zwischen Sankt Petersburg und Wladiwostok wurde der Ruf nach einem starken Mann wieder laut, der in der Lage war, die "Ordnung wiederherzustellen".
Wie die Historikerin Anna Becker nachgewiesen hat, tauchte um die Mitte der 1990er Jahre am geschichtlichen Horizont vieler Russen die Figur Stalins wieder auf. Zum ersten Mal nach der Perestroika fragte man sich, wer eigentlich in der sowjetischen Erinnerung der Inbegriff eines mächtigen Staats und einer starken Herrschaft gewesen sei, wer für nationalen Stolz stand und wer den Sieg über Hitler wie kein anderer verkörpert habe.
Die Jelzin-Administration reagierte auf diese Nostalgiewelle mit einem Wechsel der historischen Erinnerungspolitik: Aus der großen sozialistischen Oktoberrevolution wurde 1996 der "Tag der Eintracht und Versöhnung". In zahlreichen symbolischen Akten wurden die antibolschewistischen Gegner von damals in das postsowjetische Russland integriert. Schon 1998 wurden die sterblichen Überreste der Romanows nach Sankt Petersburg überführt, ein feierlicher Akt, dem zwei Jahre später die Heiligsprechung Nikolaus II. folgte. Diese Anbindung an die Zarenzeit spiegelt sich seitdem auch im Stadtbild von Jekaterinburg wider, wo heute an der Stelle, wo die Zarenfamilie im Juli 1918 ermordet worden war, die Kathedrale auf dem Blut steht.
Offiziell verschwand damit die Bindung an die bolschewistische Revolution. Doch der Versuch Jelzins, mit der Wiederbelebung der Erinnerung an das vorrevolutionäre Russland einer sowjetischen Renaissance entgegenzuwirken, verfing nicht. Zu groß war die Enttäuschung über die Folgen von Perestroika und Glasnost, die zwar liberale Errungenschaften, aber auch wirtschaftliche Not und nationale Demütigung zur Folge hatten.
Putin – Einheit statt Revolution
Unter Putin kam es zu einer weiteren Umdeutung des Revolutionsmythos. Mit dem Ende der Sowjetunion hatte Russland nicht nur ein Viertel seines Territoriums und die Hälfte seiner Bevölkerung verloren, sondern auch die ideologische Klammer, die alles zusammenhielt. Putin versuchte die Lücke durch ein neues Nationalbewusstsein zu schließen, das durch die Stilisierung äußerer Feindbilder und die Betonung des inneren Zusammenhalts genährt wurde.
Nicht Freiheit, sondern "Stabilität" lautete nun das Schlagwort, das der neue Kremlherr im April 2001 während seiner ersten Präsidentschaft so formulierte: "Der Zyklus der Revolutionen ist erledigt, es wird weder Revolutionen noch Konterrevolutionen geben." Damit war die Stoßrichtung für den Umgang mit der Oktoberrevolution vorgegeben. Das Mantra von Evolution statt Revolution bildete fortan die Handlungsmaxime putinscher Politik.
Als Leitmotiv der Erinnerung galt nicht mehr der politische Umsturz, sondern, ähnlich wie zuvor unter Jelzin, die Versöhnung und Eintracht. Dieses "konsensuale Deutungsmuster" in der Öffentlichkeit salonfähig zu machen, ist die Aufgabe der von Wladimir Putin im Dezember 2016 einberufenen Historikerkommission, die das Gedenken an das Jahr 1917 vorbereiten soll. Putin selbst gab in seiner Eröffnungsrede die Marschrichtung vor, wie mit dem Jahr 1917 geschichtspolitisch umzugehen sei: "Lasst uns daran erinnern, dass wir ein Volk sind und ein Russland haben. Wir brauchen die Lehren der Geschichte vor allem, um die Öffentlichkeit zu versöhnen und die politische und gesellschaftliche Einheit zu stärken, die wir heute erreicht haben."
In die gleiche Kerbe schlug bereits im Jahr zuvor der Gelegenheitshistoriker und heutige Kulturminister Wladimir Medinski: Die Erinnerung solle die Gesellschaft konsolidieren. Gemeint ist damit die nationale Einheit der Gesellschaft – und die wiederum ist nur unter einem starken Führer gewährleistet, der diese Einheit vorgibt, so Ivan Krastev, Direktor des Centre for Liberal Strategies in Sofia. Immer wenn der Staat schwach ist, das ist die Quintessenz von Medinskis Ausführungen, droht die Zersplitterung (rasdroblennost) des Landes. Als der Zar 1917 gestürzt worden war, schwächte ein blutiger Bürgerkrieg das Land.
In diesem Sinn versuchen Exegeten im Dunstkreis des Kremls das Jahr 1917 in Anspielung auf die Machtkämpfe in den Jahren 1598 bis 1613 als eine "Zeit der Wirren" (smutnoje wremja) darzustellen. Damals habe das Ende der Rurikiden-Dynastie Russland in eine tiefe Krise gestürzt, ehe mit den Romanows die staatliche Ordnung wiederhergestellt worden sei. Nicht anders sei es auch in den revolutionären Wirren von 1917 gewesen, bevor unter Stalin der Staat wieder zu alter Stärke zurückgefunden habe.
Bewahrung imperialer Kontinuität
Mit dem historischen Bezug auf das schwierige Interregnum in der russischen Geschichte vor der Thronbesteigung der Romanows im Jahr 1613 erscheint "die Revolution 1917 nicht mehr als Mythos der Gründung einer gerechten Gesellschaft, sondern als Störfaktor in einem übergeordneten imperialen Projekt", konstatiert Ulrich M. Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russland an der Universität Sankt Gallen.
"Der Zyklus der Revolutionen ist erledigt, es wird weder Revolutionen noch Konterrevolutionen geben"Wladimir Putin
Putin, der im Stil eines Zaren regiert und vom Doppeladler bis zu kaiserlichen Uniformen sogar die alten Symbole wiederaufleben ließ, sieht sich in der Tradition einer 1000-jährigen glorreichen russländischen Geschichte. Im November 2016 weihte er in unmittelbarer Nähe des Kremls ein riesiges Denkmal für Großfürst Wladimir ein, der als Begründer der russischen Staatlichkeit vor mehr als einem Jahrtausend betrachtet werden kann.
Bei diesem von offiziellen staatlichen Stellen unternommenen Versuch einer neuen Sinngebung für den 7. November gehe es "nicht um Historiografie, sondern um die Konstruktion eines patriotischen Bildes von einem Russland, das es niemals gab", erklärt Gerhard Simon, vormaliger Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien in Köln.
Der Revolutionsgründer als Persona non grata?
Mit unüblich harschen Worten hat Putin in einer Rede anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs das Vermächtnis Lenins kritisiert und die Machtübernahme der Bolschewiki als "nationalen Verrat" bezeichnet. Der Bezug zum Weltkrieg bot für Putin einen neuen Kontextrahmen für die historische Einbindung der Oktoberrevolution, "nämlich als Betriebsunfall in dem sonst so heroischen Narrativ der siegreichen russischen Armee", betont die an der Universität Bonn lehrende Historikerin für Osteuropäische Geschichte, Ekaterina Makhotina.
Lenin, so Putin in seiner Rede weiter, sei ein grausamer Aufrührer gewesen, der die Zarenfamilie und Tausende von Priestern habe ermorden lassen. Zudem habe Lenin im "Schandfrieden" von Brest-Litowsk (3./16. März 1918) den Ausverkauf russischer Erde aus persönlichem Machtstreben heraus billigend in Kauf genommen und durch diesen "nationalen Verrat" am kämpfenden Russland die Niederlage des Landes im Ersten Weltkrieg verursacht. Diese "russische Dolchstoßlegende" ist ein zentraler Bestandteil der imperial-konservativen Deutung des Roten Oktober, der den Zerfall des Imperiums und des "traditionellen heiligen Russlands" verursacht habe. Da sich der starke Staat als Wert an sich nur denkbar schlecht mit der Zerstörung von Staatlichkeit in den beiden Revolutionen von 1917 verträgt, setzt die staatlich gelenkte Geschichtserinnerung alles daran, um die Zeitspanne zwischen 1917, dem Ende des Zarenreichs, und 1922, dem Anfang der Sowjetunion, möglichst kurz zu halten. Betont wird stattdessen die Kontinuität beider Imperien, an deren Traditionen Putin anknüpft, erklärt der am Goldsmiths College der University of London lehrende deutsche Historiker Jan Plamper.
Hart geht Putin auch mit Lenins Nationalitätenpolitik ins Gericht. Dieser habe eine Zeitbombe unter den einheitlichen russischen Staat gelegt, indem er willkürliche Grenzen durch das sowjetföderalistische Territorium gezogen habe. Dieser Sprengsatz sei dann 1991 hochgegangen, als sich die einzelnen Sowjetrepubliken unabhängig erklärten.
Gelenkte Historie
Da sich in den Augen der russischen Führung das Jahr 1917 einer Sinn stiftenden Ruhmesgeschichte verschließt, wurde bereits 2004 der Tag der Oktoberrevolution zum "Tag des militärischen Ruhmes" erklärt – in Erinnerung an die von Stalin abgehaltene Revolutionsparade am 7. November 1941 während der Schlacht um Moskau. Fortan stand nicht mehr die Erstürmung des Winterpalais im Vordergrund des Revolutionsgedenkens, sondern das patriotische Ereignis der Militärparade 1941. Ähnlich wie unter Breschnew wurde das Revolutionsgedenken an das Weltkriegsgedenken und den Großen Vaterländischen Krieg gekoppelt, um "die vom Staat gefürchtete 'revolutionäre' Erinnerungsaura zu überblenden", so Ekatarina Makhotina.
Anders als der Sieg 1945 über Nazideutschland oder die Ruhmestaten des mythenumwobenen Staatsgründers Fürst Wladimir eignen sich die beiden Revolutionen von 1917 nicht zur politischen Instrumentalisierung, im Gegenteil. Im paranoiden Denken Putins und seines Propagandaapparats haftet ihnen vielmehr etwas Subversives an. Der Gedanke, dass ein unkontrollierter Mob eine autoritäre Herrschaft stürzte, taugt nicht als Anlass für eine Feier. Gelten ihnen doch alle Formen des öffentlichen Protests als Vorstufe zum Staatsstreich und alle Revolutionen als staatszersetzend.
Zwei Lehren lassen sich aus Kremlsicht aus den Vorgängen um das Jahr 1917 ziehen: Zum einen führt nationale Uneinigkeit zu territorialen Verlusten, zum anderen sind Revolutionen von außen organisiert. In seinem 2012 erschienenen populärwissenschaftlichen Buch "1917" hat Nikolai Starikow genau diese Denkweise aufgegriffen: Revolutionen, so der russische Verschwörungstheoretiker, seien nichts anderes als erfolgreich verdeckte Operationen feindlicher Geheimdienste. Starikow zufolge sei der Hauptgrund für die Revolution von 1917 der verzweifelte Versuch der westlichen Großmächte gewesen, den unaufhaltsamen Aufstieg Russlands Anfang des 20. Jahrhunderts zu stoppen.
Nur ein starker Staat, so die offizielle Lesart, hätte dem doppelten Umsturz 1917 erfolgreich entgegenwirken können. Hätte es dafür noch eines Beweises bedurft, dann hat ihn der namhafte nationalkonservative Autor Alexander Solschenizyn in seinem im März 2007 publizierten Artikel "Überlegungen zur Februarrevolution" geliefert. Darin bezeichnet der Autor des "Archipel Gulag" die Februarrevolution als eigentliche Katastrophe, da damals eine liberal-demokratische Elite das Land destabilisieren wollte. Der schwache Zar sei dem liberal-radikalen Feld nicht entschieden entgegengetreten und habe dadurch Russland der nationalen Ohnmacht überlassen. Mit dieser patriotischen Geschichtsdeutung hat Solschenizyn der Machtelite um Putin gewissermaßen einen Blankocheck ausgestellt, der Gewalt gegen Umsturzversuche jeglicher Art als gerechtfertigtes Mittel zur Bewahrung nationaler Interessen legitimierte.
Die Botschaft zum Gedenken an den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution ist klar: Hätte das Volk damals geeint zusammengestanden, hätte das Chaos des Bürgerkrieges vermieden werden können.
Angst vor der Geschichte
Die Erinnerungslandschaft der Oktoberrevolution ist geprägt von unterschiedlichen Deutungsmustern. Die Spannung in den Urteilen reicht vom traditionellen Revolutionsnarrativ einer weithin spontanen Massenerhebung, wie sie in der epischen Szene des Sturms auf das Winterpalais in Sergej Eisensteins Film "Oktober" auf die Kinoleinwand projiziert wurde, bis hin zum postsowjetischen Mantra eines von außen gesteuerten Umsturzes und einer Verschwörung gegen das russische Volk.
Lenin, der mit der Tradition brach und etwas radikal Neues schuf, eignet sich im heutigen Russland nicht mehr als Identifikationsfigur. 100 Jahre nach der Oktoberrevolution haben er und seine Bolschewiki für die Legitimation russischer Staatlichkeit ausgedient. Im postsowjetischen Russland wird der Sturm auf das Winterpalais nur mehr als ein Störfaktor in einem historischen Kontinuum einer glorreichen tausendjährigen russischen Geschichte gesehen. Für Russlands starken Mann, Wladimir Putin, der häufig auf Vergangenes zurückgreift, um die eigene Politik zu legitimieren, ist das Jahr 1917 ein annus horribilis – Geschichte könnte sich ja wiederholen.
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