Stadtarchäologie: "Archäologisches Zeug"
Von Anfang an stand die Arbeit der Forscher unter gewaltigem Druck. Sie waren zunächst lediglich als begleitende Notgrabungen am Rande und im Rahmen der Bauarbeiten am Marmaray-Projekt gedacht, eines Zugtunnels unter dem Bosporus hindurch – der ersten Unterwasser-U-Bahn der Welt, die zudem zwei Kontinente verbinden wird. Dass die Archäologen rund um Ausgrabungsleiterin Zeynep Kızıltan sowohl den mit dem Projekt beschäftigten Tiefbauern als auch den Stadtoberen nur lästig sein konnten, lag in der Natur der Sache. Schon sehr bald war klar, dass sich die vermeintliche Notgrabung in ein riesiges Forschungsprojekt verwandeln würde. Denn bereits 2004 bei den allerersten Sondierungsgrabungen stießen die Archäologen drei Meter über dem Meeresspiegel auf zahlreiche Funde aus osmanischer Zeit. Dass sie tiefer würden graben müssen, war damals sofort klar; ebenso wie die Tatsache, dass es Verzögerungen beim Bau des Tunnels geben würde – und damit auch bei der gesamten, hochambitionierten Entwicklung des U-Bahn-Netzes von Istanbul.
"Ständig sagen sie, sie hätten archäologisches Zeug gefunden, Töpfe gefunden, dies gefunden, das gefunden ..."Tayyip Erdogan
Mit jedem neuen Fund wuchs der politische wie auch der öffentliche Druck auf die Wissenschaftler. Premierminister Recep Tayyip Erdogan, von 1994 bis 1998 selbst Bürgermeister von Istanbul, beklagte etwa noch im Februar 2011: "Ständig sagen sie, sie hätten archäologisches Zeug gefunden, Töpfe gefunden, dies gefunden, das gefunden – und legen uns Hindernisse in den Weg." Aus der Sicht der Stadtoberen waren Klagen wie diese durchaus verständlich. Istanbul ist heute mit beinahe 14 Millionen Einwohnern eine der fünf bevölkerungsreichsten Städte der Welt. Vor nur 50 Jahren, Anfang der 1960er Jahre, lag die Einwohnerzahl noch bei etwas unter zwei Millionen. Mit der explodierenden Bevölkerungszahl konnte der öffentliche Nahverkehr nicht mithalten. Zwar gab es schon in den 1980er Jahren Überlegungen zum Ausbau des bestehenden Schienennetzes von Vorortzügen und Straßenbahnen. Und bereits 1992 begann auch der Bau eines modernen U-Bahn-Netzes, der Metro Istanbul, deren erstes Teilstück 2000 eröffnet wurde. Doch der Verkehr in der türkischen Metropole bewegte sich weiterhin stets am Rande des Kollapses. Also wurden die Pläne erweitert.
Der Marmaray-Tunnel, der vom Ufer des Marmarameers unter Touristenmagneten wie der Hagia Sophia und dem Topkapı-Palast durch den Bosporus auf die asiatische Seite Istanbuls führen wird, ist dabei das ehrgeizigste Projekt. Spätestens Ende 2014 soll die Zugverbindung unter Wasser aufgenommen werden. Diesmal scheint der Zeitplan durchaus realistisch – frühere Termine mussten wegen der Verzögerungen durch die archäologischen Arbeiten aufgegeben werden. Doch inzwischen liegt die Tunnelröhre sicher am Grund des Meers, und Nihat Ergün, der Minister für Wissenschaft, Industrie und Technologie, verkündete bereits frohgemut: "90 Prozent unserer Arbeit sind getan. Bald werden die Züge durch den Bosporus fahren." Gleich nach Inbetriebnahme der Schienenverbindung zwischen Europa und Asien will die Regierung ebenfalls unter Wasser einen Autotunnel durch die Meerenge errichten. Möglicherweise bleiben den Tiefbauern dabei gröbere Verzögerungen erspart. Denn auch die Archäologen haben ihre Ausgrabungen so gut wie abgeschlossen. Neben der größten Grabungsstätte in Yenikapı, direkt an der Einfahrt zum Marmaray-Tunnel, suchten sie auch an den Bahnhöfen Sirkeci (europäischer Teil) und Haydarpaşa, dem einstigen Ausgangspunkt der von Deutschen erbauten Bagdadbahn auf der asiatischen Seite Istanbuls, nach Spuren der Vergangenheit. Und auch hier stießen sie auf osmanische, byzantinische und antike Reste.
Doch keine der Ausgrabungsstätten Istanbuls war bisher so ergiebig wie jene in Yenikapı. Das Viertel hatte einen ganz klaren Standortvorteil: Seit osmanischen Zeiten wurde das Gelände überwiegend landwirtschaftlich genutzt. Die wenigen Bauten, die dort stehen, sind kleine Häuser mit wenigen Stockwerken und nur mäßig tiefer Unterkellerung. Bei einer pulsierenden, bevölkerungsreichen Metropole wie Istanbul ein kleines Wunder – und ein Riesenglück für die Archäologen. Nur etwas landeinwärts vom heutigen Ufer des Marmarameers stießen die Forscher schon bald nach den ersten Sondierungsgrabungen auf mehrere Schiffswracks, die ältesten davon aus dem 8. Jahrhundert. Je tiefer sich die Archäologen gruben, desto mehr Wracks fanden sie – und umso ältere. Zuletzt entdeckten sie im vergangenen Sommer die gut erhaltenen Reste eines rund 1500 Jahre alten, etwa 15 Meter langen Schiffs, das mit hunderten Amphoren beladen war – höchstwahrscheinlich zum Transport von Öl, Wein oder Garum, einer antiken Fischsoße, die seinerzeit ein weit verbreitetes Würzmittel war.
Es war das 35. der von den Archäologen ans Tageslicht beförderten Segelschiffe und Galeeren aus dem 5. bis 11. Jahrhundert. Sie werden derzeit in den Laboren des renommierten Internationalen Instituts für Unterwasserarchäologie in Bodrum an der Ägäisküste wieder hergestellt und konserviert. Den Großteil der Wracks fanden die Wissenschaftler im antiken Hafen des Kaisers Theodosius aus dem 4. Jahrhundert, der heute wenige hundert Meter vom Ufer des Marmarameers landeinwärts in Yenikapı liegt. Dieser war zwar aus schriftlichen Quellen und von antiken Zeichnungen bekannt, doch erst durch die ununterbrochenen Ausgrabungen der letzten sieben Jahre konnte seine Lage auch zweifelsfrei bestimmt werden.
Neben diesem weltweit größten Schiffsfriedhof, der jemals an Land entdeckt wurde, konnten die an den drei Ausgrabungsstätten Beschäftigten – knapp vier Dutzend Archäologen, Kunsthistoriker und Architekten sowie über 250 Grabungsarbeiter – rund 40 000 weitere Funde ausgraben: darunter Gräber, Kleidungsstücke, Ton- und Glasscherben, Steingut, Amphoren, Anker, Metallgegenstände, Statuetten, Grundmauern, Kämme und vieles mehr. Fast alle Funde konnten bislang zumindest grob eingeordnet werden. Sie reichen von den Osmanen über Byzanz, das Römische Reich und die griechische Klassik bis in die Jungsteinzeit. Weit mehr als ein Viertel davon (etwa 16 000), so Zeynep Kızıltan, eignen sich auch als Ausstellungsobjekte. Die Grabungsleiterin muss sich schon von Berufs wegen besonders für museal verwertbare Objekte interessieren, ist sie doch zugleich Direktorin der Archäologischen Museen Istanbuls.
Auch ihren wohl bedeutendsten Fund machten die Archäologen an der Grabungsstätte in Yenikapı. In 16 Meter Tiefe stießen sie auf zwei jungsteinzeitliche Gräber in erstaunlich gutem Zustand. In beiden Gräbern lagen die Skelette der Toten, die damals in Hockerstellung, also mit angezogenen Beinen, bestattet worden waren. Da beide Gräber reichlich mit Grabbeigaben bestückt waren, sprachen türkische Medien von den "ersten Fürsten" Istanbuls. Für die Forscher aber ist ein anderer Aspekt des Funds weit wichtiger: Die Gräber sind 8500 Jahre alt – und damit die ältesten Zeugnisse von Besiedlung der Region, in der heute Istanbul liegt. Bis vor Kurzem nahm man an, die Besiedlung der Gegend habe erst vor rund 3000 Jahren begonnen.
Die Notgrabungen, aus denen sich ein umfassendes wissenschaftliches Projekt entwickelte, ergaben eine völlig neue Sicht auf die Geschichte der Stadt auf zwei Kontinenten. Die Archäologin Erim Özdoğan, eine ausgewiesene Expertin für die Geschichte der Metropole, meint: "Istanbul ist ein bevölkerter Grabungshügel, dessen oberste Schicht die Stadt ist, in der wir leben." Die größte Ausgrabung, die auf diesem Hügel jemals stattgefunden hat, steht kurz vor dem Abschluss. Neue archäologische Arbeiten in diesem Ausmaß sind wohl erst beim nächsten epochalen städtebaulichen Unternehmen zu erwarten.
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