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Quantenphysik: Ein verdrehtes Material spaltet Elektronen

Eigentlich haben Elektronen die kleinstmögliche elektrische Ladung. Nun haben vier Forschungsgruppen Teilchen mit einem Bruchteil der Elektronenladung nachgewiesen. Normalerweise ist dafür ein Magnetfeld nötig – jetzt gelang es auch ohne.
Viele Kugeln, von denen sich einige in zwei spalten
Elektronen haben keine Ausdehnung und lassen sich somit auch nicht spalten. In Festkörpern können aber Quasiteilchen auftauchen, die bloß den Bruchteil einer Elektronenladung haben.

Die Suche nach neuen Teilchen wird normalerweise mit riesigen unterirdischen Teilchenbeschleunigern in Verbindung gebracht. Sie kann aber auch in normalen Laboren stattfinden, in denen Festkörper auf extrem niedrige Temperaturen abgekühlt werden. Die komplizierten Wechselwirkungen zwischen den unzähligen Elektronen in diesen Stoffen führen zu faszinierenden Phänomenen.

Ein Beispiel dafür ist der fraktionale Quanten-Hall-Effekt. Ein starkes Magnetfeld bringt die Elektronen in manchen zweidimensionalen Materialien dazu, sich so zu verhalten, als würden sie sich in drei (oder mehr) neue Teilchen aufspalten. Diese besonderen Teilchen, so genannte Anyonen, könnten künftig eine wichtige Rolle in der Quanteninformatik spielen. Sie ermöglichen potenziell eine neue Art von Quantencomputern, die deutlich robuster sind als herkömmliche Modelle. Das dafür erforderliche Magnetfeld stellt allerdings ein Hindernis dar. Aber es gibt Hoffnung: Ende September 2023 ist es mehreren Forschungsgruppen gelungen, den fraktionalen Quanten-Hall-Effekt ohne äußeres Magnetfeld zu beobachten, wie sie in vierverschiedenenVeröffentlichungenberichten.

In den meisten Festkörpern bewegen sich die Elektronen so schnell, dass ihre gegenseitige Abstoßung durch die negative Ladung sie kaum beeinflusst. Um den fraktionalen Quanten-Hall-Effekt beobachten zu können, muss man die Elektronen so stark verlangsamen, dass die Abstoßung ihr Verhalten dominiert. Das ist in so genannten Moiré-Materialien möglich. Diese bestehen aus wenigen übereinandergeschichteten Lagen aus Atomgittern, die leicht gegeneinander verdreht sind. Die Schichten erzeugen ein Muster aus abwechselnd hellen und dunklen Flecken, welche die Atome darstellen. Man kann solche Stoffe zum Beispiel aus zweidimensionalen Graphenschichten oder aus Molybdänditellurid (MoTe2), einem Übergangsmetall-Dichalcogenid, aufbauen.

Randströme

Drei Voraussetzungen sind für das seltsame Phänomen nötig

Um den fraktionalen Quanten-Hall-Effekt zu beobachten, müssen die Elektronen jedoch nicht nur langsam sein, sondern auch topologische Eigenschaften besitzen. Das abstrakte mathematische Gebiet der Topologie hat in diesem Zusammenhang konkrete physikalische Auswirkungen: Fließen die Elektronen durch das Material, entsteht nicht nur entlang des Stroms (wie es normalerweise der Fall ist) ein elektrischer Widerstand, sondern auch senkrecht dazu. In bestimmten Stoffen kann ein solcher Hall-Effekt sogar ohne ein äußeres Magnetfeld auftreten. Fachleute bezeichnen das Phänomen als fraktionalen Quanten-Anomalen-Hall-Effekt (FQAHE) – und das entsprechende Material als fraktionalen Chern-Isolator.

Der FQAHE erfordert jedoch eine dritte Bedingung, die noch subtiler ist als die ersten beiden: Die topologischen Eigenschaften müssen gleichmäßig auf die Elektronen verteilt sein, aus denen der elektrische Strom besteht.

Ein Material zu finden, das die drei für den FQAHE notwendigen Eigenschaften besitzt, war eine große Herausforderung. Als Moiré-Materialien erstmals entdeckt wurden, stürzten sich Fachleute vor allem auf gegeneinander verdrehte Graphenschichten. Um den FQAHE zu beobachten, war bei diesem Material jedoch stets ein kleines Magnetfeld nötig. Offenbar fehlt verdrehtem Graphen die dritte Zutat für den FQAHE: Die Topologie scheint unter den Elektronen nicht einheitlich genug verteilt. Um das Problem zu umgehen, wandten sich die Autoren der vier Studien von Graphen ab und griffen stattdessen auf die große Familie von Übergangsmetall-Dichalcogenide zurück.

Ein anderes Material als Hoffnungsträger

Um die Elektronen in MoTe2 zu verlangsamen, muss man zwei Schichten des zweidimensionalen Materials übereinanderlegen und um drei bis vier Grad gegeneinander verdrehen. Dadurch entsteht am Rand der Probe ein Strom aus Anyonen, die jeweils ein Drittel der Elektronenladung haben. Hochwertige MoTe2-Proben mit einem so kleinen Verdrehungswinkel herzustellen, erfordert großen experimentellen Aufwand.

Nachdem den Autoren der vier Studien dieses Kunststück gelungen war, wiesen sie den FQAH auf verschiedene Arten nach. Die Teams um den Physiker Jiaqi Cai von der University of Washington und um Yihang Zeng von der Cornell University haben die elektronischen Eigenschaften des Materials mit Licht untersucht. Das elektromagnetische Feld des Lichts beeinflusste die elektronischen Merkmale auf eine Weise, wie es sich nur durch den FQAHE erklären lässt. Zeng und seine Kolleginnen und Kollegen untermauerten diese Schlussfolgerung, indem sie zudem die lokale elektronische Kompressibilität des Materials untersuchten. Die Gruppe um Heonjoon Park von der University of Washington und um Fan Xu von der Shanghai Jiao Tong University schlugen hingegen einen anderen Weg ein: Sie stellten elektrische Kontakte her, um die transversale elektrische Leitfähigkeit direkt zu messen, einen klaren Hinweis auf den FQAHE.

Eine solche Beobachtung haben Festkörperphysiker mit Spannung erwartet. Die Ergebnisse der vier Fachgruppen könnten zu wichtigen technologischen Anwendungen führen. Bis zum nächsten Meilenstein ist es jedoch noch ein weiter Weg: Anyonen für Quantenberechnungen bereitzustellen. Durch die Kontrolle von Anyonen lässt sich der Quantenzustand eines Festkörpers steuern, mit dem man Informationen speichern und verarbeiten könnte. Solche Quantenberechnungen mit Anyonen könnten viel robuster sein als solche mit bisherigen Qubits. Der aktuell beobachtete FQAHE enthält aber nur die einfachste Art von Anyonen, so genannte abelsche Anyonen. Für Quantenberechnungen sind allerdings nichtabelsche Anyonen nötig, die noch schwerer zu fassen sind als die in diesen vier Studien untersuchten.

Eine Möglichkeit, nichtabelsche Anyonen zu erzeugen, könnte darin bestehen, ein Material mit abelschen Anyonen mit einem Supraleiter zu verbinden. Der Supraleiter könnte theoretischen Überlegungen zufolge die Kantenströme in nichtabelsche Exemplare umwandeln. Da Magnetfelder die Leitfähigkeit eines Materials beeinträchtigen, ließ sich das bisher nicht bewerkstelligen. Die Entdeckung von abelschen Anyonen in verdrehtem MoTe2 ohne äußeres Magnetfeld könnte daher wegweisend sein. Hybride Bauelemente aus MoTe2-Schichten und einem Supraleiter werden zweifellos neue experimentelle Hindernisse mit sich bringen – doch die kreative und unermüdliche Gemeinschaft der Festkörperphysik sollte den Herausforderungen gewachsen sein.

  • Quellen

Cai, J. et al.: Signatures of fractional quantum anomalous Hall states in twisted MoTe2. Nature 622, 2023

Park, H. et al.: Observation of fractionally quantized anomalous Hall effect. Nature 622, 2023

Xu, F. et al.: Observation of integer and fractional quantum anomalous Hall effects in twisted bilayer MoTe2. Physical Review X 13, 2023

Zeng, Y. et al.: Thermodynamic evidence of fractional Chern insulator in moiré MoTe2. Nature 622, 2023

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