Artenverlust: Der ewige Kampf mit der Bestie
Wir sind bald mittendrin und voll dabei, im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte. Darüber sind sich die meisten Fachleute einig. Woran sie ihre Erkenntnis bemessen? An dem rapiden weltweiten Verlust von Tier- und Pflanzenarten. So ergaben Berechnungen, dass in den vergangenen 500 Jahren zahlreiche Spezies ungefähr 100- bis 1000-mal schneller verschwanden oder bald aussterben könnten, als es in einem funktionierenden Ökosystem der Fall sein dürfte. In nackten Zahlen bedeutet das: Von vermutlich acht Millionen existierenden Tier- und Pflanzenarten droht rund eine Million für immer verloren zu gehen, ein Teil davon bereits in den kommenden Jahrzehnten, so resümieren es die Experten des Weltbiodiversitätsrats der Vereinten Nationen in ihrem jüngsten globalen Artenzensus von 2019.
In den vergangenen 450 Millionen Jahren haben fünf große Massenaussterben die jeweils herrschende Artenvielfalt dezimiert (siehe Kasten »Die großen Fünf«). Und jedes Mal waren es natürliche Vorgänge – Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge, Meeresspiegelschwankungen –, die mal schleichend, mal schlagartig die bisherigen Lebensbedingungen derart veränderten, dass 75 bis 90 Prozent aller Spezies für immer vom Erdball verschwanden. Als Ursache für das sechste Ereignis dieser Art haben Forscherinnen und Forscher jedoch einen anderen Missetäter dingfest gemacht: die Menschheit. »Der Mensch ist die einzige Spezies, die in der Lage ist, die Erde in großem Umfang umzugestalten«, fassen es die beiden Biologen Philippe Bouchet und Benoît Fontaine am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) sowie Robert Cowie von der University of Hawaii in einer Übersichtsstudie zusammen. Es sei der Mensch, der »die derzeitige Krise zugelassen« habe.
Nur: Wie haben wir das angestellt? Und wann fing die Menschheit an, diese Krise heraufzubeschwören?
Für den derzeitigen raschen Artenverlust benennt der Weltbiodiversitätsrat folgende Faktoren: Zu Lande wie zu Wasser nehmen Menschen sehr viel Fläche für sich in Anspruch und schröpfen sie – vor allem für die Landwirtschaft und Viehhaltung, für Städte und Verkehrswege. Dabei geraten Abgase, Plastik, Öl, Treibhausgase und Abfälle in die Umwelt, Tiere und Pflanzen werden verschleppt und dringen in andere Ökosysteme ein. Unter den Folgen – dem Klimawandel, der Umweltverschmutzung, der Zerstörung von Habitaten und den invasiven Arten – leiden Flora und Fauna.
Auslöser dieser Katastrophenkaskade sei der Mensch. Die drastische Steigerung verursachte aber »sicherlich auch der globale wirtschaftliche Aufschwung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts«, sagt Paläobiologe Thomas Neubauer von der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie in München. Ebenso urteilt Jonathan Payne, Professor für Geowissenschaften an der Stanford University. »Menschliche Technologie hat sich so weit entwickelt, dass auch unsere Fähigkeiten, Tiere zu töten, Pflanzen zu ernten, Landschaften zu verändern, das Klima zu beeinflussen und Umweltverschmutzung zu verursachen, sich dramatisch vermehrt haben.« Die Lage habe sich zudem verschärft, weil die Weltbevölkerung stark angewachsen sei. »Sie hat enorm zugenommen, wobei der größte Teil dieses Anstiegs in den vergangenen ein oder zwei Jahrhunderten stattfand«, erklärt der US-Wissenschaftler, der über Massenaussterben forscht. Innerhalb von fast 50 Jahren hat sich die Weltbevölkerung sogar verdoppelt, von vier Milliarden im Jahr 1974 auf acht Milliarden im Jahr 2022. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag sie bei einer Milliarde.
Zu viel von (fast) allem
Mehr Menschen brauchen mehr Nahrungsmittel. Dieser überexponentiell gestiegene Bedarf hat sich im Zeitraum von zwei Jahrhunderten durch Wälder, Gewässer und Feuchtgebiete gefressen. »Die Ausdehnung der Landwirtschaft ist die am weitesten verbreitete Form der Landnutzungsänderung, wobei mehr als ein Drittel der [weltweiten] Landfläche für Ackerbau oder Viehzucht genutzt wird«, schreiben die Experten des Weltbiodiversitätsrats. Das bringt die Welt an den Rand ihrer Kapazitäten – unter anderem, weil die vorhandenen Nahrungsmittel ungleich auf die Erdbevölkerung verteilt sind, weil Dünger, Pflanzenschutzmittel und Wasser in der Landwirtschaft nicht nachhaltig eingesetzt werden und weil wir schlicht zu viel Fleisch konsumieren.
Die Bedürfnisse einer wachsenden Erdbevölkerung und vor allem der westliche Lebensstil befeuern das sechste Massenaussterben. Doch wann fing diese Entwicklung an? Im Allgemeinen werde »der Startschuss mit dem Zeitalter der Industrialisierung angegeben, also vor rund 200 Jahren«, erklärt Neubauer. Wirkten Fortschritte in Technologie, Medizin und Chemie, die die Produktion von Fleisch, Getreide und Medikamenten steigerten, wie ein Brandbeschleuniger? Sie machten recht sicher das überexponentielle Wachstum der Menschheit in der Neuzeit möglich.
Den Moment, als das menschengemachte Artensterben einsetzte, verorten Fachleute wie Payne allerdings früher. Schon als Homo sapiens und seine Vorfahren in Afrika aufkamen und sich auf dem Kontinent allmählich ausbreiteten, aber insbesondere als moderne Menschen vor mindestens 210 000 Jahren von Afrika aus den Rest der Welt Stück für Stück erkundeten und ab der Zeit vor ungefähr 125 000 Jahren dauerhaft besiedelten, hätten sie auch begonnen, ihre Umwelt zu verändern – durch die Jagd auf Wildtiere, durch Brandrodung oder den Abbau von Ressourcen. Geologe Payne: »Das jetzige Aussterben begann im späten Pleistozän, vor etwa 70 000 bis 125 000 Jahren.«
Das Bauerntum ließ die Bevölkerung wachen
Andere sehen den entscheidenden Wendepunkt erst später erreicht: mit der so genannten neolithischen Revolution. Mit diesem Begriff bezeichnen Fachleute einen Vorgang, der sich über mehrere Jahrtausende erstreckte. Vor etwa 12 000 Jahren begannen Menschen im Vorderen Orient, ihre Lebensweise gravierend umzustellen: Aus Jägern und Sammlern wurden allmählich Bauern, die Felder bestellten und Rinder, Schweine oder Ziegen züchteten.
Was genau die Menschheit dazu bewog, diesen Pfad einzuschlagen, ist umstritten. Womöglich bedingten trockenere Umweltbedingungen diesen Schritt, vielleicht wollten die Menschen Naturformen ihrer Nahrungsmittel durch Ackerbau und Viehzucht zu effizienteren Organismen machen. Ebenso denkbar ist: Wer Felder bestellt und dafür durchweg sesshaft lebt, kann leichter mehr Kinder großziehen. Die Idee einer wachsenden Bevölkerung wäre demnach mit der Landwirtschaft in die Welt gesetzt worden.
»Die Landwirtschaft zu entwickeln, hieß im Grunde, den Ökosystemen den Krieg zu erklären«Niles Eldredge, Paläontologe, Columbia University
Die Steinzeitrevolution fand an mehreren Stellen statt, nicht nur im so genannten Fruchtbaren Halbmond, von wo aus sie immer mehr Regionen erfasste, darunter auch Mitteleuropa. Sie nahm davon unabhängig ebenfalls vor etwa 9000 Jahren in China ihren Anfang oder vor zirka 7000 Jahren in Mittelamerika. Wie es scheint, zählt sie zu den urtümlichen Wesenszügen des modernen Menschen. Sicher ist dabei: Die neue Kulturtechnik hatte das Verhältnis von Mensch und Umwelt entscheidend verändert – zu Gunsten der Menschheit. Sie sicherte die Versorgung. Die Bevölkerung konnte wachsen.
Die Natur wurde zum Opfer der Revolution
Die Menschen überwanden so die Grenzen der Ökosysteme und die Kräfte, die von deren Bewohnern ausgingen. Oder, um es mit den drastischen Worten des US-Paläontologen Niles Eldredge zu beschreiben, der bereits 2001 in einem Lehrmittel über das sechste Massenaussterben formulierte: »Die Landwirtschaft zu entwickeln, hieß im Grunde, den Ökosystemen den Krieg zu erklären.« Was nicht Nutzpflanze war, wurde zu Unkraut erklärt, was kein Nutztier war, zum Schädling.
Der lange Übergang vom Leben als Wildbeuter zum Dasein als Bauer und Viehzüchter ereignete sich weder schlagartig noch überall gleichzeitig. Dementsprechend dämmerte das sechste Massenaussterben im Lauf der Zeit an immer mehr Orten auf der Welt. Manche Forscher und Forscherinnen sind allerdings überzeugt, die ersten Anzeichen dafür an einem noch deutlich früheren Zeitpunkt verorten zu können als mit Einsetzen der neolithischen Revolution. Ihr Stichwort lautet: Megafauna.
Mammut, Wollnashorn oder Riesenfaultier – bis zur späten Altsteinzeit streiften große Säuger in verschiedenen Winkeln der Welt umher. Von den Giganten profitierten andere Lebewesen, ähnlich wie im Fall heute lebender Elefanten, die mit ihren Ausscheidungen Pflanzensamen in Wäldern und Savannen verteilen, Wasserlöcher graben, Dornenbüsche jäten oder Bäume umwerfen, was Licht in Wälder dringen lässt. Heute wie damals lockten die Riesen auch Jäger. Für die Bewohner der Steinzeitsteppe lieferte die erlegte Beute reichlich Fleisch, Sehnen, Knochen und Elfenbein. Zahlreiche Fundplätze in Eurasien und Nordamerika belegen, dass Vertreter der Gattung Homo Jagd auf die Tiere machten. Was waren die Folgen?
Ein Forscherteam um Jonathan Payne und die Paläoökologin Felisa Smith von der University of New Mexico in Albuquerque ging dieser Frage nach. Die Fachleute untersuchten, wie sich die Ausbreitung des Menschen während der Altsteinzeit auf die Riesen auswirkte, genauer gesagt auf die durchschnittliche Körpergröße der Säugetierklasse. Ausgangspunkt ihrer Studie in »Science« war die Erkenntnis, dass größere Tiere in der Neuzeit durch menschliches Zutun eher vom Aussterben bedroht sind als kleinere.
Für ihre Analyse werteten sie Datenbanken aus, in denen die Größe, das Gewicht und die Ernährungsweise aller je bekannten Säuger gelistet sind, angefangen bei einer Zeit vor rund 66 Millionen Jahren. Damals hatte der Einschlag eines mehrere Kilometer großen Meteoriten das Leben auf der Erde zu 60 Prozent zerstört (siehe Kasten »Die großen Fünf«). Die allermeisten Dinosaurier fielen der Katastrophe zum Opfer – es war das fünfte Massenaussterben, erst danach konnten sich die vielen Säugetierarten entfalten.
Wo der Mensch auftaucht, verschwinden die großen Säuger
Smith, Payne und ihre Kollegen machten eine überraschende Entdeckung: Vor ungefähr 125 000 Jahren trat eine Veränderung ein. Die Säuger schrumpften merklich. Weltweit betrachtet zeichnete sich diese Wende aber nicht überall gleichzeitig ab. Sie setzte ein, einige Jahrtausende nachdem Homo sapiens einen Kontinent dauerhaft bevölkert hatte. Also ab der Zeit von vor etwa 80 000 Jahren in Asien, ab vor zirka 65 000 Jahren in Australien, vor 43 000 Jahren in Europa und vor rund 15 000 Jahren auf dem amerikanischen Doppelkontinent.
Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Smith und Payne kamen Wissenschaftler um die Biologen Tobias Andermann und Daniele Silvestro von der Universität Göteborg. Sie betrachteten ebenfalls Säugetiere, allerdings die großen und die kleinen. Dazu untersuchten sie die Überreste von 351 Arten, die im Zeitraum der vergangenen 126 000 Jahre ausgestorben waren. Ihr Fazit: Die Artenvielfalt nahm stets ab, nachdem Homo sapiens eine Weltregion besiedelt hatte.
Die Forscher machten zudem die Gegenprobe. Sie modellierten die Aussterberate der Säuger unter Einfluss verschiedener Faktoren: der menschlichen Bevölkerungsgröße, des Umfangs besiedelter Landflächen und der weltweiten Temperaturbedingungen. Doch das Ergebnis blieb mehr oder weniger unverändert. »Wir stellten fest, dass das Aussterben von Säugetieren in diesem Zeitraum zu 96 Prozent auf den Menschen zurückzuführen ist«, sagt Silvestro laut einer Pressemitteilung seiner Universität. Hat demnach der anatomisch moderne Mensch die Megafauna auf dem Gewissen?
Seit vielen Jahren streiten Fachleute über diese Frage – ist der Mensch verantwortlich, war es vielmehr ein lokaler Klimawandel, oder war es beides gemeinsam? Besonders erbittert wird die Debatte über Mammuts geführt. So fand eine Arbeitsgruppe 2021 Hinweise darauf, dass der klimatische Wandel zum Ende der Eiszeit für mehr Niederschlag sorgte und die Landschaften mit Wasser sättigte, woraufhin die Mammuts ihre angestammten Habitate verloren und die Populationen einbrachen. Zudem bezeugten DNA-Schnipsel aus dem Permafrostboden, dass Mammuts an entlegenen Orten länger als anderswo ausgeharrt hatten: bis in eine Zeit vor etwa 5700 Jahren. Homo sapiens war damit für unschuldig erklärt. Denn angesichts einer derart langen Koexistenz konnten Menschen die Mammuts nicht aus der Welt gejagt haben.
Doch schon im gleichen Jahr, ebenfalls 2021, rekonstruierten Fachleute um Damien Fordham von der University of Adelaide mit Hilfe von Computermodellen, fossilen Funden und Genanalysen die Lebensgeschichte der Rüsseltiere. Ihr Ergebnis: Klimakapriolen allein hätten die Wollhaarmammuts nicht bezwingen können. Erst der Faktor Mensch ließ die Giganten der Steinzeit aus der Rechnung verschwinden.
Der Mensch, nicht das Klima
Smith, Payne und ihr Team, die einen globalen Zensus einstiger Großsäuger aufstellten, dokumentierten Ähnliches. In den Jahrmillionen vor dem späten Pleistozän, also vor mehr als zirka 126 000 Jahren, hätten klimatische Schwankungen die Riesentiere unbeschadet gelassen. »Bevor sich die Menschen [auf der Welt] ausbreiteten, erhöhten Klimaveränderungen nicht das Aussterberisiko für die großen Säugetiere«, schreiben die Wissenschaftler in ihrer »Science«-Studie. Warum sollten sie es dann danach tun? In die gleiche Kerbe schlagen Andermann und Silvestro, wenn sie resümieren: »Im Wesentlichen fanden wir keine Beweise für ein klimabedingtes Aussterben in den letzten 126 000 Jahren.«
In ihrer Analyse fiel den beiden Biologen und ihren Kollegen außerdem auf, dass in bestimmten Zeitfenstern und Regionen die globale Aussterberate auffällig hochschnellte. Es waren die Phasen, als Homo sapiens Australien vor rund 65 000 Jahren und den amerikanischen Doppelkontinent vor mehr als 15 000 Jahren erreicht hatte. Reagierten die Säuger auf diesen Kontinenten besonders anfällig auf das Walten des Menschen? So vermuten es die beiden Forscher. In den Regionen hatte sich die Tierwelt viele Jahrhunderttausende länger als in Afrika und Eurasien vollkommen menschenfrei entfalten können. Umso härter traf sie »das Auftreten von Homo sapiens als effizientem neuem Raubtier«, heißt es in der Studie von Andermann und Co.
Möglicherweise beeinflussten sogar schon die Vorfahren von Homo sapiens die Säugetierentwicklung in Afrika, wie Smith und Payne in ihrer Untersuchung in »Science« vorrechnen. Demnach waren die Säugetiere dort schon länger kleiner, als bei der zur Verfügung stehenden Landfläche eigentlich zu erwarten wäre. Doch die Beweislage dafür ist bislang dünn, auch wenn Daniele Silvestro mit Kollegen weitere Hinweise darauf sammeln konnte. Sie stellten fest, dass die Zahl der großen Fleischfresser einbrach – beginnend vor ungefähr vier Millionen Jahren. »Etwa zur gleichen Zeit fingen unsere Vorfahren an, eine neue Technik zur Nahrungsbeschaffung einzusetzen, den Kleptoparasitismus«, erklärt Koautor Lars Werdelin vom Schwedischen Naturkundemuseum in Stockholm in einer Pressemitteilung. Das heißt, Australopithecus und später Homo erectus stibitzten die Beute anderer Landbewohner. Im Lauf der Zeit hatte der Mundraub Folgen: Die bestohlene Spezies hungerte, Tiere starben und der Fortbestand ihrer Arten geriet in Gefahr.
Womöglich, so nehmen die Forscher an, hatten deshalb einige Raubtiere ihr Verhalten angepasst. »Sie schleppten beispielsweise die Beute auf einen Baum, wie wir es bei Leoparden sehen«, erklärt Søren Faurby von der Universität Göteborg, der zusammen mit Werdelin und Silvestro an der Studie gearbeitet hat. Andere Raubtiere hätten begonnen, ihre Beute im Rudel gemeinsam zu verteidigen.
Änderten schon die frühen Homininen ihr Ökosystem?
Ebenfalls vor ungefähr vier Millionen Jahren schrumpfte auch die mittlere Körpergröße der afrikanischen Säuger, genauer gesagt: Die bis dahin größten Vertreter der Megafauna verschwanden. Faysal Bibi vom Museum für Naturkunde in Berlin und Juan Cantalapiedra von der Universidad de Alcalá in Madrid kamen zu diesem Ergebnis, nachdem sie tausende fossile Tierzähne vermessen hatten. Dann suchten sie nach dem Grund dieser Entwicklung. Wie sie 2023 im Fachblatt »Science« schreiben, sorgten damals fallende Temperaturen, der Verlust von Wäldern sowie die Ausbreitung von Grasland für den Wandel in der Größenverteilung. Bibi und Cantalapiedra gehen daher davon aus, dass es einen langfristigen Trend gab – auf Grund von Umweltveränderungen verlor die Megafauna an Größe. Die Effekte des »menschlichen Overkills«, heißt es in der Arbeit der Forscher, hätten dann seit dem Pleistozän die Ökosysteme zusätzlich belastet.
Unklar ist, ob diese Daten das Zusammenspiel verschiedener Faktoren wiedergeben – erst ein klimabedingter Wandel des Habitats, dann der allmähliche Auftritt von Menschenformen – oder wie im Fall der Raubtiere das Wirken der frühen Menschenvorläufer. Bezeugt durch den Fund fossiler Überreste ist hingegen, dass schon vor knapp zwei Millionen Jahren Vertreter der Gattung Homo von Afrika aus in die Welt zogen. Sie erreichten Europa und Asien; und aus ihnen gingen vor rund 650 000 Jahren die Neandertaler und Denisovaner hervor. Übten diese Menschenformen weniger Druck auf die Umwelt aus, weil ihre Bevölkerungsdichte kleiner war? Es ist unsicher, aber Studien legen nahe, dass von ihnen weniger Gruppen umherstreiften als später bei Homo sapiens.
Die großen Fünf
1 Eisiger Neuanfang
Vor 440 bis 450 Millionen Jahren, am Ende des Ordoviziums, ging erstmals ein Großteil der Artenvielfalt verloren. Im vorangehenden Kambrium hatten sich in den Ozeanen fast alle wichtigen Tierstämme explosionsartig entwickelt: Gliederfüßer, Schwämme, Stachelhäuter sowie Weich- und Wirbeltiere. Im Ordovizium entfaltete sich dann im Wasser eine immer größer werdende Bandbreite an Arten. Wegen extrem hoher Kohlenstoffdioxidkonzentrationen war es zunächst ungewöhnlich heiß. Da der Superkontinent Gondwana Richtung Südpol driftete, begannen jedoch riesige Landflächen mehr und mehr zu vereisen. Infolgedessen sank der Meeresspiegel dramatisch und zusätzlich brach klirrende Kälte über die Erde herein. Das führte letztlich dazu, dass rund 85 Prozent aller damals lebenden Arten verschwanden, wie der Paläontologe Norman MacLeod vom Natural History Museum in London in seinem Buch »Arten sterben« erklärt.
2 Katastrophe mit Fragezeichen
Vor 359 bis 372 Millionen Jahren kam es zum so genannten Kellwasser-Ereignis, benannt nach einer Fossilienfundstätte. In den Meeren tummelten sich Fische, und erste Tiere begannen, die bereits grünen Landflächen zu erkunden. Weshalb es zum Untergang kam, ist ungewiss. Vermutlich spielten Faktoren wie Sauerstoffarmut in den Ozeanen, Vulkanausbrüche und sinkende Kohlenstoffdioxidkonzentrationen zusammen, woraufhin das Klimasystem kippte. Spekuliert wird ebenfalls über Asteroideneinschläge oder gar eine erdnahe Supernova. 50 bis 75 Prozent aller Arten gingen verloren, insbesondere etliche Fische und Korallen. 13 Millionen Jahre später kam es wahrscheinlich an der Schwelle zum Karbon zu einem weiteren Massenaussterben, das jedoch nicht zu den großen Fünf zählt. Anschließend waren bis zu 90 Prozent aller Meerestierarten ausgestorben, während die Pflanzen bemerkenswert wenig unter den Katastrophen gelitten hatten.
3 Verheerender Ausbruch
Vor 252 Millionen Jahren, beim Übergang vom Perm zur Trias, änderte sich die Erde so einschneidend wie wohl bei keinem anderen Faunenschnitt. Mehr als 90 Prozent aller Fossilien bildenden Arten wurden ausgelöscht. Dazu zählten unter anderem die letzten verbliebenen Trilobiten, meeresbewohnende Gliederfüßer. Doch es traf dieses Mal auch die Landtierarten: Rund drei Viertel davon starben aus, sogar Insekten. Zusätzlich ging ein Großteil der Vegetationsbedeckung verloren, die Landpflanzen erholten sich indessen mehrheitlich. Als Auslöser für den Zusammenbruch fast aller Ökosysteme vermuten Fachleute gewaltige Vulkanausbrüche in Sibirien. Über mehrere hunderttausend Jahre wurden riesige Flächen mit Lava geflutet, ganze Landstriche abgebrannt und ungeheure Mengen an Treibhausgasen freigesetzt.
4 Untergang der Kegelzähne
Am Übergang von der Trias zum Jura verschwanden vor 201 Millionen Jahren drei Viertel aller Arten von der Erdoberfläche. Von den Riffen blieben nur wenige Prozent übrig. Restlos vernichtet wurden die Conodonta (griechisch für »Kegelzähne«), die mindestens 340 Millionen Jahre die Ozeane bevölkert hatten. Die versteinerten Überbleibsel, die den harten Kegelzahnapparat zeigen, zählen heute zu den wichtigsten Leitfossilien des Erdaltertums. Die wenigen Weichkörperfossilien weisen auf einen aalförmigen Körper hin. Vom Festland verschwanden mit Ausnahme der Krokodile sämtliche großen Crurotarsi, das ist eine Gruppe von Archosauriern. Der Auslöser des Massenaussterbens ist nicht geklärt. Diskutiert werden unter anderem ein Asteroideneinschlag oder starke Schwankungen des Meeresspiegels. Als wahrscheinlicher gilt jedoch, dass hier ebenfalls eine außerordentliche vulkanische Aktivität die Hauptschuld trägt.
5 Fataler Treffer
Die überwiegenden Opfer des Massenaussterbens am Übergang der Kreidezeit zum Paläogen vor 66 Millionen Jahren sind wohl die prominentesten überhaupt: die Dinosaurier. Aber auch die Ursache dafür ist spektakulär: ein Asteroid mit 10 bis 15 Kilometer Durchmesser, der die Halbinsel Yukatan in Mexiko traf – wahrscheinlich der härteste Schlag, den die Erde während der letzten 600 Millionen Jahre abbekam. Die als Impakt-Hypothese bekannte Theorie gilt mittlerweile als gesichert. Der Einschlag (vielleicht waren es sogar mehrere), gekoppelt mit stark erhöhter vulkanischer Aktivität, löste verschiedenste Umweltveränderungen aus, die Zeiträume von wenigen Tagen bis zu mehreren hunderttausend Jahren umfassten. Fauna und Flora verwandelten sich infolgedessen tief greifend und wahrscheinlich gingen knapp 60 Prozent aller Arten zu Grunde. Immerhin: Die heutigen Vögel stammen direkt von den Dinosauriern ab.
Janosch Deeg ist promovierter Physiker und Wissenschaftsjournalist in Heidelberg.
Die aktuelle Aussterberate liegt 1700-mal höher als vor dem späten Pleistozän
Sicher ist hingegen: Arten sterben aus – auch ohne Zutun der Menschheit. Biologen und Paläontologen sprechen dann vom Hintergrundsterben. Dazu berechnen sie die ungefähre Überlebenszeit einer Art oder die Zahl an Spezies, die im Lauf eines Zeitraums verschwinden. Ob und wie stark sich diese Aussterberate nun verändert hat verglichen mit der Zeit, bevor die Menschen sich ihren Spitzenplatz in den Ökosystemen der Welt gesichert hatten, rechneten Andermann, Silvestro und ihr Team der Universität Göteborg aus. Ihr Ergebnis übersteigt die Werte des Hintergrundsterbens in extremem Ausmaß, wie sie schreiben: »Wir stellen fest, dass die gegenwärtigen Aussterberaten weltweit ungefähr 1700-mal höher liegen als vor dem Beginn des späten Pleistozäns.« Ein Rechenbeispiel verdeutlicht die scharfe Diskrepanz: Bis 351 weitere Säugetierspezies ausgestorben sind, vergehen in der heutigen Welt 810 Jahre. In einer Welt ohne menschliches Wirken verschwände dieselbe Zahl an Arten innerhalb von 1,75 Millionen Jahren.
Auch Paläobiologe Thomas Neubauer stieß bei seinen Forschungen auf derart alarmierende Zahlen. Er untersuchte mit Kollegen wirbellose Tiere: Süßwasserschnecken in Europa. Rund 3400 fossile und lebende Schneckenarten der vergangenen 200 Millionen Jahre bezogen sie in ihre Analyse ein und damit auch die Ereignisse zur Zeit des fünften Massenaussterbens vor zirka 66 Millionen Jahren. Dann modellierten Neubauer und Co die Aussterberaten. Die Kurve machte am Ende der Kreidezeit einen deutlichen Ausschlag nach oben: Damals verschwanden in vergleichsweise kurzer Zeit fast 93 Prozent aller Arten der Süßwasserschnecken. Dieser Prozess dauerte rund 5,4 Millionen Jahre. Danach entfalteten sich wieder neue Spezies. Nach weiteren 6,9 Millionen Jahren war die Artenvielfalt wieder auf dem Niveau der Vorkatastrophenzeit.
Verglichen mit dem fünften Massenaussterben sieht die Lage für die heutigen Süßwasserschnecken jedoch gravierender aus. Neubauer und sein Team prüften die Rote Liste der International Union for Conservation of Nature (IUCN), um festzustellen, wie viele Spezies gefährdet und welche bereits ausgestorben sind. Bleiben die Bedingungen so, wie sie momentan sind, verschwinden die Süßwasserschneckenarten heutzutage etwa 1000-mal schneller als während des Untergangs der Dinosaurier.
Umstellung in der Größenordnung der neolithischen Revolution
»Mehr als 99 Prozent aller Arten, die je auf der Erde gelebt haben, sind ausgestorben«, sagt Neubauer. »Besonders und bedenklich ist jedoch die Schnelligkeit des Prozesses heute.« Die Entwicklung verlaufe derart rasch, dass viele Spezies sich nicht an die neuen Bedingungen anpassen könnten. Verschwinden sie, drohen Ökosysteme zusammenzubrechen. »Funktionierende Ökosysteme sind allerdings wichtig, auch für den Menschen«, sagt Neubauer. Doch die Zeichen stehen schlecht. Insbesondere weil die Weltbevölkerung wächst und Klimawandel, Umweltverschmutzung sowie Raubbau die Lage verschärfen.
Aber Fatalismus ist nicht angebracht, davon ist Paläobiologe Neubauer überzeugt. Anders als in den Jahrhunderten und Jahrtausenden zuvor wüssten Menschen viel mehr über biologische Mechanismen. Die gegenwärtigen Vorgänge, der rapide Verlust an Arten, lassen sich bemessen. Damit habe die Menschheit die Chance zu erkennen, was vor sich geht. Doch nicht nur das Wissen habe sich vermehrt, sondern auch »unsere Möglichkeiten, so einzugreifen, dass die Artenvielfalt und funktionierende Ökosysteme erhalten bleiben«, ergänzt Jonathan Payne. Der US-Geologe geht davon aus, dass die Welt intensiver und effektiver Naturschutz betreiben wird – »ich bleibe optimistisch, dass wir die schlimmsten Szenarien für den Verlust der Artenvielfalt in Zukunft abwenden können«.
Und es gibt mehr Anlass zur Hoffnung. Sogar zehn Milliarden Menschen könnte die Erde ernähren, berechneten Fachleute. Dafür müssen wir jedoch unsere Ernährungsweise radikal ändern und umweltschonender wirtschaften – also eine Umstellung vollziehen ungefähr in der Größenordnung der neolithischen Revolution.
Anmerkung der Redaktion am 01.02.2024: Der Artikel wurde ergänzt und aktualisiert.
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