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Antikes Grab: Das Rätsel um die Frauen aus der Fremde

In der Negev entdeckten Archäologen Gräber mit dutzenden Skeletten, Schmuck und Talismanen. Die Vermutung: Die Funde zeugen vom Menschenhandel mit Frauen auf einer Karawanenroute.
2500 Jahre alte Gräber in der Negev
Im Süden Israels, in der Negev, legten Archäologen eine außergewöhnliche Grabanlage frei. Sie besteht aus zwei zirka 2500 Jahre alten Bauten. Zwischen beiden verlief eine Hofmauer (im Vordergrund).

Auf den ersten Blick sah es einfach nur wie ein Steinhügel aus. Einer von sehr vielen, die Bewohner jener Wüstenregion schon ab der frühen Bronzezeit, im 3. Jahrtausend v. Chr., teils als Grabstätten, teils als Ritualplätze erbaut hatten. Was sollte es anderes sein, hier mitten in der Negev weitab aller bekannter Siedlungen des Altertums? Von einem erwartbaren Ergebnis gingen auch Martin Pasternak und Tali Erickson-Gini von der israelischen Altertümerbehörde aus, als sie 2021 mit ihrer Rettungsgrabung begannen. Etwa 30 Kilometer südlich der Stadt Be'er Scheva, beim Kibbuz Tlalim, sollte eine neue Wasserleitung verlegt werden, und die Archäologen untersuchten vorab die Baufläche. Doch statt eines bronzezeitlichen Wüstenmonuments entdeckten sie eine Grabanlage, die sich als viel jünger und rätselhafter erwies, als die beiden Forscher und ihr Team vermutet hatten.

Im Inneren der Bauten stießen die Ausgräber auf die Überreste von rund fünf Dutzend Menschen. Zwischen den Toten lag ein Beigabensammelsurium, das aus verschiedenen Ecken der Alten Welt stammte. Und die Verstorbenen selbst waren, wie vorläufige Analysen ergaben, offenbar ausschließlich Frauen gewesen.

Obwohl noch einige Untersuchungen ausstehen, wagten Grabungsleiter Pasternak und seine auf antike Wüstenkulturen spezialisierte Kollegin Erickson-Gini 2023 in der Fachzeitschrift »Tel Aviv – Journal of the Institute of Archaeology of Tel Aviv University« eine erste Interpretation der Funde. Was als gesichert gelten darf: Bei ihren Grabungen hatten sie die Grundmauern zweier sorgfältig aus Bruchsteinen errichteter Grabbauten frei gelegt. Beide Gebäude sind quadratisch, das eine mit sieben Meter Kantenlänge ist deutlich größer als das andere, das viereinhalb Meter je Seite misst. Das Innere bestand jeweils aus einer einzelnen Grabkammer, in deren Mitte ein oder zwei Pfeiler einst ein Dach aus Steinplatten getragen hatten. In nächster Nähe der zwei Bauten verlief zudem eine Mauer und umgrenzte einen Hof vor den Gräbern.

Im größeren Bau dokumentierten die Archäologen mindestens 50 Bestattungen, im kleineren fanden sie immerhin sieben Skelette. Ersten anthropologischen Untersuchungen zufolge waren hier überwiegend oder wahrscheinlich sogar nur Frauen beerdigt worden. Überreste von Kindern fanden sich keine. Weil der Fund für die Region bislang einzigartig ist, musste die Grabanlage dann auch nicht der Wasserleitung weichen: Die israelische Altertümerbehörde ließ die beiden Gebäudereste mittlerweile restaurieren, um sie als wichtiges archäologisches Denkmal zu erhalten.

Großmächte kämpften um die Levante

Zwar steht eine Altersbestimmung der Knochen mittels der 14C-Methode noch aus, aber die Grabbeigaben lassen sich stilistisch, also nach Form und Machart, in die späte Eisenzeit II und die anschließende Phase der persischen Oberherrschaft datieren – demnach grob um 500 v. Chr. Damals kämpften die Großmächte des Vorderen Orients, Ägypter, Assyrer, Babylonier, um die Macht über den Küstenstreifen der Levante. Immer wieder fielen die Städte den Invasoren in die Hände oder ihre Fürsten mussten ihnen als Vasallen dienen. Um 600 v. Chr. hatte das neubabylonische Reich die Region unterworfen. Bibelarchäologisch ist dies die Phase, als König Nebukadnezar II. die Oberschicht des Volkes Israel nach Babylon deportieren und 587/586 v.Chr. den ersten jüdischen Tempel in Jerusalem zerstören ließ. Erst der Perserkönig Kyros II. soll 539 v. Chr., nachdem er Babylon eingenommen hatte, die Kriegsgefangenen wieder in ihre Heimat zurückgeschickt haben. Mit der Eroberung der mesopotamischen Metropole hatten sich die Perser auch die Levante einverleibt und herrschten dort bis 332 v. Chr.

»In situ« | Die Toten trugen bei der Bestattung Schmuck wie diesen Fesselreif, der um den Beinknochen liegt.

In dieser Phase der babylonischen und persischen Herrschaft dürften die meisten Beigaben aus den Bauten bei Tlalim entstanden sein. Die Ausgräber fanden Armreife, Ringe, Fibeln, Perlen und Skarabäen, ferner Keramik- und Alabastergefäße sowie Gehäuse von Kaurischnecken aus dem Roten Meer. Auffällig ist die Herkunft der Stücke aus den unterschiedlichsten Regionen der Alten Welt – vom westlichen Mittelmeerraum bis nach Südarabien. Von einem regelrechten »Kultursalat« sprachen die Archäologen Pasternak und Erickson-Gini gegenüber der israelischen Tageszeitung »Haaretz«.

Die beiden Wissenschaftler versuchten sich an einer Erklärung für die rätselhaften Funde. Sie betonen aber auch, dass weitere Analysen durchaus für Korrekturen sorgen könnten. Wann es allerdings neue Ergebnisse geben wird, sei nicht absehbar, sagt Tali Erickson-Gini. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel im Herbst 2023 mussten die Forscher die wissenschaftliche Arbeit an den Knochen aussetzen. »Leider werden die menschlichen Überreste in einem Gebiet im Norden Israels untersucht, das seit dem 7. Oktober ständig angegriffen wird«, teilt die Archäologin mit. So kommt es an der Grenze zum Libanon immer wieder zu Gefechten zwischen Israel und der Hisbollah. Es gebe daher noch keine Neuigkeiten über die Skelette aus Tlalim, so Erickson-Gini.

Unweit einer Kreuzung wichtiger Karawanenrouten

Was bei Tlalim ans Licht kam, liefert den Ausgräbern jedoch genügend Stoff für plausible Thesen. Angefangen beim Fundort: In der Zeit, als die Toten beigesetzt wurden, gab es in dieser Gegend keine Siedlungen. In der Nähe existieren zwar Überreste von Festungen aus der Perserzeit, diese waren aber erst später während der persischen Herrschaft errichtet worden. So viel jedenfalls scheint sicher, denn die Region gilt laut Erickson-Gini als gut erforscht. Die Wissenschaftlerin ist auch überzeugt, dass die beiden Bauten nicht von Nomaden stammten, die ihre Grabanlagen in der Regel weniger aufwändig anlegten und kaum derart viele Artefakte hinterließen. Der Grabort war aber offenbar nicht willkürlich gewählt worden. Er lag unweit der Kreuzung wichtiger Karawanenrouten, die die Region mit Ägypten, Gaza am Mittelmeer und dem Süden des heutigen Jordanien vernetzten. Für die Archäologen liegt damit nahe: Die Gräber standen mit vorbeiziehenden Handelsleuten in Verbindung.

Wie die bisherigen Forschungen zeigten, waren die Verstorbenen sorgfältig beigesetzt und wahrscheinlich Bestattungsrituale für sie vollführt worden. So waren die Alabastertöpfchen und Räuchergefäße nach Ausweis der Bruchstellen mit einem einzigen Hieb absichtlich – und demnach wohl rituell – zerschlagen worden. Ein solcher Totenbrauch ist beispielsweise auch für das pharaonische Ägypten bezeugt, als das »Zerschlagen der roten Töpfe«. Außerdem entdeckten die Ausgräber im Boden der Grabbauten und im Hof davor dunkle Verfärbungen, die von Asche herrühren. Sie vermuten: Man hatte an diesen Stellen irgendetwas verbrannt, angesichts der entdeckten Räuchergefäße vielleicht Weihrauch für ein Ritual.

Die Verfärbungen sind ein wichtiges Indiz. Sie helfen aufzuklären, ob die bei Tlalim Bestatteten zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder gleichzeitig gestorben waren, etwa durch eine Seuche oder bei einem Überfall auf ihre Karawane. Die mutmaßlichen Weihrauchspuren lassen sich als Überreste häufiger Bestattungszeremonien deuten. Für die Beisetzung der Toten über einen längeren Zeitraum hinweg spricht zudem, dass manche Knochen in den Kammern ungeordnet übereinanderlagen, während andere Skelette im anatomischen Verbund aufgefunden wurden. Offenbar, so erklären die Ausgräber die Fundsituation, waren ältere Überreste zur Seite geräumt worden, um für später Verstorbene Platz zu schaffen.

Eine Grabanlage für Reisende?

Dennoch wollen Pasternak und Erickson-Gini nicht ausschließen, dass alle Bestatteten zu einem ähnlichen Zeitpunkt gestorben waren. Kamen die Menschen gewaltsam ums Leben, sollten sich bei den anthropologischen Untersuchungen Verletzungsspuren an den Knochen finden lassen. Einen solchen Befund kennen die Forscher aus der Oase Ein Ziq, ebenfalls in der Negev. Um 200 v. Chr. waren dort 21 Frauen und Kinder sowie vier Männer verscharrt worden. Wie die Bauten bei Tlalim befand sich das Massengrab nicht in der Nähe zeitgleicher Fundplätze. Die zum Teil heftigen Schlagverletzungen an den Skeletten sprechen dafür, dass die Menschen Opfer einer Gewalttat wurden, vielleicht sogar eines Karawanenüberfalls. Doch anders als die Toten von Tlalim, die sorgfältig in Bauten beigesetzt wurden, waren in Ein Ziq die Leichen achtlos in ihr Grab geworfen worden. Erickson-Gini und Pasternak vermuten daher: Die Menschen waren nicht zum selben Zeitpunkt, aber womöglich während der Reise auf einer der Handelsrouten umgekommen und in die Gräber in der Negev überführt worden.

Sobald Fachleute die menschlichen Überreste eingehend untersucht haben werden, wird sich wohl herausstellen, ob tatsächlich nur oder überwiegend Frauen bei Tlalim ihre letzte Ruhe fanden. Die Beigaben legen jedenfalls nahe, dass es sich um ein Frauenmausoleum handelte. Außer zwei Pfeilspitzen aus Eisen fanden sich keinerlei Waffen, nicht einmal ein Messer. Dafür gab es reichlich Schmuck, vor allem hunderte Perlen aus Karneol, Lapislazuli und anderen Halbedelsteinen. Zudem kamen Armreife aus einer Kupferlegierung, aus Dromedarknochen geschnitzte Ringe und ein metallener Klappspiegel zum Vorschein. Das möglicherweise exotischste Accessoire dürfte eine Kupferfibel sein, für die vergleichbare Stücke aus Frauengräbern in Südeuropa bekannt sind.

Aus dem damaligen Umfeld der Grabbauten stammt ein kleines Keramikgefäß, in dem man offenbar Weihrauch verbrannt hatte. Weitere Tonbehälter kamen aus den eisenzeitlichen Königreichen der Region, aus den phönizischen Stadtstaaten an der heutigen libanesischen Küste und aus Zypern. Über die Handelskontakte der Phönizier könnte auch eine bunte Augenperle aus dem westlichen Mittelmeerraum in die Levante gelangt sein. Die fünf entdeckten Skarabäen sind, wie die Ritzbilder auf der glatten Unterseite bezeugen, teils ägyptischen Ursprungs, teils waren sie in phönizischen Werkstätten entstanden. Sicher aus dem Niltal stammt ein kleines Amulett in Gestalt des zwergenhaften Bes. Diesen ägyptischen Gott verehrten die Menschen als Beschützer von Frauen und Kindern.

Meeresschnecken als Fruchtbarkeitssymbol

Als Talisman hängten sich die alten Ägypterinnen bereits im 2. Jahrtausend v. Chr. auch Meeresschnecken um. Und zwar solche der Gattung Cypraea. In den Tlalim-Gräbern fanden die Archäologen faustgroße Exemplare jener Kaurischnecken. In Ägypten trugen Frauen die Schnecken, um ihre Fruchtbarkeit zu garantieren. Die Idee kam möglicherweise auf, weil die Öffnung an der Unterseite der Gehäuse an das weibliche Geschlechtsorgan des Menschen erinnert. Denkbar ist, dass die in der Negev bestatteten Frauen die Meeresschnecken ebenfalls als Talisman mit sich führten.

Alabaster | In dem Steingefäß, das wahrscheinlich aus Südarabien in die Negev gelangte, hatte man Weihrauch aufbewahrt.

Die Exemplare aus den Grabbauten ließen sich drei verschiedenen Arten zuordnen: Cypraea pantherina, Mauritia grayana und Mauritia arabica asiatica, die allesamt im Roten Meer beheimatet sind. Ihre Herkunft ist damit zweifelsfrei geklärt – sie weist nach Süden.

Auf Grund der Beigaben sieht es so aus, als hätte man Frauen aus verschiedenen Teilen der damals bekannten Welt bei Tlalim bestattet. Doch die Fundsituation lässt sich auch anders erklären. Die Gegenstände könnten über die Handelsrouten, die unweit der Grabbauten verliefen, in die Negev gelangt sein. Dennoch falle laut Pasternak und Erickson-Gini eine Herkunftsregion besonders ins Gewicht: der südarabische Kulturkreis. So berichtet Erickson-Gini, ihr Kollege Jacob Vardi von der israelischen Altertümerbehörde habe unter den Funden kleine Feuersteinklingen ausgemacht, »wie sie ebenfalls in Arabien gefunden wurden«. Zudem seien vergleichbare Alabaster- und Räuchergefäße wie aus Tlalim nur aus dem Süden der Arabischen Halbinsel bekannt. Von dort brachten Kaufleute den Weihrauch in die Levante. Der Stoff besteht aus dem Harz des Boswelliastrauchs, einer bezüglich Boden und Klima anspruchsvollen Pflanze, die heute noch ausschließlich im Grenzgebiet zwischen Oman und Jemen am Südende der Arabischen Halbinsel gedeiht.

Bereits die Lage der Gräber bei Tlalim – nahe antiker Handelsrouten – werteten die Archäologen als Indiz dafür, dass die Bestatteten mit dem Karawanengeschäft in Verbindung standen. Darauf deutet auch der Fund einer Feinwaage aus Metall samt den zugehörigen Gewichten hin, die bei den Toten lagen. Das Fundensemble könnte, so vermuten es Pasternak und Erickson-Gini, »dazu gedient haben, Edelmetalle oder Weihrauch zu wiegen«.

Der Typus Gemeinschaftsgrab kam aus Südarabien

Die Kaurischnecken, die Alabaster- und Räuchergefäße – diese Funde lotsten die Ausgräber bereits in den Süden der Arabischen Halbinsel. Von dort zogen zahlreiche Karawanen gen Norden in den Vorderen Orient. Zudem seien im Altertum »viele Bewohner der Arabischen Halbinsel im Handelswesen beschäftigt gewesen«, schreiben die beiden Archäologen in ihrer Studie. Sie halten es deshalb für wahrscheinlich, dass südarabische Händler den Grabkomplex bei Tlalim nutzten. Aus dem Süden der Arabischen Halbinsel kennen Fachleute anders als aus der Negev auch Überreste ähnlicher Gemeinschaftsgräber.

Funde | In den Gräbern kamen Skarabäen zum Vorschein, oben links ein Exemplar mit dem Bild eines Greifen, eines geflügelten Löwen mit Vogelhaupt. Es fanden sich zudem Kaurischnecken (oben rechts), ein Amulett in der Form des zwergenhaften ägyptischen Gottes Bes (Mitte links, vier Ansichten) und eine Augenperle (Mitte rechts). Die Bruchstücke aus gebranntem Ton (unten) stammen von einem kleinen Altar, auf dem vermutlich Weihrauch verbrannt wurde.

Konkret verweisen die Forscher auf Beispiele in Dubai, im Oman und im Jemen. Ein ebenso altes Sammelgrab wie bei Tlalim ist überdies aus der Oase Tayma im Norden der Arabischen Halbinsel bekannt. Wer siedelte vor rund 2500 Jahren in diesen Wüstenregionen? Zwei Völkerschaften sind überliefert: die Kedariten, die den nördlichen Abschnitt der Weihrauchstraße, also Nordarabien und die Negev, kontrollierten; und das Königreich der Minäer, ein Handelsvolk aus dem heutigen Jemen, das um 400 v. Chr. entlang der Weihrauchstraße strategisch wichtige Oasen besetzte, bis es weite Teile jener Route beherrschte.

Um das Rätsel der Frauen von Tlalim zu lösen, suchten Erickson-Gini und Pasternak auch in Schriftquellen nach Indizien. Fündig wurden sie in den Überresten eines minäischen Staatstempels im Nordwesten des heutigen Jemen. Inschriften dort nennen die überwiegend ausländischen Namen von rund 80 Frauen, die Minäer geheiratet hatten. Hatte man diese Frauen nach Arabien verschleppt? Und war den Frauen, die man in den Wüstengräbern bei Tlalim bestattet hatte, ein ähnliches Schicksal widerfahren? Erickson-Gini und Pasternak halten es für wahrscheinlich, dass die Toten einst Sklavinnen waren. Sklavinnen, die minäische oder kedaritische Händler eigentlich aus der Levante nach Arabien verbringen wollten. Das legen die Schriftquellen nahe.

Allerdings wirft diese These neue Fragen auf. Warum errichtete man für Sklavinnen eine aufwändige Grabstätte, hielt für sie Totenrituale ab und überließ ihnen wertigen Schmuck? In diesem Zusammenhang ist ebenfalls noch unklar, warum es bei Tlalim zwei Bauten gibt und weshalb die große Grabkammer geradezu überfüllt mit Skeletten war, während in der kleinen lediglich sieben Tote lagen. Waren die Menschen vielleicht von unterschiedlicher sozialer Herkunft gewesen? Mit dem derzeitigen Wissensstand lassen sich diese Fragen nicht zweifelsfrei klären. Die Verstorbenen waren jedoch sehr wahrscheinlich mit Karawanen unterwegs.

Herodots Märchen über die Tempelprostitution

Aus Schriftquellen leiten die beiden Archäologen noch eine weitere Erklärung ab: Frauen, die über weite Distanzen der antiken Welt reisen mussten, sollten in ihrer neuen Heimat womöglich als Konkubinen oder Tempelprostituierte dienen. Die rituelle Prostitution gilt in den Altertumswissenschaften als gut belegtes Phänomen der Antike. Fachleute verstehen darunter das Erbringen sexueller Dienstleistungen in einem Kult »als heiligen, der Gottheit wohlgefälligen oder gar von ihr geforderten Vorgang«, wie die Althistorikerin Tanja Scheer von der Universität Göttingen im Sammelband »Tempelprostitution im Altertum – Fakten und Fiktionen« erklärt. Allerdings konnte Scheer gemeinsam mit Fachkollegen nachweisen, dass es für diese spezielle Form des Rituals keine belastbaren Zeugnisse gibt, weder für die alten Kulturen des Mittelmeerraums noch für die Zivilisationen im Vorderen Orient.

Schmuckstücke | In den Gräbern bei Tlalim dokumentierten die Archäologen zahlreiche Schmuckobjekte, die sie inzwischen auch restaurieren ließen.

Als Kronzeuge der Tempelprostitution gilt gemeinhin Herodot. Der griechische Historiker berichtete im 5. Jahrhundert v. Chr. über die Sexualsitten fremder Völker, darunter auch die der Babylonier: Ihre »hässlichste Sitte« sei, dass »jede Babylonierin sich einmal in ihrem Leben in den Tempel der Aphrodite begeben, dort niedersitzen und sich einem Mann aus der Fremde preisgeben« muss. Wie die Althistorikerin Maria Brosius darlegt, ist ein derartiger Kult in Babylon jedoch nur von über Herodot überliefert. Seine Passage wird daher »von Altorientalisten als unhistorisch verworfen«, schreibt die Expertin in »Tempelprostitution im Altertum«.

Offenbar bezweckte der Grieche mit solchen fiktiven Anekdoten, fremde Völker als unmoralisch und unzivilisiert anzuprangern. Doch was bleibt, ist das Fazit: Für das Altertum ist die Sitte der Tempelprostitution nicht wirklich bezeugt.

Kaurischnecken im Kult

Dass die Frauen von Tlalim in Kulten oder Tempeln tätig waren, ist damit jedoch nicht ausgeschlossen (nur nicht für sexuelle Dienste). Eine weitere Spur, die Erickson-Gini und Pasternak aufnehmen, führt über die Kaurischnecken. Frauen trugen sie im Altertum als Talisman. Solche Gehäuse waren meist kleinformatig. Faustgroße Exemplare, wie sie in den Gräbern von Tlalim lagen, tauchten bislang nur in kultischen Kontexten auf, etwa im so genannten Löwen-Greifen-Tempel in der Nabatäerhauptstadt Petra im heutigen Jordanien oder erst im Herbst 2022 in einem Kultschrein der ägyptischen Hafenstadt Berenike.

Die Gräber bei Tlalim scheinen allerdings keine Kultstätten gewesen zu sein, jedenfalls hat sich bislang keine derartige Nutzung erwiesen. Falls das Grabmal religiöse Zwecke erfüllte, war der Standort vielleicht bedeutsam: Einige alte Kulturen verehrten an Wegkreuzungen weibliche Schutzgottheiten. Die Griechen etwa die Göttin Hekate, die in Gestalt von drei Frauen alle Arten von geografischen, geistigen und körperlichen Übergängen behütete. Und im Alten Testament im Buch Hesekiel (21, 26) befragt beispielsweise der König von Babylon an einer Weggabelung diverse Orakel. Sollte die Nähe zur Kreuzung von Handelsrouten für die Menschen wirklich eine kultische oder gar magische Bedeutung gehabt haben, so lässt sie sich heute kaum fassen. Es bleibt momentan nur eine Idee der Forscher.

Konkubinen, Kultdienerinnen, Sklavinnen oder doch jemand ganz anderes? Und vielleicht nicht nur Frauen? Die ausstehenden Untersuchungen werden sicher zeigen, welche Theorien Bestand haben und welche verworfen werden müssen. So oder so: Die Grabanlage von Tlalim ist eine Seltenheit und birgt wohl noch so manches Rätsel.

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  • Quellen

Guzmán, J. O. et al.:A falcon shrine at the port of Berenike (Red Sea Coast, Egypt). American Journal of Archaeology 126, 2022

Pasternak, D. M., Erickson-Gini, T.:The Secret in the desert: Preliminary conclusions from the excavation of a unique burial complex in the Negev highlands. Tel Aviv. Journal of the Institute of Archaeology of Tel Aviv University 50 (1), 2023

Scheer, T. S., Lindner, M. (Hg.):Tempelprostitution im Altertum – Fakten und Fiktionen. Berlin 2009

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