Artenschutz: Künstlicher Wohnraum für heimatlose Tiere
Im ersten Moment erinnern die gewellten, gefurchten und wabenartigen Oberflächen an abstrakte Kunst. Doch die aus Beton gegossenen Kacheln, die die Kaimauern im Hafen von Sydney bedecken, sollen Schnecken, Muscheln und anderen Meeresbewohnern dabei helfen, sich wieder an den befestigten Küstenstreifen anzusiedeln. Denn für marine Organismen sind glatte Flächen ohne Nischen und Verstecke unbewohnbar. In der Folge gehen komplexe Ökogemeinschaften verloren. In Australien haben sich deshalb Meeresbiologen mit Industriedesignern zusammengetan, um die kahlen Hochwasserschutzmauern in lebende Wälle (englisch: living seawalls) zu verwandeln.
In Sydney läuft das Projekt bereits seit Jahren mit Erfolg: Die Kacheln seien mittlerweile fast vollständig besiedelt, verkündeten die Forscher im Dezember 2022 auf Twitter: Mehr als 115 Arten lebten mittlerweile darin, darunter Seetang, Fische sowie Schnecken und andere wirbellose Tiere. Und auch in anderen Ländern interessieren sich Artenschützer für die »living seawalls«: In Singapur, Gibraltar und Wales sind sie bereits installiert, während in Boston derzeit geeignete Plätze für ein Pilotprojekt gesucht werden. Selbst in Deutschland, in der Kieler Förde, wurden im Rahmen eines Studierendenprojekts bereits »living seawalls« angebracht.
Weltweit zerstört der Mensch immer mehr natürliche Lebensräume. Weil wir unsere Städte ausweiten, die Landwirtschaft intensivieren, Küsten befestigen und die Umwelt verschmutzen, rauben wir Tieren geeignete Plätze, um rasten und sich verstecken, Eier legen, brüten, aufwachsen oder überwintern zu können. So fehlen Nist- und Schlafplätze, weil geeignete Bäume gefällt wurden oder wegen Waldbränden verkohlt sind und nur langsam nachwachsen. Im Ozean leiden die Küstenbewohner, weil ihre Lebensräume zubetoniert und begradigt werden.
Forscherinnen und Forscher möchten und müssen helfen. Immer öfter setzen sie daher beim Design und der Produktion künstlicher Habitate auf Hightech-Lösungen wie Mikrochips, 3-D-Druck und Laservermessungen. Eine Publikation im Fachmagazin »Frontiers in Ecology and the Environment« lieferte Mitte des Jahres 2022 einen Überblick über bereits erprobte oder geplante Projekte. Die Autoren und Autorinnen um Darcy Watchorn, einem Ökologen und Artenschützer von der Deakin University in Melbourne, beschreiben darin Nistboxen mit Hochsicherheitstür, maßgeschneiderte Holzhütten oder schützende Kunststeine. Computermodelle helfen beim bedarfsgerechten Design und Betrieb. Schließlich muss jedes Konstrukt passgenau gefertigt sein, je nachdem ob einzelne Spezies oder ganze Ökogemeinschaften angelockt werden sollen.
Dieser hochtechnisierte Ansatz ist allerdings selbst in der Wissenschaft umstritten. Es klingt ja auch völlig widersinnig: Warum etwas mit viel Aufwand imitieren, was zuvor von Menschenhand zerstört wurde? So betonen auch die Autoren der Übersichtsarbeit, selbst perfekt konstruierte künstliche Bauten seien keine Dauerlösung. Andererseits gebe es derzeit kaum noch eine Wahl. Denn obwohl es oberste Priorität sein müsse, die natürlichen Lebensräume der Tiere vor der Zerstörung zu retten oder zu regenerieren, sei das oft nicht und vor allem nicht schnell genug möglich. Dann sei ein »unnatürlicher« Kompromiss oft besser als nichts, wenn er bedrohten Arten und dem Naturschutz Zeit kauft, um naturnahe Lösungen zu finden und umzusetzen.
Von Fertigheimen und Sicherheitsschlössern
Wer für Tiere künstliche Behausungen baut, muss Fragen zum Standort, zum Entwurf und zur Bauweise klären: Welche Bedürfnisse haben Echsen? Welchen Nistplatz würde ein Vogel bevorzugen? Und welche Gestaltung lockt in marinen Lebensräumen die erwünschten Arten an? Wenn langwierige Feldforschung zu den Vorlieben, Gewohnheiten und Bedürfnissen der betroffenen Tiere nicht möglich ist, kann Hightech manchmal helfen. Ob einer Art allein oder komplexen Lebensgemeinschaften. Ob dauerhaft oder nur vorübergehend.
Eine Methode, mit der sich etwa schwer zugängliche tierische Bauten auskundschaften lassen, ist die Lasertechnik LiDAR. Normalerweise werden damit Abstände und Merkmale verschiedener Geländestrukturen bis ins Detail vermessen. Doch neuerdings spionieren Forscher der australischen Curtin University damit auch Echsenfamilien aus. Die Pilbara-Stachelschwanzskinke (Egernia stokesii badia) leben in Westaustralien und haben eine für Reptilien ungewöhnlich soziale Lebensweise. Als Kolonie bewohnen sie »Holzschlösser« aus hohlen Stämmen und abgefallenen Ästen – mit eigenem Areal als Außentoilette.
Doch der Immobilienmarkt für Skink-Behausungen schrumpft. Die Tiere bevorzugen offene Waldflächen, die durch die Landwirtschaft und den Abbau von Eisenerz zusehends verschwinden. Die scheuen Reptilien sind zudem in Gefahr, weil sie von Katzen gejagt werden, die vor langer Zeit aus Europa eingeschleppt wurden. Die Art gilt als extrem gefährdet, Soforthilfe tut also not. Aber was genau braucht ein Skink?
Zunächst versuchten sich Wissenschaftler an der Reptilversion eines Insektenhotels: kreativ aufgetürmte Holzstapel, die den natürlichen Holzburgen zum Verwechseln ähnlich sahen – zumindest für menschliche Augen. Nicht aber für die Skinke, die partout nicht einziehen wollten.
Erst LiDAR-Messungen brachten den Durchbruch. Die Forscher durchleuchteten bestehende Skink-Bauten bis in die hintersten Nischen und Winkel und konnten dann auf dieser Grundlage naturgetreue 3-D-Modelle produzieren. Weil die Kopien von den Echsen akzeptiert wurden, war es nicht mehr nötig, jeden Designwunsch zu identifizieren, zu analysieren oder gar zu verstehen.
Einen noch ungewöhnlicheren Ansatz wählten Forscher der University of Queensland, um dem Fuchskusu (Trichosurus vulpecula) zu helfen. Obwohl diese ursprünglich in Australien heimische, in Neuseeland auch Possum genannte Art bislang noch weit verbreitet ist, geraten die Beuteltiere zunehmend unter Druck. Sie brauchen sichere Verstecke, Nistplätze und manchmal auch Extrafutter. Wie aber sollen Konkurrenten und Fressfeinde ferngehalten werden? Die Forscher pflanzten den Fuchskusus Mikrochips ein, die die »Hochsicherheitstüren« spezieller Nistboxen öffnen, sobald sie sich nähern. Bereits nach kurzer Trainingszeit hatten sich die Tiere an die neuen Behausungen und die automatisch öffnenden und schließenden Türen gewöhnt.
Manchmal jedoch sind Habitate unwiederbringlich verloren. So etwa bei der australischen Breitkopfotter (Hoplocephalus bungaroides), einer gefährdeten Schlangenart, die in der Nähe von Sydney vorkommt und dort viel Zeit abgeschirmt unter flachen Sandsteinen verbringt. Doch die attraktiv geformten Steine passen als Deko hervorragend in Vorstadtgärten. Immer wieder werden sie illegal entwendet. Neue und für die Schlangen akzeptable Sandsteine könnten sich bestenfalls über geologische Zeitspannen bilden. Herpetologen von der University of Sydney entwarfen deshalb maßgeschneiderte Unterschlupfe aus Stahlbeton mit Gummidichtung und legten sie aus. Mit Erfolg: Nicht nur Breitkopfottern zogen ein, sondern auch andere lokale Arten, darunter ein Samtgecko, den die Schlangen besonders gern fressen.
Riesenkauz mit Sonderwünschen
In anderen Fällen sind synthetische Bauten zumindest zur Überbrückung geeignet, bis die natürliche Umgebung sich regeneriert hat. Als besondere Herausforderung erwies es sich, die Notlage des australischen Riesenkauzes (Ninox strenua) zu lindern. Die Tiere brauchen viel Platz und brüten vor allem in den Höhlen großer Bäume, die es in ihrem bevorzugten Biotop aber kaum noch gibt – und die Jahrzehnte brauchen, um nachzuwachsen.
In diesem Fall durchliefen Wissenschaftler von der University of Melbourne einen langen Prozess von Versuch und Irrtum, boten den Vögeln Nistboxen, zurechtgeschnitzte Holzstämme und am Computer entworfene Höhlen an. Nichts davon wurde den hohen Ansprüchen der Kauze gerecht, die wohltemperierte, nicht zu nasse oder stickige Nistplätze benötigen, einen Landeplatz, eine Fütterplattform sowie Kratzflächen.
In der Natur beziehen die Käuze manchmal alte Termitenbauten in Bäumen. An diesen als natürlichem Vorbild orientierten sich die Forscher. Mit Hilfe hochmoderner Ansätze wie 3-D-Scans, computergestützter Modellierung, digitaler Fabrikation und Augmented-Reality-Montage entwarfen sie künstliche Strukturen, die so leicht sind, dass sie auch von jungen und dünnen Bäumen getragen werden können. Ähnlich wie bei Lego produzierten die Wissenschaftler nur einzelne Bausteine, die sie dann zu größeren Niststrukturen zusammensetzten.
Dass bisher allerdings noch kein Kauz in den künstlichen Termitenbauten nistet, sei wegen der geringen Zahl der Vögel in der Gegend nicht verwunderlich, sagt Projektleiter Stanislav Roudavski. Man habe von Beginn an weniger mit einem schnellen Erfolg als vielmehr einer Geduldsprobe gerechnet. Untätig warten will das Team um Roudavski aber trotzdem nicht, weil sich ganz neue Perspektiven aufgetan haben. »Andere Tiere nutzen die Nestboxen bereits«, sagt der Spezialist für digitales Architekturdesign. »Wir weiten das Projekt deshalb jetzt aus, um weitere Spezies einzubeziehen sowie verschiedene Designs und Produktionsmethoden zu testen.« Für die Käuze wäre dann immer noch Platz.
Die synthetischen Rückzugsorte scheinen also ein guter Kompromiss für den schrumpfenden Lebensraum der Kauze zu sein – wie so viele der mit Kreativität und Ausdauer entwickelten künstlichen Bauten. Doch ist der Ansatz nicht mindestens fragwürdig? »Künstliche Strukturen einzuführen, kann problematisch sein, weil Wildtiere damit dauerhaft auf menschliche Unterstützung angewiesen sind«, sagt Roudavski. »Wir arbeiten deshalb auch daran, solche Interventionen über lange Zeitspannen zu prüfen. Ich denke allerdings, dass es bereits zu spät ist, nichts zu tun. Denn alle natürlichen Umwelten sind mehr oder weniger stark durch den Menschen verändert.«
Für Darcy Watchorn und die anderen Autoren der Übersichtsarbeit ist klar: Umweltschutz geht vor Hightech-Bau. Das sei aber nicht immer möglich: »Wissenschaftler müssen also kreativ werden«, schreiben die Autoren. »Sie müssen versuchen, das Artensterben kurzfristig aufzuhalten.« Es sei großartig, dass künstliche Ersatzbauten für Wildtiere geschaffen werden: »Noch besser wäre, wenn es dafür keine Notwendigkeit gäbe.«
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