Artemis-I: Mondmission mit Hindernissen
In und um Cape Canaveral herum dreht sich alles um Artemis. Bunte, handgemalte Plakate mit der Aufschrift »Go Artemis!« schmücken die Schaufenster der Geschäfte. Große provisorische Straßenschilder weisen auf den Starttag hin. Astronauten, NASA-Beamte und Führungskräfte aus der Luft- und Raumfahrtindustrie drängen sich in den Bars, in denen viel über das Vorzeigeprogramm der NASA zur Erforschung des Weltraums durch Menschen gesprochen wird.
»Wir starten«, verkündete die NASA in den Tagen vor dem anvisierten Start ihrer Artemis-I-Mission. Im Rahmen der Mission sollen zum ersten Mal eine Trägerrakete mit dem Namen »Space Launch System« (SLS) und ein Raumschiff für Besatzung namens »Orion« getestet werden. Artemis, benannt nach der Schwester des griechischen Gottes Apollo, ist das Mondprojekt der NASA. Sie will Menschen zurück auf den Mond bringen, vielleicht sogar zum Mars.
Doch zunächst muss das SLS erst einmal von der Erde abheben. Die ersten beiden Startversuche der NASA, die für den 29. August und den 3. September 2022 im Kennedy Space Center (KSC) der Behörde geplant worden waren, schlugen fehl. Der nächste Versuch ist vorläufig für den 27. September angesetzt, mit einem möglichen Ersatztermin am 2. Oktober, sofern ein Tanktest erfolgreich verläuft und die Startgenehmigung erteilt wird.
»Was wir auf der Startrampe sehen, ist eigentlich typisch für neue Trägersysteme, wenn sie zum ersten Mal in Betrieb genommen werden«, sagt Daniel Dumbacher, der die anfängliche Entwicklung des SLS beaufsichtigte, als er bei der NASA war, und der jetzt als Geschäftsführer des American Institute of Aeronautics and Astronautics tätig ist. »Das besorgt mich kein bisschen. Es ist eine Verzögerung, ja, aber im Großen und Ganzen stellen wir die Startfähigkeit wieder her, die dieses Land nach Apollo aufgegeben hat.«
Während NASA-Mitarbeiter die Fehlersuche an der Rakete fortsetzen, hat sich die Rhetorik etwas geändert: Sie betonen immer wieder, dass es sich bei Artemis I um einen Testflug handelt, und zwar einen riskanten. Schließlich sei die Rakete neu – auch wenn ihr Design auf der Technologie vom Spaceshuttle aus der Vergangenheit beruht. Und auch das Raumfahrzeug an der Spitze ist neu. Wenn alles gut geht, wird das SLS die unbemannte Orion-Raumkapsel auf eine Reise um den Mond schicken. Dann im Anschluss wird die Kapsel beweisen müssen, dass sie auch den Hochgeschwindigkeitswiedereintritt in die Erdatmosphäre übersteht.
Es steht viel auf dem Spiel. Das SLS und die Orion-Raumkapsel liegen über dem Budget und kommen Jahre zu spät zum Startplatz, was bereits 43 Milliarden Dollar an Steuergeldern verschlungen hat. Und für andere kommen die Probleme, mit denen die NASA beim Start von Artemis zu kämpfen hat, aus einem anderen Grund nicht unerwartet.
»Ich bin nicht allzu überrascht«, sagt Lori Garver, ehemalige stellvertretende NASA-Administratorin und bekennende Kritikerin der Artemis-Hardware. Das hänge unter anderem damit zusammen, dass die Entscheidungen, die vor mehr als einem Jahrzehnt getroffen worden seien, die Verantwortlichen an ein Design ketten würden, das nicht wirklich auf die Betriebsfähigkeit ausgerichtet gewesen sei.
Das SLS und Orion sind ein unhandliches Gebilde, das auf veralteter Technologie beruht und scherzhaft auch als »Senate Launch System« bezeichnet wird
SLS und Orion sind mit Teilen ausgestattet, die von mehreren alteingesessenen Luft- und Raumfahrtunternehmen gebaut wurden – nicht weil die NASA diese Anforderungen für ihre Mission gehabt hätte, sondern weil einflussreiche Kongressabgeordnete wie der damalige Senator Bill Nelson (heute NASA-Administrator) politischen Druck ausübten, damit weiterhin Geld in ihren Bezirk oder Staat floss. Das Ergebnis ist ein unhandliches Gebilde, das auf veralteter Technologie beruht und scherzhaft auch als »Senate Launch System« bezeichnet wird. Zusammen mit Orion verschlingt es pro Start rund 4 Milliarden Dollar. Wenn das SLS von der Startrampe abhebt, wird abgesehen von der Orion-Raumkapsel und sekundären Nutzlasten der Rest des teuren Systems im Meer oder als Weltraumschrott enden.
Dies steht im Gegensatz zu Unternehmen wie SpaceX, das auf weitgehend wiederverwendbare Raketen setzt und bisher fünf Raketen von Cape Canaveral gestartet hat, seit die NASA das SLS am 16. August 2022 gen Startrampe rollte. Die größte, derzeit in Betrieb befindliche, wiederverwendbare Rakete von SpaceX, die Falcon Heavy, ist bereits dreimal ins All geflogen. Je nach spezifischem Missionsprofil und endgültigem Zielort in der Umlaufbahn kann die Falcon Heavy unter den günstigsten Umständen etwa zwei Drittel der Nutzlast des SLS transportieren, wobei jeder Start etwa 100 Millionen Dollar kostet.
Startversuch Nummer eins
Am Abend vor dem ersten Startversuch, der für den 29. August um 8.33 Uhr ET angesetzt worden war, tummelten sich bereits zehntausende Schaulustige und hunderte Raumfahrtjournalisten an der »Space Coast«, die das KSC und die umliegende Region in Florida umfasst. Alle Augen richteten sich auf das SLS und die Orion-Raumkapsel, die wie eine knapp 100 Meter hohe, weiß-ockerfarbene Statue im Flutlicht des KSC-Startkomplexes 39 aufeinandergestapelt waren. In Kürze sollte hier der mehrstündige Prozess der Betankung der Rakete beginnen. Die Hoffnungen für den Start am nächsten Tag waren groß, doch bereits im Laufe der Nacht traten die ersten Probleme auf.
Zunächst gab es wetterbedingte Verzögerungen. Gegen Mitternacht war die Wahrscheinlichkeit eines Blitzeinschlags in der Nähe der Startrampe zu hoch, als dass das Team mit dem Betanken der Rakete beginnen konnte. Nach etwa einer Stunde verzogen sich die Gewitter, und man konnte endlich loslegen. Das Betanken des SLS bedeutet, dass etwa 190 000 Gallonen kryogener Flüssigsauerstoff und 538 000 Gallonen supergekühlter Flüssigwasserstoff in den Tank der Hauptstufe gepumpt werden. Das ist ein heikles Unterfangen, denn kryogene Treibstoffe sind bekanntermaßen schlüpfrig – und explosiv.
Schon bald entdeckte das Team ein Wasserstoffleck an der Basis der Rakete. Das gleiche Problem war bereits während einer »Generalprobe« aufgetreten und hatte schon in der Vergangenheit oft den Start von Spaceshuttles verzögert: In den vergangenen 30 Jahren mussten die Starts der Spaceshuttles der NASA im Durchschnitt einmal pro Start abgewürgt werden – oft wegen Wasserstofflecks.
Als kleinstes und leichtestes Atom im Universum ist Wasserstoff ein hervorragender Treibstoff, aber er ist auch ein Meister der Flüchtigkeit. »Es ist ein heimtückisches kleines Molekül, das immer wieder Wege findet, um zu entkommen«, sagt Dumbacher. »Das Problem dabei ist, dass es in ausreichender Konzentration an Stellen brennen kann, an denen es nicht brennen soll.«
Das Team machte weiter und dichtete das Leck ab. Die Betankung wurde fortgesetzt. Dann zeigte sich ein Riss in dem Schaum, der die Hauptstufe des SLS isoliert, aber die Teammitglieder entschieden, dass dies kein Problem darstellte und machten weiter. Doch bald darauf trat ein Problem auf, über das sie nicht einfach so hinwegsehen konnten: Sensoren zufolge war eines der vier Triebwerke der Rakete nicht auf die richtige Temperatur abgekühlt, und zwar während eines Vorgangs, der als »Chilldown« bezeichnet wird und der die Triebwerke auf den Kälteschock durch den unterkühlten flüssigen Wasserstoffs vorbereiten soll. Normalerweise lassen die Teams eine kleine Menge des minus 252 Grad Celsius kalten Treibstoffs durch das System laufen, um die vier Triebwerke vor dem Start zu konditionieren, aber Triebwerk Nummer drei schien nicht darauf zu reagieren. Launch Director Charlie Blackwell-Thompson erklärte deshalb gegen 8.40 Uhr ET den Abbruch, und die riesige Countdown-Uhr blieb bei T minus 40 Minuten stehen.
»Ist es Teil des Plans… den Sensor einfach zu ignorieren?« – »Ja«
Einige Tage später gaben NASA-Mitarbeiter bekannt, dass die Abkühlungsprozedur wahrscheinlich einwandfrei verlaufen war. Das Team verfügte über genügend Daten, die darauf hindeuteten, dass die Kühlmittel ordnungsgemäß geflossen waren, und die Ingenieure entschieden, dass der Sensor, der eine anomal hohe Temperatur angezeigt hatte, wahrscheinlich nur defekt war. Sie würden einen zweiten Versuch unternehmen, ohne zu reparieren. »Ist es Teil des Plans… den Sensor einfach zu ignorieren?«, fragte CNN-Korrespondentin Kristin Fisher während eines Briefings am 1. September. »Ja«, antwortete SLS-Chefingenieur John Blevins, »das werden wir.«
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass es Probleme mit den Instrumenten gibt. Die Öffentlichkeit ist bloß nicht daran gewöhnt«, sagt Dumbacher.
Versuch Nummer zwei
Der nächste Startversuch wurde für den 3. September angesetzt, mit einem zweistündigen Startfenster, das sich um 14.17 Uhr ET öffnete. Da in den USA der »Labor Day« kurz bevorstand, lockte das Feiertagswochenende noch mehr Menschen an – dieses Mal versammelten sich rund 400 000.
Doch auch an diesem Termin häuften sich die Probleme schnell. Die Betankung begann zwar pünktlich, aber die Mitarbeiter entdeckten – verflixt noch mal! – fast sofort ein weiteres Wasserstoffleck. Sie versuchten, es zu beheben, indem sie die Füllleitungen erwärmten und mit Helium unter Druck setzten, doch das Leck war zu groß. Nach drei Versuchen war es nicht mehr zu reparieren – um 11 Uhr war das Team bereits weit hinter seinem Zeitplan zurück. Da der Wasserstofftank lediglich zu elf Prozent gefüllt war, brach Blackwell-Thompson den Start erneut ab.
Artemis-Missionsmanager Mike Sarafin erklärte später während eines Briefings, dass das Wasserstoffleck an der gleichen Stelle aufgetreten sei, an der ein manuell eingegebener Befehl zu einem »versehentlichen Überdruck in der Wasserstofftransferleitung« geführt und den Druck auf das Zwei- oder Dreifache erhöht habe. Möglicherweise habe der Überdruck die Dichtung an dieser Verbindungsstelle beschädigt. »Es gab eine Sequenz aus etwa einem Dutzend Befehlen, die erforderlich waren, und es wurde einfach das falsche Ventil angesteuert«, sagte Sarafin. »Dies war eine manuelle Sequenz, und die Tatsache, dass wir diese spezielle Sequenz nicht automatisiert haben, könnte ein Grund für den unbeabsichtigten Überdruck gewesen sein.«
Stand 20. September 2022 konnten die NASA-Mitarbeiter den Fehler noch nicht endgültig mit dem Wasserstoffleck in Verbindung bringen, das für den erneuten Startabbruch sorgte. Sie führen immer noch eine »Fehlerbaumanalyse« durch, die letztendlich die Ursache für das Leck aufzeigen wird.
Doch selbst wenn der fehlerhafte Befehl das Leck nicht verursacht hat, ist das keine gute Nachricht, meint Garver. »An diesem Punkt sendet man keine irrtümlichen Befehle mehr, die eine Leitung Überdruck aussetzen. Sie sagen, man hätte den Prozess vielleicht automatisieren sollen. Aber bei einem 43-Milliarden-Dollar-Projekt stellt man sich keine ›Oh, ja, vielleicht hätten wir das tun sollen‹-Fragen mehr.«
Sind aller guten Dinge drei?
Der NASA zufolge sind nun mehrere Dichtungen an der Startrampe repariert worden. Ein dritter Startversuch wurde dennoch vom 23. September auf den 27. September verschoben. Und auch, ob der 27. September eingehalten werden kann, ist noch unklar. Zwar schloss die NASA jüngst eine Probebetankung erfolgreich ab, doch wieder trat ein Leck auf, wie die Deutsche Presseagentur meldete. Allerdings habe sich das Leck wohl im tolerierbaren Rahmen bewegt.
Für einen Start Ende September müssen allerdings nicht nur die technischen Gegebenheiten stimmen. Unter anderem muss Space Launch Delta 45, eine Einheit der Space Force, welche die Genehmigung für alle Raketenstarts auf der Eastern Range erteilt, eine Verzichtserklärung vorlegen. Denn das SLS war nur bis zum 6. September für den Start zugelassen. Die Batterien für das Selbstzerstörungssystem an Bord – im Grunde eine Bombe, welche die Rakete zerstören soll, wenn sie vom Kurs abweicht und ein bewohntes Gebiet bedroht – müssen aufgeladen werden, was nur im nahe gelegenen Vehicle Assembly Building (VAB) des KSC möglich ist.
Ein Start Ende September würde voraussetzen, dass Space Launch Delta 45, das für die öffentliche Sicherheit zuständig ist, auf das Aufladen verzichtet. Wenn das nicht möglich ist, muss die NASA zum VAB zurückkehren und versuchen, ein Startfenster für Mitte Oktober zu finden – eine Folge der Entscheidung für eine minimalistische Startrampe, die nicht über die erforderliche Ladekapazität verfügt.
»Die Gesetze der Physik haben sich nicht geändert«Daniel Dumbacher, American Institute of Aeronautics and Astronautics
»Ich glaube nicht, dass man sich darüber im Klaren ist, wie sich einige der frühen Entscheidungen, die unter dem Druck des Budgets getroffen wurden, heute auswirken«, sagt Dumbacher. Er verweist vor allem auf den reduzierten Start und die Auswahl von Kryo-Treibstoffen.
Er sagt jedoch auch: »Ich höre immer wieder Gerede darüber, dass man keine neue Technologie einsetzen würde. Ich möchte die Leute aber auch daran erinnern, dass sich die Gesetze der Physik nicht geändert haben.« Das Flüssigsauerstoff- und Flüssigwasserstoffsystem sei, »was Mutter Natur uns zur Verfügung gestellt hat, um unsere Missionsziele zu erreichen. Es verfügt über die erforderliche Energie, um große Systeme, große Massen und große Volumina in die Umlaufbahn und auf den Weg zum Mond und schließlich zum Mars zu bringen.«
Die jüngsten Probleme der NASA im Bereich der bemannten Raumfahrt kommen zu einem passenden Zeitpunkt: Am 12. September jährte sich zum 60. Mal die Rede, in der Präsident John F. Kennedy einst verkündete: »Wir haben uns entschieden, in diesem Jahrzehnt zum Mond zu fliegen und die anderen Dinge zu tun, nicht weil sie einfach sind, sondern weil sie schwierig sind.« 60 Jahre später fällt es der berühmtesten Raumfahrtbehörde der Welt vielleicht schwerer, die politischen Kräfte zu überwinden, die sie am Boden halten, als die der Schwerkraft.
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