Artenvielfalt: Igel an der Pommesbude
Kleine Eiszeiten, große Eiszeiten, unterbrochen von Wärmephasen und Hitzeperioden; seit rund 60 Millionen Jahren hat der Igel allem getrotzt. Er gilt als das älteste Säugetier Europas und hat bisher großes Geschick beim Überleben bewiesen. Doch jetzt wird es eng. »Wäre es nur der Klimawandel allein, würde der Igel das wohl auch wegstecken«, erklärt Anne Berger, promovierte Wildbiologin im Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin. Leider muss sich der Braunbrustigel (Erinaceus europaeus) heute auch mit dem Verlust von Lebensräumen, Insektenrückgang, Giften und modernen Feinden wie Autos und Mährobotern auseinandersetzen. Darauf hat ihn die Evolution nicht vorbereitet.
»Aber natürlich kann der Klimawandel nicht isoliert betrachtet werden«, sagt Berger, zumal die ganzen klimabedingten Änderungen in einem enormen Tempo stattfänden und den Tieren wenig Zeit für Anpassungen blieben. Normalerweise hält der Igel ungestört seinen Winterschlaf, bekommt im Juli/August seine Jungen und alle fressen sich eine dicke Speckschicht an, bevor die Tiere dann die kalte Jahreszeit wieder im Winterschlaf verbringen. Durch den Klimawandel kommt es zu Temperaturänderungen und Extremwetterereignissen wie Hitze, Trockenheit oder Starkregen und Hochwasser. Das alles kann das Igelleben beeinflussen. Die Paarungszeit und die Igelgeburten verschieben sich, der Winterschlaf ist weniger tief und wird öfter unterbrochen. Die Wetterextreme beeinflussen auch die Insektenwelt, und damit ändert sich die Verfügbarkeit der Igelnahrung. Es hängt also alles miteinander zusammen, und man braucht durchdachte Lösungen, um die Lebensbedingungen der Igel dort zu erleichtern, wo es möglich ist.
»Heute hängt die Existenz von so gut wie jeder Wildtierart davon ab, inwieweit sie sich mit den Bedingungen arrangieren kann, die wir ihr bieten«Anne Berger, Wildbiologin
Zusammen mit Madeleine Geiger und Anouk Lisa Taucher vom Naturkundemuseum St. Gallen und der ETH Zürich ist Anne Berger der Frage nachgegangen, welche Maßnahmen auf dem Land und in der Stadt ergriffen werden könnten, um den Rückgang der Igel aufzuhalten. »Heute hängt die Existenz von so gut wie jeder Wildtierart davon ab, inwieweit sie sich mit den Bedingungen arrangieren kann, die wir ihr bieten, und auch davon, inwieweit der Mensch genug Willen und Wissen hat, um dieser Wildtierart einen Lebensraum zu gewähren, der ihren Lebensansprüchen genügt«, sagt Anne Berger.
Was Igel brauchen, ist eigentlich hinreichend bekannt: Wie andere Tiere auch profitieren sie in ihrem Lebensraum grundsätzlich von einer hohen Biodiversität, sei es nun auf dem Land oder in der Stadt. Für die Erhaltung dieser Biodiversität sieht es allerdings nicht gut aus. »Wir zerstören die Lebensräume, zerschneiden die Landschaften und isolieren die Populationen«, zählt die Wildbiologin auf. Gleichzeitig gebe es noch wenig Wissen darüber, wie die Reaktionen oder auch die Anpassungsstrategien der Igel auf diese Einflüsse aussehen. Diese Untersuchungen seien aber essenziell für effektive und nachhaltige Schutzmaßnahmen für den Igel, der heute in Deutschland auf der Vorwarnliste der Roten Liste steht. Die Deutsche Wildtier Stiftung hat ihn zum Wildtier des Jahres 2024 gewählt.
Ein unordentlicher Garten bitte!
Eine aufgeräumte Landschaft ohne Sträucher und Hecken ist für den Igel uninteressant. Kein Platz zum Verstecken, keine Insektenvielfalt und auch keine Möglichkeit, um die Nester zu bauen, die der Igel braucht. Er hat Schlafnester für den Tag, Nester für den Winterschlaf und Nester für die Geburt der Jungen. Für alle brauchen die Tiere sowohl Sträucher und Äste zur Verankerung als auch Material zur Auspolsterung und Isolierung wie Laub oder Ähnliches. Dieser Wärmeschutz ist besonders wichtig, denn die Igel haben zwar 5000 bis 8700 Stacheln, dazwischen aber keine Haare, demzufolge auch eine unzureichende Isolation gegen die Kälte. Eine strukturreiche Landschaft wäre also zum einen igelfreundlicher und würde zum anderen zusätzlich natürlich auch die Attraktivität für andere Tiere wie Insekten und damit das Nahrungsangebot für Igel erhöhen. Denn auch damit wird es immer schwieriger.
Igel fressen Insekten und zeigen dabei eine gewisse Vorliebe für Laufkäfer, wie britische Forscher herausfanden. Die Wissenschaftler fanden in Igelmägen auch Schmetterlingsraupen, Ohrwürmer, Tausendfüßer, Würmer und Schnecken, doch den Hauptanteil bildeten die Laufkäfer. Und wenn diese verschwinden, fehlt den Igeln dann auch ein großer Anteil ihrer Nahrung. Oder sie ist schwer erreichbar, wenn die Böden durch Hitze und Trockenheit hart werden und die Igel an die darin lebenden Käfer und Engerlinge nicht mehr herankommen.
Auch das könnte man ändern, wenn man in der Landwirtschaft auf Insektizide verzichten und Ackerrandstreifen, Käferbänke oder Totholzplätze anlegen würde. Das hört sich alles einfach an – doch solche Maßnahmen umzusetzen, ist nicht einfach und braucht seine Zeit. Die Igel hatten aber offenbar nicht die Zeit zu warten – stattdessen orientieren sie sich um. Forschende beobachten bei ihnen eine Art Landflucht. »Das ist kein neues Phänomen, man hat es in England bereits vor rund zehn Jahren bemerkt. Und im Gegensatz zu uns hat man dort erst einmal Bestandserhebungen durchgeführt, um überhaupt eine vernünftige Datenbasis zu haben«, erklärt Anne Berger. Durch Monitoring und Citizen-Science-Projekte habe man festgestellt, dass der Igelbestand deutlich eingebrochen sei.
Britische Igelpopulation um 75 Prozent eingebrochen
In dem aktuellen Bericht »State of Britain’s Hedgehogs 2022«, der vom People’s Trust for Endangered Species und der British Hedgehog Preservation Society veröffentlicht wurde, geht man von einem Igel-Rückgang von bis zu 75 Prozent seit dem Jahr 2000 aus. Der massive Einbruch der Igelpopulation machte klar, dass schnell gehandelt werden muss. Gegenmaßnahmen werden zentral organisiert, es gibt dafür landesweite Kampagnen und viel finanzielle Unterstützung. Ein »Hedgehog Officer« koordiniert den landesweiten Igelschutz, im Parlament werden die Belange der Igel thematisiert und Parkmanager werden für die igelfreundliche Gestaltung geschult.
Vergleichbares gibt es in Deutschland noch nicht: Hier zu Lande sind nicht einmal die bundesweiten Igelbestände erfasst. Das soll nun anders werden. Deswegen zählten im September 2023 tausende Freiwillige in einem bundesweiten Citizen-Science-Projekt erstmals die Igel in Deutschland. Dazu aufgerufen hatten die Deutsche Wildtier Stiftung gemeinsam mit den NABU-Naturguckern und der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft; die Leitung hat das IZW übernommen.
»Im Erfassungszeitraum wurden 4617 Beobachtungen von Igeln mit 10 586 Individuen gemeldet«, so Sophie Lokatis, promovierte Biologin, die bei der Wildtier Stiftung dieses Projekt betreut. Es solle nun zweimal jährlich im Mai und im September stattfinden und man erhoffe sich davon die dringend benötigten Daten über den aktuellen Igelbestand. Die bisherigen Ergebnisse zeigen eine mehr oder weniger gleichmäßige Verteilung der genannten Igelbeobachtungen mit einer Häufung unter anderem in und um Berlin, Nordrhein-Westfalen und im süddeutschen Raum.
Bayern zählt Igel
In Bayern erhebt man die Igelzahlen schon länger. Dort hat der Landesbund für Vogelschutz (LBV) bereits im Jahr 2015 gemeinsam mit dem Bayerischen Rundfunk das LBV-Projekt »Igel in Bayern« ins Leben gerufen und zur Igelzählung aufgerufen. »Es erfreut sich seither großer Beliebtheit«, erklärt Angelika Nelson, promovierte Biologin und Igelexpertin beim LBV. Im Durchschnitt würden 15 000 Meldungen pro Jahr gemacht, die mehr als 20 000 Igel insgesamt zählten – darunter sowohl tote als auch lebende Tiere. 65 Prozent der Meldungen betreffen lebende Igel. Die meisten Meldungen treffen im April und Mai ein, gefolgt von September und Oktober. »Das hängt mit dem Aktivitätsmuster des Igels zusammen«, erklärt Angelika Nelson: Sie erwachen im Frühjahr aus dem Winterschlaf und suchen Nahrung. Im Herbst bereiten sie sich auf den Winterschlaf vor und suchen wieder Nahrung für Fettreserven.
Die Daten seien bisher aber noch nicht in großem Umfang ausgewertet worden, man könne also von diesen Zahlen nicht auf den Bestand des Igels in Bayern rückschließen, so Nelson. Einzelne Aspekte des Igel-Meldeprojektes wurden auch von Hochschulstudentinnen und -studenten ausgewertet, und man fand beispielsweise heraus, dass Igel im stark versiegelten Gebiet später aus dem Winterschlaf aufwachen und früher wieder in den Winterschlaf fallen, also einen verkürzten Aktivitätszeitraum haben.
In England hat man allerdings nicht nur die Igelbestände erfasst, sondern man möchte auch die Lebensräume der Igel vernetzen. Die Hedgehog-Street-Kampagne wendet sich direkt an alle Menschen mit Garten und appelliert, Durchgänge in Zäunen, Mauern oder auch kleine Treppen anzulegen: für so genannte Hedgehog-Highways, Igel-Autobahnen also. Die Igel-Durchgänge werden mit Schildern markiert, damit bei einem Hausverkauf auch die neuen Besitzer wissen, warum dort Löcher in den Zaun geschnitten wurden, und sie dort belassen. Außerdem gibt es Plaketten und Fortbildungen. Mittlerweile sind bei dieser Kampagne 126 886 so genannte Hedgehog Champions registriert, die den Igel in ihrem Umfeld unterstützen.
Bauvorschriften sichern die Igel-Autobahn
Auch in der Schweiz gibt es unter dem Motto: »Freie Bahn für Igel und Co« ähnliche Initiativen zur Vernetzung von Gärten und Grünanlagen. Und in Deutschland wurden zumindest an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Projekts »Netzwerk*Igeltunnel« im Jahr 2022 auf dem Campusgelände Igel-Durchgänge in Zäune und sogar in Mauern gebohrt. Denn der igelfreundlichste Garten nützt den Tieren gar nichts, wenn sie wegen Zäunen oder Mauern weder hinein- noch hinauskommen.
»Diese fehlende Vernetzung ist ein großes Problem für die Igel«, sagt auch Jonas Renk, Projektmanager bei Kommunen für biologische Vielfalt (Kommbio), einem bundesweiten Netzwerk für naturnahe Kommunen, dem bereits 388 Städte, Gemeinden und Landkreise beigetreten sind.
Als Positivbeispiel für mehr Igel-Vernetzung in der kommunalen Planung nennt Renk die Stadt Würzburg. Dort hat man gegengesteuert und in viele Bebauungspläne sogar folgende rechtsverbindliche Formulierung integriert: »Einfriedungen sind in sockelloser Bauweise zu errichten und müssen bis zu einer Höhe von mindestens 10 cm für bodenlebende Tiere (z. B. Igel, Reptilien, Amphibien) ebenerdig passierbar sein.« Das gelte für alle, die im Geltungsbereich dieses Bebauungsplans bauen würden. Würde dann beispielsweise im Rahmen einer Baukontrolle durch die Bauaufsichtsbehörde festgestellt, dass die Vorschrift nicht eingehalten wurde, könne der Rückbau angeordnet und ein Bußgeld verhängt werden.
Zäune als Hindernis könnte man nach Renks eigenen Erfahrungen leicht entschärfen, indem die Maschenweite wie bei Wildzäunen mindestens auf zehn mal zehn Zentimeter angehoben würde oder, wie in England, kleine Durchgänge in Zäunen bereits bei der Planung mit bedacht würden. Ausstiegshilfen in Teichen und Wasserstellen sind ebenfalls notwendig, denn sie verhindern einen Tod durch Ertrinken, wenn die Tiere auf der Suche nach Wasser dort hineinfallen. Eine weitere Herausforderung für Igel kann künstliche Beleuchtung sein, so die Forschenden. Dunkelkorridore seien wichtig für Igel und andere Wildtiere, weshalb Licht am besten nie die ganze Nacht brennen sollte.
Igel an der Pommesbude
Für viele Großstadtmenschen ist die einfachste Art, einen Igel zu sehen, der Besuch einer Pommesbude. Was sich flapsig anhört, zeigt für Berger aber eine relevante Problematik des Stadtlebens auf: Igel mögen vieles an unserem Essen; sie schlecken Jogurtbecher aus, kriechen in die gelben Säcke oder streiten sich auch schon mal mit Katzen oder kleinen Hunden um das Futter. Aber da sie Pflanzenfasern und Zucker nicht vertragen und auch laktoseintolerant sind, bekommt ihnen all das nicht sehr gut – ebenso wenig wie eine regelmäßige Zufütterung im Garten, die Berger ablehnt.
»Wenn man das Futter bequem aus einem Napf fressen kann, macht man sich nicht mehr die Mühe, selbst nach Futter zu suchen. Die Tiere verlieren die Scheu vor den Menschen und verlernen es im schlimmsten Fall, selbst zu jagen«, so Berger. Zudem gebe es an Futterstellen auch das Risiko, dass dort Parasiten oder Krankheiten übertragen werden könnten.
Auf Dauer könne man einen Igel nicht artgerecht ernähren. Die Wildbiologin würde deshalb nur in Notzeiten und auch nur kurzfristig eine Zufütterung empfehlen, wie etwa vor und nach dem Winterschlaf der Tiere sowie in sommerlichen Hitzeperioden, in denen man den Tieren auch eine Wasserstelle anbieten sollte.
Sinnvoller als die Zufütterung seien Flächen mit mehr Wildnis. Öffentliche Grünflächen könnten hier mit einem guten Beispiel vorangehen und einige Bereiche sich selbst überlassen, sagt Berger. Damit würde man zudem das natürliche Nahrungsangebot für Igel verbessern. Auch Angelika Nelson sieht in der Zufütterung keinen langfristigen Ansatz, sondern nur eine Möglichkeit für den Notfall. »Die Erhaltung der Art steht im Vordergrund, und das Ziel sollte deshalb sein, die Lebensräume der Tiere anders zu gestalten, so dass die Igel dort überleben können.«
Gefahren durch Mähroboter
Ein weiteres großes Problem sind die Mähroboter, die Tag und Nacht unbeaufsichtigt fahren dürfen und die Igel verletzen oder töten können. Wissenschaftler haben 370 in Deutschland dokumentierte Fälle von Schnittverletzungen an Igeln analysiert, die auf elektrische Gartenpflegegeräte zurückzuführen sind. Knapp die Hälfte der zwischen Juni 2022 und September 2023 aufgefundenen Igel überlebte die Verletzungen nicht. Die Fachleute fordern ein generelles Nachtfahrverbot für Mähroboter.
Ein Team um Sophie Lund Rasmussen von der Wildlife Conservation Research Unit (WildCRU) an der University of Oxford hat standardisierte Igel-Sicherheitstests für Mähroboter erarbeitet und plädiert dafür, ein solches Testprotokoll auf europäischer Ebene durch das Europäische Komitee für elektrotechnische Normung (CENELEC) verpflichtend einzuführen.
Die Umweltminister der Länder haben im Dezember 2023 den Bund bei der Umweltministerkonferenz (UMK) gebeten, sich auf EU-Ebene für die Aufnahme des Schutzes von Wildtieren vor automatisierten Maschinen einzusetzen. Auch solle die Bundesregierung prüfen, ob und wie ein nationales Siegel »Wildtierfreundlich« mit entsprechenden Vorgaben geschaffen werden könne, so die UMK.
Anne Berger wünscht sich mehr Vernetzung in Deutschland, um verschiedene Initiativen zu bündeln. Schließlich befänden sich viele Igel in der Obhut von Pflegestellen. Diese Zahlen bildeten eine solide Datenbasis. »So lassen sich auf der Grundlage von Daten aus Pflegestellen und Citizen-Science-Kampagnen Basisdaten für Modelle zur Populationsentwicklung oder zu den Auswirkungen verschiedener Umweltfaktoren oder menschlicher Aktivitäten gewinnen«, so Berger in einem Vortrag bei der International Conference of Hedgehog Professionals im Januar 2024. Ein deutsches Pendant zu dieser Konferenz soll im Januar 2025 in Berlin von der IZW ausgerichtet werden. Diese Vernetzung von Igelforschung und Pflege könnte helfen, den Europäischen Igel in freier Wildbahn zu erhalten.
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