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Anthropozän: Die ewigen Spuren der Menschheit

Technofossilien, Schwermetalle und Klimawandel – der Mensch verändert die Erde tief greifend. Welcher Ort verkörpert den Beginn der vom Menschen geprägten Epoche der Erdgeschichte am besten?
Ein Eisenerzbergwerk in Österreich
Der Mensch hat sich die Erde untertan gemacht – und hinterlässt unauslöschliche Spuren. Selbst wenn dieses Eisenerzbergwerk in der österreichischen Steiermark eines Tages geschlossen würde, wird die Landschaft nie wieder so aussehen wie zuvor.

Wenn Regionen und Orte miteinander in Wettstreit treten, geht es normalerweise darum, wer mehr Attraktionen zu bieten hat – eine schönere Natur, ein lebendigeres Kulturleben oder bessere Bedingungen für Unternehmen. Doch in der Geologie läuft gerade ein Wettbewerb, bei dem das genaue Gegenteil im Mittelpunkt steht. Wissenschaftler überbieten sich gegenseitig darin, welcher Ort die vom Menschen verursachten Umweltzerstörungen besser veranschaulichen kann. Dem Gewinner winkt ein zweifelhafter Ehrentitel: Referenzpunkt zu sein für eine neue geologische Erdepoche, das Anthropozän.

So wie Urmeter und Urkilo früher das Maß aller Dinge waren und bestimmte Exemplare von Tieren und Pflanzen in Naturkundemuseen Standard sind für die Beschreibung der Arten, kennt die Geologie Orte, die für die großen Kapitel der Erdgeschichte stehen. Solche »Global Boundary Stratotype Section and Points«, kurz GSSP genannt, gibt es bereits viele. Im Jahr 2010 zum Beispiel wurde nach langem Ringen in der geologischen Community das Kuhjoch in Tirol der Referenzort für den Übergang von der Trias zum Jura vor 201 Millionen Jahren, der von einem Massenaussterben gekennzeichnet ist.

Bei einer wissenschaftlichen Tagung in Mexiko im Jahr 2000 schlug der Meteorologe und Nobelpreisträger Paul Crutzen vor, die aktuelle Erdepoche, das Holozän, nach nur 11 700 Jahren für beendet zu erklären und eine nach dem Menschen benannte Epoche auszurufen, das Anthropozän. Zuerst erntete Crutzen, der wegen seiner Beiträge zur Atmosphärenchemie und zu möglichen Folgen eines »nuklearen Winters« damals zu den meistzitierten Wissenschaftlern weltweit gehörte, ungläubiges Staunen. Doch nach einer Publikation in »Nature« mit dem Titel »Die Geologie der Menschheit« im Jahr 2002 bekam der Vorschlag immer mehr Zustimmung.

Crutzen hatte im Laufe seiner eigenen Forschung mitbekommen, wie empfindlich die Erde auf menschliche Eingriffe reagiert. Als einer der Ersten entdeckte er chemische Prozesse, die die schützende Ozonschicht des Planeten angreifen, wofür er sich mit zwei weiteren Forschern den Chemie-Nobelpreis des Jahres 1995 teilte. Daraus entstanden die internationalen Vereinbarungen, Fluorchlorkohlenwasserstoffe, kurz FCKW, zu verbieten. Nach diesem Erlebnis begann Crutzen, lange Listen menschengemachter Veränderungen im Erdsystem anzulegen. Die Einträge reichten von einer Vielzahl synthetischer Chemikalien und neuer, von Menschenhand erschaffener Elemente über Tunnel, Bergwerke und Städte als neue geologische Formationen bis hin zum Klimawandel. Der Mensch, so Crutzen, verändere die Erde nicht nur oberflächlich, sondern tief greifend – und vor allem so langfristig, dass es noch in Hunderttausenden von Jahren messbar sein werde. Eine neue geologische Erdepoche sei deshalb gerechtfertigt.

»Wir können einen klaren, abrupten und globalen Übergang von der vorherigen Erdepoche, dem Holozän, zu etwas Neuem erkennen«Colin Waters, Geologe

Im Jahr 2009 gründete die Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS), in der die wissenschaftlichen Hüter der Erdzeitalter und -epochen versammelt sind, eine Arbeitsgruppe, um zu klären, ob an Crutzens Vorschlag etwas dran ist. Inzwischen ist das Verdikt der 40-köpfigen Expertengruppe eindeutig: »Wir können einen klaren, abrupten und globalen Übergang von der vorherigen Erdepoche, dem Holozän, zu etwas Neuem erkennen«, sagt der Geologe Colin Waters, der die Anthropocene Working Group leitet. Auch die Fossilien, die in unserer Zeit entstehen, machten einen Einschnitt deutlich: »Es wird im Fossilienbestand der Zukunft wegen der Aussterbewelle eine verminderte Anzahl von Arten geben, aber zugleich einige wenige dominante Arten wie zum Beispiel Hauskatzen und Ratten«, sagt Waters. Hinzu kämen »Technofossilien«, also die konservierten Überbleibsel technischer Geräte.

Auf der Suche nach einem Symbolort für das Anthropozän

In diesen Wochen ist die »AWG« dabei, ihren Antrag auf Ausrufung des Anthropozäns zu vervollständigen. Das Einzige, was in der Beweisführung noch fehlt, ist der Symbolort. Der GSSP soll widerspiegeln, wodurch die neue Erdepoche definiert ist. »Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen in Zukunft weltweit ähnliche Orte mit diesem Referenzort abgleichen können«, sagt Waters.

Im Jahr 2019 hat die AWG den Wettbewerb ausgerufen. Seither sind zwölf Vorschläge eingegangen. Drei schieden schon in der Vorrunde aus – darunter eine Ausgrabungsstätte am Wiener Karlsplatz. Unter dem Pflaster liegen zwar zahlreiche »Marker« des Anthropozäns – etwa menschliche Artefakte aus vielen Jahrhunderten, Schwermetalle aus industriellen Quellen und sogar Plutonium aus Nuklearexplosionen. Doch die Ausgrabungsstelle wurde überbaut. Sie erfüllt damit nicht die Voraussetzung, auf unabsehbare Zeit für Wissenschaft und Öffentlichkeit zur Verfügung zu stehen.

Das Śnieżka-Moor in Südpolen | Die Torfablagerungen in den Sudeten zeigen in ihren ungestörten Schichtfolgen mehrere starke Veränderungen ab etwa 1950, die für das Anthropozän typisch sind.

Zu den neun Finalisten zählt das Śnieżka-Moor, das 1440 Meter über dem Meeresspiegel in den Sudeten in Südpolen liegt. Oberflächlich sieht es aus wie ein natürliches Moor. Doch es erzähle die Geschichte menschlicher Eingriffe, sagt die Geologin Barbara Fiałkiewicz-Kozieł. Ihrer Analyse zufolge weist das Moor ab etwa 1950 »starke Veränderungen in der Ablagerung mehrerer unabhängiger geochemischer Marker« auf, die auf die Verbrennung fossiler Rohstoffe, die Industrialisierung, Kernwaffentests sowie auf den Klimawandel hinweisen.

Aus Nordamerika sind zwei Seen im Rennen. »Der Crawford Lake in Ontario ist der einzige Standort mit ungestörten jährlichen Schichtungen über Jahrhunderte hinweg«, sagt Francine McCarthy von der Brock University in Ontario und zählt Überreste einer indigenen Besiedlung, der europäischen Kolonisierung, der Abholzung und der modernen Landwirtschaft auf. Sie betont, dass es unter dem Crawford Lake »keine grabenden Organismen gibt, die die Sedimente stören, so dass das genaue kalendarische Alter bestimmt werden kann, so wie bei Baumringen«.

Das Team, das den Searsville Lake südlich von San Francisco vorschlägt, hebt hervor, dass Menschen den Stausee überhaupt erst geschaffen haben. Allison Stegner, Paläobiologin an der Stanford University, beschreibt die Sedimente des Sees als ein »außergewöhnlich detailliertes Archiv des Anthropozäns«. Sie betont, dass die Ablagerung von Plutonium-239 und Plutonium-240 auf einzelne Jahreszeiten genau datiert werden könne. Viele verschiedene Chemikalien, die typisch für menschliche Aktivitäten sind, seien von den Winden des Pazifischen Ozeans hierher geweht worden und hätten sich abgelagert, sagt Stegner. Das bedeute, dass sie von überall auf dem Planeten stammten und ein globales Archiv böten.

Wissenschaftler der Zukunft könnten Dinoflagellaten als Leitfossilien des Anthropozäns identifizieren – wo sie sich wohl fühlen, sterben andere Arten

Zudem wurde ein Vulkankrater namens Sihailongwan Maar in China vorgeschlagen, und aus Japan hat der Paläobiologe Michinobu Kuwae vom Center for Marine Environmental Studies der Universität Ehime die Beppu-Bucht auf der Insel Kyūshū eingebracht. Die Bucht, die von Ortschaften, Kurbädern, chemischer Industrie und Obstplantagen umgeben ist, stellt ihm zufolge »einen Mikrokosmos für die Auswirkungen des Menschen« dar. Kuwae hat festgestellt, dass der Eintrag von Stickstoff und Phosphor aus anthropogenen Quellen zuletzt erheblich angestiegen ist. Die Nährstoffe haben das Wachstum von Dinoflagellaten gefördert, einem marinen Phytoplankton. Kuwae hält es für möglich, dass Wissenschaftler der Zukunft die Dinoflagellaten als Leitfossilien des Anthropozäns identifizieren könnten – denn wo sie sich wohlfühlen und stark vermehren, sind die Bedingungen für die meisten anderen Arten existenzbedrohend.

Zwei Wissenschaftler des deutschen Leibniz-Instituts für Ostseeforschung in Warnemünde haben eine Stelle auf dem Boden der Ostsee bei Gotland ins Rennen geschickt. Ihre Bohrkernprobe aus 240 Meter Tiefe weist eine auffällige Farbveränderung auf. Die ältesten Sedimentschichten »waren noch gut mit Sauerstoff versorgt, von Bodenlebewesen durchmischt und von einheitlich hellgrauer Farbe«, sagt der Wissenschaftler Jérôme Kaiser. Doch dann kippte die Ostsee – das ist an einem deutlichen Farbwechsel sichtbar.

Etwa ab den 1960er Jahren werden die Sedimente schlagartig dunkel. Seitdem nämlich gelangen über 200 Flüsse, die in die Ostsee fließen, enorme Mengen Dünger aus der industriellen Landwirtschaft ins Meer. Dies führte zunächst zu einem massiven Algenwachstum, dann aber zu einem drastischen Abfall des Sauerstoffgehalts. Die Folge: Organische Substanzen werden nicht mehr abgebaut, sondern konserviert. Im Meer erstrecken sich »Todeszonen«. Kaiser und seine Kollegin Juliana Ivar do Sul halten es sogar für möglich, dass in den dunklen Schichten unter der Ostsee ein geologischer Prozess begonnen hat, dessen Produkte gut bekannt sind: die Bildung von Erdöl. Das, so sagen die Forscher, werde aber Millionen Jahre dauern.

Typische Spuren menschlicher Präsenz im Korallenriff

Die bei Weitem schönsten Orte im Wettbewerb der Geologen sind zwei Korallenriffe. Das North Flinders Reef liegt nördlich des australischen Great Barrier Reefs. Die West Flower Garden Bank im Golf von Mexiko gilt als eines der gesündesten Korallenriffe in den Gewässern der USA. Beide Standorte scheinen oberflächlich vom Menschen unberührt zu sein. Sie liegen weit entfernt von Städten und Industrieanlagen. Doch als die Geologen Proben aus den Riffstrukturen nahmen, entdeckten sie typische Spuren menschlicher Präsenz.

Beppu-Bucht auf der Insel Kyūshū | Siedlungen, Landwirtschaft und Industrie umgeben diese Meeresbucht in Japan und machen sie zu einem »Mikrokosmos für die Auswirkungen des Menschen«, wie der Forscher Michinobu Kuwae sagt.

»Das North Flinders Reef wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vom Menschen beeinflusst – die Ozeane haben sich erwärmt, der Salzgehalt und die Nährstoffzyklen haben sich verändert und es wurde verstärkt Kohlenstoff aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe aufgenommen«, sagt Jens Zinke von der University of Leicester. Kristine DeLong, Meereswissenschaftlerin an der Louisiana State University, untersuchte einen Bohrkern, der in 20 Meter Tiefe aus dem Korallenriff West Flower Garden Bank herausgeholt worden war. Auch sie fand Hinweise auf Atomexplosionen, Düngemittel und die Verbrennung fossiler Brennstoffe.

Selbst der Kontinent, der am weitesten von großen menschlichen Siedlungen entfernt ist, erzählt die Geschichte des Anthropozäns. Liz Thomas vom British Antarctic Survey hat deshalb einen Standort in der Region Palmer Land auf der Antarktischen Halbinsel als Referenzort vorgeschlagen. »Der Ort ist 700 Kilometer von der nächsten menschlichen Aktivität, einer Forschungsstation, entfernt«, sagt sie. Doch als sie und ihre Kollegen einen Eisbohrkern von dort untersuchten, fanden sie ähnliche radioaktive und chemische Spuren wie an anderen Standorten, wenn auch in geringerer Konzentration. Am wichtigsten findet sie, dass die im Eis eingeschlossenen Luftblasen etwa ab dem Ende des 19. Jahrhunderts eine deutliche Zunahme von CO2und Methan festgehalten haben.

In diesen Tagen im April 2023 zerbrechen sich die 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der AWG den Kopf, welcher Ort die neue Erdepoche repräsentieren soll. Ihre Entscheidung wollen sie Anfang Juni am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin publik machen. Anschließend wird die Expertengruppe ihren vollständigen Antrag, das Holozän zu beenden und das Anthropozän auszurufen, bei der Internationalen Kommission für Stratigraphie einreichen. Dann muss der Vorschlag der AWG auch Kritiker der Anthropozän-Hypothese überzeugen, von denen es einige gibt. Nach drei positiven Abstimmungen würde dann am Ende des Prozesses die Internationale Vereinigung der Geowissenschaften das Anthropozän formal ausrufen und zum neuen Standard und Schulbuchwissen erklären.

Auch wenn es beim aktuellen Wettbewerb nicht um Schönheit geht, sondern um Spuren von Umweltzerstörung – einen Vorteil gibt es für den Gewinner-Ort doch: An einem GSSP schlagen Geologen traditionell einen großen goldenen Nagel ein. Die Bekanntheit steigt. Und zudem sehen es die Wissenschaftler als ihre Pflicht an, darüber zu wachen, dass ihr Referenzpunkt für alle Ewigkeit erhalten bleibt. Ob Moore, Korallenriffe oder Meeresboden – alle beteiligten Geologen hoffen, dass ein Sieg im Anthropozän-Wettbewerb dabei helfen könnte, den Schutz dieser Lebensräume populärer zu machen.

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