Fleischfressende Pflanzen: Aquaplaning unter sechs Beinen
Wer auf einem nährstoffarmen Boden lebt, muss sich clevere Tricks einfallen lassen, um an das wichtige Element Stickstoff zu gelangen. Kannenpflanzen nutzen dafür einen Bringdienst, dessen Ameisenboten sie anlocken, fangen und verdauen. Seltsam ist nur, dass die Ameisen auf dem Kannenblatt abrutschen, obwohl sie gefahrlos an Glasscheiben entlang klettern können.
Sie sehen recht harmlos aus: die tropischen Kannenpflanzen und die deutschen Biologen. Mit den Augen einer Ameise betrachtet, sind beides gefährliche Spezies, deren verschieden gearteter Hunger – nach Nahrung und nach Erkenntnis – für die Sechsbeiner lebensbedrohlich ist. Während die Pflanze sich immerhin damit entschuldigen kann, dass sie für ihr Wachstum unbedingt auf die Nährstoffe im Insektenkörper angewiesen ist, vermag der Biologe lediglich vorzubringen, dass er gerne wüsste, wie die Pflanze an die Ameisen herankommt.
Sehr zum Leidwesen der Ameise ist sie das schwächste Mitglied in dieser Dreiecksbeziehung, und so haben Generationen von Forschern Heerscharen von Insekten mit aufmerksamen Augen beim Abrutschen in den grünen Schlund beobachtet. Allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Wieso rutschen die Ameisen ab? Liegt es am glatten Wachsüberzug der Kannenwände? An Haarzellen, die widerborstig nur den Weg in eine Richtung gestatten? Oder werden die Tiere gar chemisch betäubt? So richtig befriedigend vermochte niemand das Rätsel zu lösen.
Außerdem ist Kannenpflanze nicht gleich Kannenpflanze und Ameise nicht gleich Ameise. Die Pflanzen unterscheiden sich in Details ihrer Fangapparate, und die Insekten decken schon mit ihrer Größe den ganzen Bereich von winzig kleinen zu ziemlich stattlichen Arten ab. Aber kreuz und quer gilt, dass man schon ziemliches Glück haben muss, um den Sturz in das Verderben miterleben zu dürfen – aus Sicht des Wissenschaftlers gesprochen.
Diese Erfahrung machten auch Holger Bohn und Walter Federle vom Biozentrum der Universität Würzburg: Bei schönstem Beobachtungswetter im Wald von Borneo blieben die Fangkannen der Nepenthes-Pflanzen meist gähnend leer. Offenbar machten die Pflanzen ein schlechtes Geschäft – bezahlten sie doch die Ameisenbesucher brav mit süßem Nektar, ohne eine Gegenleistung zu erhalten. Aber dann kam der Regen und eine Stunde nach dessen Ende die Biologen. Und siehe da: Für die Kannenpflanzen war die Erntezeit angebrochen. Fast jede Ameise, die sich an die Mundöffnung traute, schlitterte in den Verdauungssaft. Sollte die Feuchtigkeit für ein verhängnisvolles Aquaplaning unter den Insektenbeinen gesorgt haben?
Mit dieser Hypothese begann die Forschungskarriere der Ameisen. Die beiden Forscher schubsten sie auf verschiedene Blattbereiche, banden sie an Kraftmessgeräte, schnitten ihnen Teile der Beine ab und schauten zu, wie sie versuchten, sich aus der tödlichen Falle zu befreien. Bis schließlich feststand, dass wahrscheinlich wirklich Insekten-Aquaplaning ein wesentlicher Faktor der Fangstrategie von Kannenpflanzen ist.
Am Rande ihrer Öffnung sind die Blätter mit Strukturen besetzt, die einerseits Nektar produzieren, andererseits aber ungewöhnlich gut mit Wasser benetzbar sind. Ist dieser Untergrund trocken, können die Ameisen bei Reibungskräften im Bereich von zwanzig Millinewton gewohnt sicher darauf spazieren gehen. Insekten auf Erkundungstour werden den Nektar finden und die Stelle ihren Kollegen mitteilen. Die Kolonie nutzt die süße Quelle, nicht ahnend, an welchem Abgrund sie entlangwandert. Wird der Öffnungsbereich jedoch bei einem Regenguss oder eventuell durch Tau feucht, bildet sich ein hauchdünner Wasserfilm. Die Reibungskräfte sinken praktisch auf Null ab, kein Haftmechanismus der Ameisenfüße findet mehr Halt, und auch die zusätzlichen Krallen wirken nicht – es geht ab in den Verdauungssaft.
Der feuchtigkeitsabhängige Wechsel zwischen festem Boden und rutschiger Todesbahn dürfte für die Ameisen völlig überraschend und unberechenbar kommen. Sie werden die Kannenpflanze daher vermutlich nicht als gefährliches Gebiet einstufen und beim nächsten Regen mit neuen Arbeiterinnen in die gleiche Falle tappen. Einmal im mörderischen Saft angekommen, bleiben die kleinen Arten wegen der Oberflächenspannung gefangen. Größere Spezies schaffen es mitunter, nach oben zu klettern, wo sie oft wieder abrutschen. Einigen gelingt aber dennoch die Flucht – auch wenn in einem besonders dramatischen Fall die Ameise 48 Versuche brauchte, in denen sie jedesmal wieder im Verdauungssaft landete, bevor sie endlich entkommen konnte.
Insgesamt also ein cleverer Sieg der Kannenpflanze über die stickstoffreichen, aber dummen Ameisen. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Camponotus schmitzi hat sich bemerkenswert an ein Leben mit der fleischfressenden Pflanze angepasst. Nicht nur, dass sie nicht auf dem schmierigen Rand ausrutscht, unbeschadet in dem Verdauungssaft tauchen und nach Belieben wieder aus der Falle klettern kann. Sie geht sogar so weit, sich besonders große Beutebrocken aus dem Saft zu fischen und selber zu verzehren. Wer so clever ist, den nehmen die Würzburger Forscher dafür als nächstes ins Visier. Auf die Laborbank, bitte...
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