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Neurodegenerative Erkrankungen: Ansteckungsgefahr

In der Nähe von sterbenden Motoneuronen kann es gefährlich sein: Sie schütten ein bestimmtes Molekül aus, das eigentlich als Schutzfaktor dient, aber in veränderter Form ihre Nachbarn mit in den Tod reißen kann.
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) gilt eher als unbekanntes Übel. Dabei kommt die neuromuskuläre Erkrankung gar nicht so selten vor, leiden doch in Deutschland etwa 6000 Menschen darunter. Die Krankheit beginnt zwar erst im Erwachsenenalter, führt allerdings bereits nach zwei bis fünf Jahren zum Tod, weil die Atemmuskulatur versagt.

Genetische Faktoren können nur in einem kleinen Teil der Fälle – etwa fünf bis zehn Prozent – als Ursache von ALS ausgemacht werden, doch gerade hier macht die Forschung große Fortschritte. Langsam bekommen Wissenschaftler eine Vorstellung davon, was bei der familiären ALS im Gehirn passiert und eröffnen damit endlich einen Weg, diese bislang unheilbare Krankheit – bei der vor allem die für die Kontrolle der Muskelbewegung verantwortlichen Motoneurone zerstört werden – zu therapieren.

So konnten die Forscher bereits einen molekularen Unruhestifter aufspüren. Das Enzym Superoxid-Dismutase (SOD1), das normalerweise freie Radikale entschärft und die Nervenzellen vor Schäden schützt, scheint bei einigen Menschen mit familiärer ALS verändert zu sein. Der Sanitäter mutiert so zum Übeltäter: Er stachelt die Fresszellen des Gehirns, die Mikroglia, dazu an, eine Reihe von Entzündungsstoffen zu produzieren. Die kleinen Fressmaschinen, die das Gehirn von Abfall befreien, schießen dann mit gefährlicher Munition um sich. Einmal erwacht, entlassen sie eine Reihe von Stoffen, die dem erquicklichen Dasein eines Neurons nicht gerade gut tun: pro-apoptotische Faktoren wie Tumornekrosefaktor-alpha oder Stickstoffmonoxid und andere zytotoxische Substanzen. Mit diesen Signalen vermitteln die aktivierten Mikroglia den Nervenzellen, dass nun ein guter Zeitpunkt zum Sterben ist.

Allerdings führt mutierte SOD1 nicht zwangsläufig zu Motoneuronerkrankungen, denn die Nachbarschaft von Zellen mit normaler SOD1 wirkt für Motoneuronen mit mutierter SOD1 wie eine Kur: Sie leben länger oder gehen gar nicht erst zu Grunde. Andererseits sterben die nicht-mutierten Zellen eher, wenn sie von Mutanten umgeben sind. Wissenschaftler um Makoto Urushitani von der kanadischen Laval-Universität in Québec und dem japanischen RIKEN-Institut für Hirnforschung in Saitama wollten nun herausfinden, wie die Toxizität von SOD1 auf andere Zellen übergreifen kann.

Bei Mäuse-Zellkulturen konnten sie nachweisen, dass Chromogranine, Proteine, die schon bei der Parkinson- und der Alzheimer-Krankheit auf der Liste der Verdächtigen stehen, im Krankheitsprozess der ALS ebenfalls mitmischen. Dabei sollen Chromogranine eigentlich in der Nervenzelle für Ordnung sorgen, indem sie andere Proteine in Vesikeln auf ihre Freisetzung vorbereiten. Allerdings erwecken auch Chromogranine Mikroglia, wie Urushitani und sein Team bestätigten: Fütterten sie ihre Zellkulturen mit mutierter SOD1 und Chromogranin, aktivierte dies verstärkt die Fresszellen, die dann Entzündungsfaktoren freisetzten. Überraschenderweise kam es durch diese Behandlung auch in Kulturen ohne Mikroglia zum Massentod von Motoneuronen – ein Indiz, dass mutierte SOD1 auch ohne weitere Schützenhilfe toxisch wirkt.

Neben Versuchen in Zellkultur untersuchte das japanisch-kanadische Forscherteam auch genetisch veränderte Mäuse, welche die mutierte menschliche SOD1 trugen. Auch hier erwies sich, dass Chromogranine nicht nur mit der mutierten SOD1 zusammenarbeiten, sondern dieser erst aus der Zelle verhelfen. An der Sekretion der normalen SOD1 waren Chromogranine dagegen nicht beteiligt.

Urushitani und Kollegen schließen aus ihren Ergebnissen, dass auch entzündliche Prozesse bei der ALS beteiligt sind. Ob Chromogranine eventuell auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen eine Rolle spielen, wollen die Wissenschaftler in Zukunft untersuchen.

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