Gravitationskraft: Antimaterie fällt wie normale Materie nach unten
Die Idee, dass sich Gegenstände anziehen, weil eine Gravitationskraft zwischen ihnen wirkt, soll Isaac Newton im Jahr 1665 oder 1666 gekommen sein, als er einen zu Boden fallenden Apfel beobachtete. »Warum müssen Äpfel immer senkrecht zu Boden fallen, warum nicht seitwärts oder aufwärts, warum immer Richtung Erdmittelpunkt?«, fragte er sich laut seinem Biografen William Stukeley. Es müsse eine Naturkraft geben, schlussfolgerte Newton, durch die eine Masse wie die Erde eine zweite noch auf große Distanzen zu sich ziehe – sei es ein Apfel oder der Mond. Wie aber verhielte es sich mit einem Antiapfel, der vollständig aus Antimaterie aufgebaut ist? Würde dieser auf die gleiche Weise herabstürzen? Spätestens seit im Jahr 1932 das positiv geladene Antielektron, genannt Positron, entdeckt wurde, stellen sich Physikerinnen und Physiker diese Frage. Da sich Antiteilchen in elektrischen oder magnetischen Feldern entgegensetzt zu ihren materiellen Gegenstücken verhalten, könnte das doch auch für Gravitationsfelder gelten – oder?
Zum ersten Mal hat ein internationales Forschungsteam am CERN in Genf nun den direkten Beweis erbracht, dass Antimaterie ebenso wie Materie den Gesetzen der Gravitation unterliegt und nach unten fällt. Die aus rund 70 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen bestehende ALPHA-Kollaboration um ihren Sprecher Jeffrey Hangst von der dänischen Universität Aarhus beschreibt in einem Artikel im Fachmagazin »Nature«, wie sie Antiwasserstoffatome erzeugt, diese zunächst in einer magnetischen Falle festgehalten und anschließend kontrolliert frei gelassen haben. Das Verhältnis der zu Boden sinkenden Antiwasserstoffatome zu solchen, die nach oben aus der Falle entweichen, sei konsistent mit theoretischen Vorhersagen, schreibt das Team. Auch ein Antiapfel würde also auf der Erde nach unten fallen.
»Es ist ein Meilenstein in der Erforschung der Antimaterie«, sagte Jeffrey Hangst laut einer Pressemitteilung des CERN. Zwar hatten theoretische Modelle und indirekte Schlussfolgerungen aus Experimenten schon länger nahegelegt, dass Antimaterie »normal« auf die Gravitation reagiert. Und auch Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie von 1915 besagt, dass alle Objekte, unabhängig von ihrer Masse oder Zusammensetzung, als Reaktion auf die Schwerkraft auf die gleiche Weise in den freien Fall geraten sollten. Aber: »In der Physik weiß man etwas erst dann wirklich, wenn man es gesehen hat. Dies ist das erste direkte Experiment, bei dem tatsächlich ein solcher Gravitationseffekt beobachtet wurde«, wird Hangst weiter zitiert.
Enorme technische Herausforderung
Der experimentelle Nachweis war eine enorme technische Herausforderung, weil die Gravitation verglichen mit elektromagnetischen Kräften sehr schwach ist. Schon ein elektrisches Feld von einem Volt pro Meter zieht 40 Billionen Mal stärker an einem geladenen Antimaterieteilchen als die Schwerkraft der Erde. Zudem ist Antimaterie extrem flüchtig. Sobald zum Beispiel ein Positron auf ein Elektron trifft, zerstören sich die beiden Teilchen. Nach dieser »Annihilation« bleibt nur Energie in Form von Strahlung übrig. Es musste also erst einmal ein Apparat gebaut werden, der all diese Probleme überwindet.
Die Forschungsgruppe stellte die Antiwasserstoffatome her, indem sie mit dem »Antiproton Decelerator« am CERN negativ geladene Antiprotonen erzeugte, diese abkühlte und sie mit Positronen aus einer radioaktiven Natrium-22-Quelle verband. Anschließend wurden die neutralen – aber leicht magnetischen – Antimaterieatome in einer magnetischen Falle eingeschlossen. Sie verhindert eine Berührung und somit die Annihilation mit normaler Materie aus der Umgebung. Daraufhin drosselten die Wissenschaftler die Magnetfeldstärke der Fallen und beobachteten, was geschah. Die Messung ergab: Rund 80 Prozent der Antiwasserstoffatome fielen nach unten. Das entspricht dem Verhalten, das laut Computersimulationen normaler Wasserstoff unter den gleichen Bedingungen gezeigt hätte.
Irgendeinem bislang unerklärlichen Ungleichgewicht haben wir es zu verdanken, dass es uns gibt
Doch warum sind solche Messungen überhaupt spannend und relevant? Es ist nicht selbstverständlich, dass die träge Masse eines Objekts, mit der es sich einer Beschleunigung widersetzt, dieselbe grundlegende Eigenschaft ist wie seine schwere Masse, die sich aus der auf das Objekt wirkenden Gravitationskraft ergibt. In der modernen Physik ist die Trägheitsmasse im Standardmodell der Teilchenphysik verankert, während die Gravitationsmasse in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie behandelt wird. Eine vereinheitlichende Theorie fehlt noch.
Das Experiment bestätigt nun also ein weiteres Mal die bislang geltenden Modelle. Es gibt Einsteins so genanntem Äquivalenzprinzip aus der allgemeinen Relativitätstheorie Recht, laut dem sich bezüglich der Schwerkraft alle Massen gleich verhalten, unabhängig von deren Zusammensetzung. Andererseits fehlt damit weiterhin die Antwort auf eine große Frage: Weshalb gibt es heute mehr Materie als Antimaterie? Denn beim Urknall sollte beides zu gleichen Teilen entstanden sein und hätte sich sofort wieder in einer riesigen Annihilation vernichten müssen. Irgendeinem bisher unerklärlichen Ungleichgewicht haben wir es zu verdanken, dass es uns gibt. Eine abstoßend auf Antimaterie wirkende Gravitationskraft scheint jedenfalls nicht der Grund dafür zu sein.
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