Mysteriöse Flybys: Anomale Anomalie
Swingby-Manöver sind fast so alt wie die Raumfahrt selbst: Sonden nutzen Mond, Erde oder andere Planeten, um sich auf ihrer Weltraumreise Schwung zu holen und damit Treibstoff zu sparen. Das Manöver ist gut verstanden und mit der richtigen Software präzise planbar. Beim Erdvorbeiflug der Jupitersonde Galileo im Dezember 1990 sollte sich dies einmal mehr beweisen. Die Ingenieure am Jet Propulsion Laboratory (JPL) in Pasadena verfolgten das vom Satelliten zurückgeworfene Radiosignal, um daraus seine Geschwindigkeit und die Flugbahn zu bestimmen.
Zu aller Erstaunen zeigten in den folgenden Jahren weitere, aber längst nicht alle Raumsonden ein ähnlich seltsames Verhalten während ihres Erd-Flybys; zuletzt die Kometensonde Rosetta im März 2005 [1]. Die Asteroidensonde NEAR (Near Earth Asteroid Rendezvous) wies bisher die größten Abweichungen auf: Nachdem sie im Januar 1998 dicht an unserem Planeten vorbeigeflogen war, lag ihre Geschwindigkeit 13 Millimeter pro Sekunde über dem vorhergesagten Wert.
Auf der Suche nach der Ursache
"Es ist immer noch ein großes Rätsel, was diese Anomalie hervorruft", berichtet Frank Budnik vom ESOC in Darmstadt, der für die Flugdynamik von Rosetta verantwortlich ist. Alle etablierten Theorien scheitern daran, die Abweichung zu erklären. Steckt also womöglich ein bisher unbekanntes physikalisches Phänomen dahinter? Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass exotische Beobachtungen neue Einsichten in den Ablauf der Welt bringen.
Claus Lämmerzahl von der Universität Bremen hat mit vielen anderen Wissenschaftlern die Flyby Collaboration am International Space Science Institute (ISSI) ins Leben gerufen, um den merkwürdigen Messungen endlich auf den Grund zu kommen. Gemeinsam haben sie bereits eine Vielzahl von potenziellen Kandidaten für die Anomalien ausschließen können [5]. Denn die meisten bisher ins Feld geführten Effekte seien viel zu schwach, um die mysteriöse Beschleunigung zu erklären.
Schlüssel zu einer neuen Physik?
Gleichwohl findet Lämmerzahl es richtig, dass Wissenschaftler sich in abenteuerlichen Theorien versuchen. Schließlich gebe es viele offene Probleme in der Physik, beispielsweise die Quantisierung der Gravitation. Dieser Schritt ist notwendig, um die Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativitätstheorie zu vereinen – ein großes Ziel von Physikern. "Sollte es eine solche Quantengravitation tatsächlich geben, müsste die Standardphysik ein bisschen modifiziert werden, und das würde sehr wahrscheinlich in der Gravitationstheorie passieren", erklärt Lämmerzahl. Und so sei es nur verständlich, wenn sich viele Leute auf eine merkwürdige Messung in diesem Bereich stürzen.
John Anderson vom Jet Propulsion Laboratory, der ebenfalls der International Flyby Collaboration angehört, näherte sich dem Problem mit einigen Kollegen auf eine andere Weise: Sie stellten im Jahr 2008 eine empirische Formel auf, um die Anomalie zu beschreiben [6]. Auf der Suche danach hatten die Forscher die Daten sämtlicher Erdvorbeiflüge analysiert. Entscheidend schien zu sein, auf welchem Himmelsbreitengrad sich die Raumsonde der Erde näherte und wieder von ihr entfernte.
Zwar konnte die Gleichung nicht erklären, was physikalisch hinter dem Phänomen steckt, doch ließen sich damit tatsächlich viele mysteriöse Flugdaten reproduzieren und zudem das Verhalten zukünftiger Flybys vorhersagen. Die beiden Erdvorbeiflüge der Rosettasonde 2007 und 2009 machten den Wissenschaftlern dann allerdings einen Strich durch die Rechnung: "Sowohl beim zweiten als auch beim dritten Rosettavorbeiflug haben wir nichts Ungewöhnliches gesehen", so Budnik. Anderson und Kollegen hatten in beiden Fällen jedoch eine Abweichung von einem Millimeter pro Sekunde vorhergesehen. "Die Formel ist damit tot", bringt es Lämmerzahl auf den Punkt.
Systematische Fehler im Visier
Neben all den fantastischen Ideen rücken schnöde systematische Fehler meist in den Hintergrund. Doch mögliche Ursachen gäbe es auch hier genügend. Die Positionen der Beobachtungsstationen auf der Erde könnten beispielsweise nicht hundertprozentig korrekt auf das Koordinatensystem des Sonnensystems umgerechnet worden sein. Manche Wissenschaftler vermuten auch, dass die Software im entscheidenden Moment nicht alle möglichen Effekte berücksichtigte. Denn die Ingenieure mussten einen Kompromiss zwischen Computerleistung und Komplexität des Algorithmus finden.
Ein solches Vorgehen würde zwar in 99,9 Prozent aller Satellitenmanöver keinen Einfluss haben, doch bei Flybys sei nicht nur das Tempo, sondern auch die Geschwindigkeits- und Richtungsänderung sehr hoch. "Im Gegensatz zum Flug durch den interplanetaren Raum also eine physikalische Extremsituation", kommentiert Lämmerzahl. In diesem Fall könnten nicht berücksichtigte Terme in der Software die Ergebnisse sehr wohl verfälschen.
"Ein grober Softwarefehler ist aber wohl ausgeschlossen", meint Budnik. Denn obwohl verschiedene Programme – etwa vom Jet Propulsion Laboratory, vom Goddard Space Flight Centre oder vom ESOC – unabhängig voneinander entwickelt wurden, ergeben sie für die Flugdaten von NEAR und Rosetta dasselbe Resultat. Allerdings basieren die Programme auf ähnlichen Algorithmen, und so könnten sie alle ein und dieselbe winzige Schwachstelle aufweisen.
Abwarten und genau beobachten
Schließlich sei so ein Algorithmus für eine Bahnbestimmung interplanetarer Sonden sehr komplex, berichtet Budnik. Es gibt eben unzählige Dinge, die man darin berücksichtigen muss, aber unter Umständen weggelassen oder genähert hat. Ließe sich nicht einfach überprüfen, ob an einer entscheidenden Stelle etwas fehlt? Das Problem liegt auch hier im Detail: Entwickelt wurde der Algorithmus nämlich bereits Ende der 1960er Jahre.
Und bis heute sind die Grundlagen im Wesentlichen gleich geblieben – auch wenn hier und da noch einige Dinge dazugekommen sind. Jemanden zu finden, der sich mit der Materie auskennt und dann auch noch finanziert wird, sei schwierig, sagt Budnik. Denn verschiedene Faktoren ein- und ausschalten, um dann zu sehen, ob die Anomalie noch da ist, dürfte Monate dauern. "Wir würden uns gerne damit beschäftigen, aber es mangelt uns einfach an der Zeit." Und schließlich stellt die Anomalie für die Navigation der Raumsonden kein Problem dar.
Für Budnik jedenfalls zählt ein bisher unbekanntes physikalisches Phänomen nicht zu den Favoriten. Und auch Lämmerzahl hat bei den unerklärlichen Messungen nicht den Eindruck, dass sie den Schlüssel zu einer neuen Physik bereithalten. Die Lösung des Rätsels können wohl nur zukünftige Erdvorbeiflüge liefern: Zeigen die nächsten zwei, drei Flybys wieder kein anomales Verhalten, so Lämmerzahl, dann gibt und gab es diese mysteriöse Beschleunigung wohl nie.
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