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CERN: Erster Antimaterie-Transport außerhalb eines Labors

Fachleute am CERN wollen im Jahr 2025 erstmals Antimaterie von einem Ort zu einem anderen transportieren. Die mysteriöse Substanz könnte ein wichtiges Geheimnis unseres Universums lüften.
Zwei Teilchen umkreisen sich
Trifft Antimaterie auf ihr Gegenstück – gewöhnliche Materie – vernichten sie sich und es wird viel Energie frei. Im berühmten Roman »Illuminati«, beschreibt der Autor Dan Brown den Diebstahl dieser Substanz aus den Laboren des CERN.

Zwei Forschungsgruppen am CERN wollen ein außergewöhnliches Kunststück vollbringen: Sie wollen erstmals Antimaterie quer über den Campus transportieren. Antimaterie ist schwer zu erzeugen und extrem kurzlebig, da sie sich bei Kontakt mit ihrem Gegenstück – der gewöhnlichen Materie – sofort vernichtet. Ein Team will die Antimaterie in ein Labor verfrachten, um sie dort mit größerer Präzision zu untersuchen, während die andere Gruppe den exotischen Stoff auf bestimmte Isotope treffen lassen will, um diese auf neuartige Weise zu studieren. »Wenn das gelingt, öffnen sich viele neue Möglichkeiten«, sagt der Physiker James Dunlop vom Brookhaven National Laboratory in New York.

Jedes Materieteilchen hat ein Antimateriegegenstück: eine Art Spiegelbild, das genau die gleichen Eigenschaften, aber eine entgegengesetzte Ladung besitzt. Theoretischen Modellen zufolge sollten beim Urknall gleiche Mengen an Antimaterie und Materie entstanden sein. Das wirft aber die Frage auf, warum sich dann nicht alles gegenseitig vernichtet hat und warum das Universum jetzt überwiegend aus gewöhnlicher Materie zu bestehen scheint.

Ein Luxusgegenstand

Höchstwahrscheinlich ist Antimaterie die teuerste Substanz auf der Erde: Die Herstellung von nur einem Gramm kostet Billionen von Euro. Das europäische Kernforschungszentrum CERN in der Nähe von Genf ist der einzige Ort auf der Welt, an dem Antiteilchen hergestellt werden, die langsam genug sind, um sie einzufangen und hoffentlich zu transportieren, ohne dass sie zerstört werden. Zwei Projekte – PUMA (antiProton Unstable Matter Annihilation) und BASE-STEP – wollen Antimaterie in der zweiten Jahreshälfte von 2025 zu anderen Laboren transportieren.

Die Teams wollen die Antimaterie aus unterschiedlichen Gründen mit auf die Reise nehmen. BASE-STEP soll Antiprotonen (das Gegenstück zu Protonen) an einen vor Umwelteinflüssen geschützten Ort bringen, um die Teilchen genauer zu untersuchen. PUMA plant, Antiprotonen in eine Anlage zu bringen, wo kurzlebige Isotope hergestellt werden. Die Antimaterie soll Aufschluss über deren Kernstrukturen liefern.

»Diese Art von Lieferservice würde die Nutzung von Antimaterie demokratisieren«Alexandre Obertelli, Physiker

Die erste Reise der Projekte wird nur wenige Stunden dauern und über das Gelände des CERN führen. Die Teams hoffen, künftig auch längere Reisen zu Universitäten in ganz Europa unternehmen zu können, damit mehr Labore die Möglichkeit bekommen, mit Antimaterie zu experimentieren. BASE-STEP würde Antiprotonen gern an die rund 700 Kilometer entfernte Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf transportieren. Diese Art von Lieferservice »würde die Nutzung von Antimaterie demokratisieren«, sagt der Physiker Alexandre Obertelli von der Technischen Universität Darmstadt, der am PUMA-Experiment arbeitet.

Die speziellen »Fallen«, welche die Antiprotonen während ihrer Reise aufbewahren, wurden jahrelang entwickelt. Im Oktober 2024 machte das Team von BASE-STEP eine Probefahrt, bei der sie gewöhnliche Materie in einer solchen Falle auf der Ladefläche eines Lastwagens transportierten. Am 4. Dezember 2024 will die PUMA-Gruppe die leere Falle von der TU Darmstadt, wo sie gebaut wurde, zum CERN bringen. Dort werden die Forschenden Antimaterie in die Falle einsetzen und mit den ersten Tests beginnen.

Um Antimaterie zu bewegen, muss man sie in magnetischen »Flaschen« aufhängen und kühlen. Hierfür sind supraleitende Magnete erforderlich, die die Antiprotonen an ihrem Platz halten, so dass sie schweben, ohne die Wände der Flaschen zu berühren. Ein mobiler Stromgenerator treibt die Magnete an, und ein Kühlsystem hält die Antiprotonen auf eine Temperatur von vier Kelvin (-269 Grad Celsius).

Die vielleicht größte Herausforderung ist die Aufrechterhaltung des Vakuums, das verhindert, dass Materieteilchen auf die Antimaterie treffen. Gleichzeitig müssen Systeme geschaffen werden, um Antimaterie herauszulassen oder für Experimente Isotope in die Falle zu führen. Die gesamte Ausrüstung muss zudem tragbar sein und den Kräften und Vibrationen auf der Straße standhalten. »Ich denke, das ist machbar, aber es ist schwierig«, sagt Dunlop.

Es gibt noch keine offiziellen Vorschriften, wie Antimaterie zu transportieren ist, sagt Obertelli. Der Bestsellerautor Dan Brown weckte in seinem Buch »Illuminati«, in dem Terroristen Antimaterie von CERN stehlen, um es als Bombe zu verwenden, Befürchtungen über die Gefahren der Substanz. Laut Obertelli gibt es aber keinen Grund zur Sorge. Selbst wenn alle Antiprotonen, die PUMA tragen soll, auf einmal vernichtet würden, entspräche die freigesetzte Energie dem Aufprall eines Bleistifts, der von der Höhe eines Tischs fallen gelassen wird, sagt er. »Es gibt nicht einmal einen Knall.«

Grundlegende Forschungsfragen

Das CERN erzeugt Antimaterie im Antiprotonen-Entschleuniger (englisch: Antiproton Decelerator). Darin prallt ein Protonenstrahl auf eine Metallprobe und erzeugt einen Sprühnebel aus schnellen Antiprotonen. Der Entschleuniger nutzt Magnete, elektrische Felder und andere Kühlmethoden, um die Antiprotonen zu bremsen. Jedes der sechs Experimente in der Anlage verlangsamt die Teilchen weiter und fängt sie ein. Obwohl andere Labore auf der ganzen Welt Antimaterie erzeugen – zum Beispiel bei Teilchenkollisionen – ist CERN der einzige Ort, wo die Antiteilchen gelagert und präzise untersucht werden können.

»Wir versuchen zu verstehen, warum wir existieren«Barbara Maria Latacz, Physikerin

Die BASE-Kollaboration, zu der auch BASE-STEP gehört, ist eine von mehreren Gruppen, die am CERN Antimaterie untersuchen. Das Team misst die Eigenschaften einzelner Antimaterieteilchen und vergleicht sie mit denen gewöhnlicher Materie. Die Fachleute suchen nach Unterschieden, die unter anderem erklären könnten, warum die zwei Arten von Materie beim Urknall nicht in gleichen Mengen erzeugt wurden.

»Wir versuchen zu verstehen, warum wir existieren«, sagt die Physikerin Barbara Maria Latacz, die am BASE-STEP am CERN arbeitet. Die Experimente finden derzeit in einem großen Beschleuniger statt, der ein Hintergrundrauschen von magnetischen Streufeldern erzeugt. Deshalb will das Team die Antiprotonen an einen geschützteren Ort bringen, wo präzisere Messungen möglich sind.

BASE-STEP wird nur wenige Teilchen untersuchen und plant daher den Transport von bloß 1000 Antiprotonen in einer Versuchsanordnung, die insgesamt eine Tonne wiegt.

Einblicke in die Tiefen der Materie

PUMA benötigt dagegen mehr als eine Milliarde Antiprotonen. Die Forschenden wollen Antiprotonen zur ISOLDE-Anlage des CERN bringen, wo sie seltene Kerne untersuchen sollen, die zu schnell zerfallen, um selbst transportiert zu werden.

Durch die Einführung dieser Kerne in die Antimateriefalle will das PUMA-Team die Vernichtung von Antiprotonen mit Protonen und Neutronen beobachten. Das wird Fachleuten einzigartige Einblicke in die Struktur der Kerne ermöglichen. Insbesondere soll Antimaterie Informationen über eine »Haut« aus Neutronen liefern, die sich in einigen Isotopen bildet. »Das ist die einzige Möglichkeit, das zu untersuchen«, sagt Obertelli.

Weil PUMA viele Antiprotonen und Instrumente benötigt, um die Isotope einzuspeisen und die Vernichtungen nachzuweisen, umfasst das Experiment ein viel größeres Fallensystem als BASE-STEP mit mehr als zehn Tonnen Ausrüstung. Deshalb kann der schwere Lkw den direkten Weg – der über eine Brücke führen würde, die dem Gewicht des Fahrzeugs nicht standhält – zu ISOLDE nicht einschlagen und muss stattdessen eine kurvenreiche, eineinhalb Kilometer lange Strecke zurücklegen.

»Ich dachte immer, dass der Antiprotonentransport noch viele Jahre entfernt ist«Ina Carli, Physikerin

Beide Teams müssen mehrere Technologien in ein einziges Experiment integrieren und gehen dabei an ihre Grenzen, sagt die Experimentalphysikerin Ina Carli vom TRIUMF-Teilchenphysikzentrum in Vancouver, die im Rahmen des ALPHA-Experiments am CERN Antiwasserstoff untersucht. Selbst ein kleiner Fehler auf der Strecke könnte den Verlust der Antiprotonen bedeuten, und es würde Wochen dauern, einen neuen Versuch vorzubereiten, sagt sie. »Ich dachte immer, dass der Antiprotonentransport noch viele Jahre entfernt ist«, sagt Carli. »Ich bin wirklich aufgeregt und drücke die Daumen.«

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