Onkologie: Molekulare Lenkwaffen gegen Krebs
In der langen Geschichte der Tumormedizin gehörte die Zulassung von Trastuzumab im Jahr 1998 zu den Lichtblicken. Das Medikament gegen Brustkrebs war das erste, das zielgerichtet ein tumorspezifisches Protein aufspürte und dadurch Krebszellen präzise identifizierte und abtötete. In den mehr als 25 Jahren, die seither vergangen sind, haben fast drei Millionen Betroffene den Wirkstoff erhalten. Mit überwältigendem Erfolg: Die 10-Jahres-Überlebensraten sowie der Anteil der Fälle, in denen die Tumorerkrankung komplett zurückgedrängt wurde, sind dadurch drastisch gestiegen. Was einst zu den schlimmsten medizinischen Diagnosen gehörte, hat so seinen Schrecken zum Teil verloren.
Doch der Arzneistoff hat einen Nachteil. Seine Zielstruktur ist ein Protein namens HER2, daher wirkt er am besten gegen Tumoren, deren Wachstum von diesem Eiweiß angetrieben wird. Solche Geschwulste finden sich aber nur bei etwa jeder fünften Person mit Brustkrebs. Für die übrigen 80 Prozent bietet Trastuzumab keinen Nutzen.
Medizinerinnen und Mediziner versuchten deshalb, das Konzept der zielgerichteten Krebstherapien zu erweitern. Ein 2022 vorgestellter neuer Ansatz bestand darin, Trastuzumab mit einem weiteren Antitumorwirkstoff zu verbinden – der giftigen Substanz Deruxtecan, welche die Zellteilung stört. Mit Trastuzumab-Deruxtecan war es erstmals möglich, selbst Tumoren mit verschwindend geringem HER2-Gehalt zu bekämpfen. In klinischen Studien verlängerte das Präparat die Lebensdauer von Brustkrebskranken um mehrere Monate, manchmal länger. Und das bei weniger schweren Nebenwirkungen, als sie bei herkömmlichen Chemotherapien auftreten. Die US-Arzneimittelbehörde FDA ließ das Medikament im Jahr 2022 zu; die europäische Arzneimittelagentur EMA hatte ihm schon Anfang 2021 eine Genehmigung unter besonderen Bedingungen erteilt.
Wirksam trotz Abwesenheit des Zielproteins
2023 gab es noch bessere Nachrichten: Trastuzumab-Deruxtecan scheine sogar gegen Tumoren zu wirken, die so gut wie kein HER2 enthalten. »Das eröffnet ganz neue medizinische Möglichkeiten«, sagt die Onkologin Shanu Modi vom Memorial Sloan Kettering (MSK) Cancer Center in New York City. Sie war an den klinischen Studien beteiligt, die zur Zulassung des Präparats führten. Selbst bei Gewebewucherungen, in denen diagnostische Tests kein HER2 nachweisen konnten, habe die Ansprechrate des Medikaments beinahe 30 Prozent betragen, betont Modi.
Trastuzumab-Deruxtecan gehört zu einer ausgetüftelten Klasse von zielgerichteten Krebsmedikamenten, die klinisch immer bedeutsamer werden – den so genannten Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten (AWK). Sie basieren auf tumorspezifischen Antikörpern, Proteinen des Immunsystems, die charakteristische Bestandteile von Krebszellen erkennen und daraufhin einen Angriff gegen solche Zellen starten. Der Antikörper eines AWK ist mit einer toxischen Fracht verbunden: mit Wirkstoffmolekülen, die als Zellgifte wirken. Weil er zielgerichtet Tumorbestandteile attackiert, verschont er gesunde Zellen, was viele Nebenwirkungen einer herkömmlichen Chemotherapie vermeidet.
Das modulare Prinzip eröffnet zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten. So lassen sich mit ein- und demselben Wirkstoff durch Koppeln mit unterschiedlichen Antikörpern diverse Krebsarten behandeln. Oder man nimmt einen einzelnen Tumor mit verschiedenen AWK unter Beschuss, die jeweils andere Strukturen auf den entarteten Zellen erkennen.
Dutzende innovative Medikamente
Antikörper-Wirkstoff-Konjugate sind nicht völlig neu: Das erste derartige Präparat wurde im Jahr 2000 für den klinischen Einsatz zugelassen. Doch seitdem haben Wissenschaftler komplexe chemische Synthesemethoden entwickelt, die solche Konjugate deutlich wirksamer machen. Zudem ist es gelungen, weitere molekulare Strukturen zu identifizieren, die typisch für Krebszellen sind. Diese Fortschritte haben zahlreiche Neuentwicklungen ausgelöst. 14 verschiedene AWK haben die Zulassung erhalten für die Behandlung von Brust-, Blasen-, Eierstock- und Blutkrebs sowie andere Tumorarten. Zirka 100 weitere befinden sich in der präklinischen Entwicklungsphase. Ein AWK gegen Brustkrebs, bezeichnet mit dem Kürzel T-DM1, hat sich als wesentlich wirksamer erwiesen als Trastuzumab und ist inzwischen zum Standardmittel für die Behandlung früher Krankheitsstadien avanciert.
Angespornt durch die Erfolge, investieren Forschungsteams und Arzneimittelunternehmen ihre Ressourcen in die Entwicklung leistungsfähigerer AWK – darunter solcher, die potenziell als universell einsetzbare Krebsmedikamente dienen könnten. Pharmariesen wie Gilead Sciences, Roche und BioNTech stecken viel Geld in ihre AWK-Programme. Im Oktober 2023 beispielsweise hat Merck vier Milliarden Dollar in eine Partnerschaft mit Daiichi Sankyo gepumpt, einem Biotechunternehmen, das gemeinsam mit AstraZeneca den Wirkstoff Trastuzumab-Deruxtecan herstellt.
Doch die innovativen Medikamente sind mit einigen rätselhaften Problemen behaftet. In manchen Fällen haben AWK unerwünschte Nebenwirkungen, die denen herkömmlicher Chemotherapien ähneln – was schwer zu erklären ist, da die Präparate spezifisch gegen entartete Zellen vorgehen sollten. In Patientenforen gibt es Berichte von Betroffenen, die die Medikamentendosis wegen unerträglicher Übelkeit oder dauerhafter Erschöpfung reduzieren mussten. Solche Nachteile schränken den Nutzen von Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten erheblich ein, weshalb medizinische Fachleute und Pharmaunternehmen händeringend versuchen, die Ursachen dafür herauszufinden.
Herkömmliche Chemotherapien ziehen sowohl Tumor- als auch normales Gewebe in Mitleidenschaft
In der klinischen Studie, die zur Zulassung von Trastuzumab-Deruxtecan führte, hatten die meisten Patienten bereits vorab verschiedene Chemotherapeutika erhalten, insbesondere Zytostatika (Substanzen, die das Zellwachstum beziehungsweise die Zellteilung stören). Unspezifisch wirkende Zytostatika unterscheiden nicht zwischen Krebs- und gesunden Zellen. Jede Zelle, die ihr Erbgut vervielfältigt, ist ihnen gegenüber anfällig, weshalb herkömmliche Chemotherapien sowohl Tumor- als auch normales Gewebe in Mitleidenschaft ziehen. Zwei von drei Menschen, die eine solche Behandlung erhalten, leiden unter Übelkeit, Durchfall, Erschöpfung und anderen unerwünschten Nebenwirkungen. Mitunter sind die Begleiterscheinungen für die betroffene Person genauso belastend wie der Krebs selbst. Sie begrenzen die Dosis, die sich medizinisch vertretbar verabreichen lässt, sowie die tolerierbare Dauer der Behandlung, wodurch der Tumor eine Chance bekommt, resistent dagegen zu werden und erneut zu wachsen.
Aus diesen Gründen suchen Fachleute schon seit vielen Jahren nach alternativen Behandlungsmethoden, die zielgenauer gegen Tumoren wirken und gesundes Körpergewebe dabei aussparen. Die Idee, hierfür AWK zu konstruieren, entstand angesichts der Spezifität von Antikörpern. Ließen sich hochgiftige Wirkstoffe mit Antikörpern koppeln, so die Überlegung, würden die Toxine hauptsächlich Krebszellen erreichen und kaum andere. Obwohl das Konzept sehr einleuchtend schien, gelang es jahrzehntelang nicht, medizinisch nutzbare AWK herzustellen.
Einige der frühen Testpräparate waren schlicht nicht stark genug. In den 1950er Jahren beispielsweise verknüpften Wissenschaftler einen Wirkstoff namens Methotrexat mit einem Antikörper, der auf das carcinoembryonale Antigen zielte, einen der wichtigsten Tumormarker. Sie prüften, ob das Konstrukt geeignet sei, fortgeschrittenen Darm- und Eierstockkrebs bei menschlichen Patienten zu behandeln. Das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat spürte die gewünschten Zielstrukturen auf und koppelte daran, hatte aber nur geringe therapeutische Wirkung. In dem Versuch, den Effekt zu verstärken, testeten Forschungsgruppen anschließend Arzneistoffkandidaten mit deutlich höherer Toxizität. Dabei schossen sie übers Ziel hinaus: Diese Substanzen lösten schwere Nebenwirkungen aus.
Übermäßig verbissene Medikamente
Greg Thurber, Chemieingenieur an der University of Michigan, begann über AWK zu forschen, als er untersuchte, wie Antikörper im menschlichen Organismus ihre Zielstrukturen erreichen. Wenn AWK über den Blutkreislauf in ein Tumorgewebe eingedrungen sind, verlassen sie das Gefäßsystem, attackieren die Krebszellen und töten sie ab. Doch die früh entwickelten Varianten erreichten dabei lediglich Zellen in direkter Nachbarschaft der Blutgefäße. Der Grund: Ihr Antikörperteil band sich zu fest an sein molekulares Ziel. Wie sich herausstellte, nimmt die medizinische Wirkung zu, wenn der Antikörper weniger stark »klammert«. Das heißt, seine Affinität zur Zielstruktur muss so groß sein, dass sie sich auf Krebszellen beschränkt, aber gleichzeitig so klein, dass das Molekülkonstrukt bis ins Innere des Tumors vordringen kann. »In der Realität ist das schwer zu erreichen«, sagt Thurber.
Fortlaufende Optimierungen sowohl am Wirkstoff- als auch am Antikörper-Teil von AWK führten schließlich zu einem hochwirksamen Präparat. Im Jahr 2013 gab die FDA grünes Licht für die Substanz »T-DM1« zur Behandlung von Brustkrebs. Sie basiert ebenfalls auf dem Antikörper Trastuzumab (das »T« in der Bezeichnung). Ihre Wirkstoffkomponente, die am Antikörper hängt, ist zu giftig, um isoliert eingesetzt zu werden. Sie trägt den Namen Mertansin (DM1), greift das Zellskelett an und gehört zu einer ganzen Gruppe von chemisch ähnlichen Naturstoffen mit stark zytotoxischem Effekt, den Maytansinoiden. Jene Substanzen als Antikrebsmittel nutzbar zu machen, scheiterte in früheren klinischen Studien, weil sie den Organismus in nicht akzeptabler Weise vergiften. In Verbindung mit dem Antikörper aber wirken sie so zielgerichtet, dass sie gesunde Körperzellen weitgehend verschonen.
Anfang der 2000er Jahre war die Onkologin Shanu Modi an einer klinischen Phase-1-Studie mit T-DM1 beteiligt. Darin wurden Krebskranke behandelt, die an einer besonders problematischen Form der Krankheit litten: an fortgeschrittenem, metastasiertem HER2-positivem Brustkrebs, der sich im gesamten Körper ausgebreitet hat. Es wurden nur solche Patientinnen und Patienten in die Studie aufgenommen, für die es keine anderen Therapiemöglichkeiten mehr gab. Bei fast allen von ihnen besserten sich die Symptome infolge der Behandlung, wie aus den 2010 veröffentlichten Ergebnissen hervorging.
Dem alleinigen Antikörper überlegen
In einer weiteren Studie mit rund 1500 Patientinnen mit Brustkrebs im Frühstadium zeigte sich der gesundheitliche Nutzen noch deutlicher. 88 Prozent der Betroffenen, die T-DM1 erhalten hatten, waren drei Jahre später krebsfrei, verglichen mit 77 Prozent jener, die lediglich Trastuzumab bekommen hatten – so das Ergebnis einer 2019 veröffentlichten Zwischenanalyse. »Das Medikament hat sich damit als »wirksamer als die meisten anderen Therapien erwiesen, über die wir derzeit verfügen, und das bei zugleich höherer Anwendungssicherheit«, betont Modi.
»Das Medikament T-DM1 hat sich als wirksamer als die meisten anderen Therapien erwiesen, über die wir derzeit verfügen, und das bei zugleich höherer Anwendungssicherheit«Shanu Modi, Onkologin am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York City
Der klinisch nachweisbare Nutzen von T-DM1 hat das Interesse an Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten geschürt und die Pharmaindustrie dazu veranlasst, viel Geld in die Entwicklung solcher Präparate zu investieren. Dank der AWK-Technologie können jetzt auch Wirkstoffe eingesetzt werden, die für sich allein zu toxisch dafür sind. Das eröffnet einen Zugang zu Medikamenten, die besser funktionieren als herkömmliche Chemotherapeutika.
Mehrere ähnlich konzipierte AWK sind inzwischen für die Behandlung von Krebserkrankungen zugelassen. Viele von ihnen enthalten Wirkstoffe, die das Enzym Topoisomerase 1 hemmen, das für die DNA-Vervielfältigung unerlässlich ist. Genau wie Mertansin, die giftige Fracht von T-DM1, sind Topoisomerase-Inhibitoren in der Regel ebenfalls zu toxisch, um als eigenständige Medikamente eingesetzt zu werden. Wenn man ihre Wirkung aber weitestgehend auf Tumorzellen beschränkt, was mit AWK möglich ist, lassen sie sich als Arzneistoffe nutzen. Es könnte sogar sein, dass man Krebserkrankungen im Frühstadium damit nicht bloß verlangsamen, sondern sogar heilen kann. Für T-DM1 laufen hierzu aktuell klinische Untersuchungen.
Sicherungsstifte an der pharmazeutischen Handgranate
Wie gut AWK wirken, hängt maßgeblich von den molekularen Verbindungsstücken ab, den »Linkern«, die Antikörper und Wirkstoff miteinander verknüpfen. Sie sind quasi die Sicherungsstifte an der pharmazeutischen Handgranate: Sie müssen verlässlich intakt bleiben, bis das Konjugat sein Ziel erreicht hat, und sich dann ebenso zuverlässig lösen, um die tödliche Fracht freizusetzen und damit die Tumorzellen zu eliminieren. Einige der frühen AWK-Entwicklungen scheiterten nicht an mangelhaften Antikörpern oder ineffizienten Wirkstoffen, sondern an instabilen Verbindungsstücken.
Moderne AWK arbeiten mit zwei Arten von Linkern. Die eine bleibt intakt – selbst dann, wenn das Molekülkonstrukt seinen Bestimmungsort erreicht hat. Die andere wird in der Nähe der Krebszellen gespalten, ausgelöst von tumorspezifischen Faktoren – zum Beispiel von Enzymen, die nur in den Zellzwischenräumen der Geschwulst vorkommen. Sobald ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat ins Tumorgewebe eingedrungen ist, durchtrennen diese Enzyme den Linker und setzen die giftige Ladung frei.
Spaltbare Verbindungsstücke bringen im klinischen Einsatz große Vorteile mit sich, deshalb sind mehr als 80 Prozent der derzeit zugelassenen AWK damit ausgestattet. Ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat mit nicht spaltbarem Linker eliminiert nur Zellen, an die es direkt ankoppelt. Besitzt es hingegen zerstörbare Molekülbrücken, kann es seine toxische Fracht in der Nähe benachbarter Tumorzellen freilassen und jene dadurch ebenfalls eliminieren. Fachleute bezeichnen das als Bystander-Effekt. Er kann die Wirksamkeit entsprechender Medikamente deutlich erhöhen, wie Chemieingenieur Greg Thurber betont.
Antikrebsmittel mit achtfacher Giftwirkung
Das Konjugat Trastuzumab-Deruxtecan beispielsweise basiert auf demselben Antikörper wie T-DM1, verfügt im Gegensatz zu Letzterem allerdings über einen spaltbaren Linker und eine andere Wirkstofffracht. Jeder Antikörper ist mit acht Deruxtecan-Einheiten beladen, während es bei T-DM1 nur drei bis fünf Mertansin-Einheiten pro Antikörper sind. In einer kürzlich durchgeführten Studie hat ein Forschungsteam um Sara Hurvitz vom Jonsson Comprehensive Cancer Center in Los Angeles die Wirkungen der beiden Konjugate auf Tumorkranke mit HER2-positivem Brustkrebs verglichen. Trastuzumab-Deruxtecan war der klare Gewinner: Es stoppte das Tumorwachstum im Durchschnitt mehr als zwei Jahre lang, während T-DM1 das nur für sechs Monate schaffte.
Ist der Arzneistoff einmal in die Geschwulst eingedrungen und hat seine Fracht dort abgesetzt, töten die Wirkstoffmoleküle alle Krebszellen in der Nähe
Der Bystander-Effekt hilft zu verstehen, warum Trastuzumab-Deruxtecan sogar gegen Tumoren wirkt, die als »HER2-negativ« gelten: Ist das Konjugat einmal in die Geschwulst eingedrungen und hat seine Fracht dort abgesetzt, töten die Wirkstoffmoleküle alle Krebszellen in der Nähe – selbst wenn die keine HER2-Proteine auf ihrer Oberfläche aufweisen. In klinischen Versuchen kommen diagnostische Tests zum Einsatz, die es ermöglichen, einen Tumor als »HER2-positiv« oder »HER2-negativ« einzustufen. Sie messen den Gehalt des Proteins aber nur relativ grob. Liefern sie ein negatives Ergebnis, bedeutet das üblicherweise, dass maximal zehn Prozent der entarteten Zellen HER2 aufweisen. Der geringe Anteil reicht offensichtlich schon aus, um Trastuzumab-Deruxtecan-Konjugate zum »Abwerfen« ihrer toxischen Fracht zu bewegen, die dann die gesamte Tumormasse schädigt.
Trastuzumab-Deruxtecan ist nicht das einzige AWK, das auf solche Weise wirkt. Das hat unter anderem eine Studie aus dem Jahr 2022 gezeigt, durchgeführt von einem Forschungsteam um Erika Hamilton vom Sarah Cannon Research Institute in Nashville, USA. Demnach hilft ein AWK namens Trodelvy, das auf das Zelloberflächenprotein TROP2 abzielt, bei Patienten mit metastasiertem dreifach negativem Brustkrebs – einer schwer zu behandelnden Krankheit – besser als eine Standard-Chemotherapie. Besonders erstaunlich daran: Das Präparat zeigte sich in jedem Fall wirksamer, unabhängig davon, ob viel oder wenig TROP2 in der Tumormasse präsent war. Hier kam demnach ebenfalls der Bystander-Effekt zum Tragen.
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Die neuen AWK erlauben therapeutische Fortschritte ebenso bei anderen schwer behandelbaren Krebsarten, etwa metastasierendem Blasenkrebs. Im Jahr 2021 hat die FDA sowohl Trodelvy als auch ein weiteres AWK namens Enfortumab-Vedotin zur Behandlung des Leidens zugelassen. 30 Jahre lang war Chemotherapie die Standardbehandlung für diese Krebserkrankung, schildert David Benjamin, der als Onkologe am Hoag Family Cancer Institute in Kalifornien auf Krebserkrankungen des Urogenitalsystems spezialisiert ist. »Jetzt verfügen wir über mehrere neue Behandlungsmöglichkeiten, und zwei davon sind Antikörper-Wirkstoff-Konjugate.« In klinischen Studien hat die gemeinsame Gabe von Enfortumab-Vedotin und einem immunstimulierenden Medikament dazu geführt, dass bei mehr als 60 Prozent der Behandelten die Tumoren ihr Wachstum einstellten oder sogar schrumpften. Bei 30 Prozent der Patientinnen und Patienten, die die Kombination erhielten, verschwand der Krebs vollständig – ein außergewöhnlicher Erfolg.
Unvermeidbare Nebenwirkungen
Leider lassen sich selbst bei den neueren AWK unerwünschte Nebenwirkungen nicht völlig vermeiden. Der Bystander-Effekt, der sie so wirksam macht, kann auf gesunde Zellen ausgreifen, was zu Haarausfall, Übelkeit, Durchfall, Erschöpfung und anderen Begleiterscheinungen führt, die den Folgen einer herkömmlichen Chemotherapie ähneln. Antikörper-Wirkstoff-Konjugate stehen darüber hinaus mit verschiedenen Augenproblemen in Verbindung, die von Bindehautentzündungen bis hin zu schweren Sehbeeinträchtigungen reichen.
Die unerwünschten Nebenwirkungen haben unter anderem damit zu tun, dass es keine Proteinstrukturen gibt, die ausschließlich auf Krebszellen vorkommen. Tumorantigene treten auf der Oberfläche von Krebszellen gehäuft auf, können sich aber ebenso auf normalen Zellen zeigen. AWK greifen deshalb gelegentlich gesunde Körperzellen an – das lässt sich nicht vermeiden. Darüber hinaus werden die Konjugate, genau wie alle anderen Arzneistoffe, am Ende im Organismus verstoffwechselt. Hierbei zerfallen sie in kleinere Einheiten, was zur Folge haben kann, dass sich ihre Wirkstofffracht von den Linkern löst und physiologische Reaktionen bewirkt.
Künftige Antikörper-Wirkstoff-Konjugate könnten so wirksam sein, dass die erkrankten Personen nie die maximal verträgliche Dosis einnehmen müssen. So gelänge es, unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden
Die Möglichkeit, einzelne Bestandteile eines AWK gezielt zu verändern – was bei herkömmlichen Arzneien oft nicht praktikabel ist –, bietet die Chance, Präparate mit weniger Nebenwirkungen und mehr vorteilhaften Effekten zu entwickeln. Gegenwärtig werden die meisten dieser Konjugate in der höchsten Dosis eingesetzt, die aus medizinischer Sicht tolerierbar ist. Das könnte bei künftigen AWK anders laufen. Wenn Fachleute ein Medikament entwickeln, egal ob ein einfaches Schmerzmittel, ein Zytostatikum oder ein AWK, ermitteln sie zunächst die niedrigste Dosis, bei der es wirkt. Anschließend bestimmen sie die maximale Verabreichungsmenge, bei der noch eine akzeptable Anwendungssicherheit gegeben ist. Die Spanne dazwischen, der so genannte therapeutische Bereich, ist in der Regel klein. Aber die Möglichkeit, einzelne AWK-Komponenten gegen weiterentwickelte Versionen auszutauschen, dürfte das Fenster erweitern. Das könnte künftig zur Entwicklung von Konjugaten führen, die so wirksam sind, dass die erkrankten Personen nie die maximal verträgliche Dosis einnehmen müssen. So gelänge es, unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden.
Eine weitere Option ist, keine toxischen Substanzen mehr als Wirkstofffracht zu verwenden. Einige neu entwickelte Antikörper-Wirkstoff-Konjugate kombinieren beispielsweise Antikörper mit immunstimulierenden Substanzen, um die Krebszellen mit den Waffen der Körperabwehr zu schlagen, statt sie zu vergiften. Denkbar ist zudem, radioaktive Isotope an den Antikörper zu koppeln und so zu erreichen, dass sich die strahlenden Substanzen übermäßig stark im Tumorgewebe anreichern. Laut Joshua Drago, Onkologe am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York City, können AWK mit Hilfe geeigneter Linker »theoretisch jede Art von kleinmolekularen Medikamenten zum gewünschten Ziel transportieren«.
Aber schon jetzt sieht es danach aus, als hätten Antikörper-Wirkstoff-Konjugate das Zeug, viele Tumorkranke einer Heilung näherzubringen. Das wäre ein weiterer wichtiger Fortschritt im generationenübergreifenden Kampf gegen Krebs.
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