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Heimat für bedrohte Arten: Was Städte so verblüffend artenreich macht

Der Siedlungsraum wird mehr und mehr zum Refugium seltener Arten, vor allem an Stellen, an denen man es nie vermutet hätte. Jeder könnte das sogar leicht noch weiter fördern.
Natur auf dem Mittelstreifen

Die Heuschrecken-Sandwespe (Sphex funerarius) wird bis zu 2,5 Zentimeter groß, hat einen auffallenden, orange-schwarzen Hinterleib, und wenn sie ihr Nest in ein warmes, sonniges Plätzchen gegraben hat, versteckt sie darin Grillen und Schrecken für ihre Brut. Die Mauerbiene Osima spinulosa wird keinen ganzen Zentimeter groß, macht sich nicht die Mühe, ein eigenes Nest zu bauen, sondern nutzt lieber verlassene Schneckenhäuser. Auch sie braucht naturbelassene, trockenwarme Lebensräume. Das Schafgarben-Böckchen (Phytoecia pustulata) ist ein kleiner Bockkäfer mit langen Fühlern, dessen Larven sich – wie der Name schon vermuten lässt – in den Stängeln von Schafgarben entwickeln.

Und dann sind da noch die Smaragd-Furchenbiene (Halictus submediterraneus), die Grashummel (Bombus ruderarius) und die Blattschneiderbiene Megachile centuncularis. Alles Arten, die in Deutschland auf der Roten Liste gefährdeter Arten stehen. Alles Arten, die trotz besonderer Ansprüche an ihren Lebensraum nicht nur in Naturschutzgebieten zu finden sind, sondern auch auf den schnöden Mittelstreifen Berlins größter Ausfallstraßen.

Die Heuschrecken-Sandwespe beispielsweise wurde neben einem fünfspurigen Abschnitt der Heerstraße im Westen Berlins gefunden, das Schafgarben-Böckchen auf der Frankfurter Allee, die ostwärts aus dem Stadtzentrum führt. Der Mittelstreifen dort ist nur wenige Meter breit und wird links und rechts von einer dreispurigen Straße begrenzt.

Seit 2017 untersucht der Entomologe Frank Koch regelmäßig die Insektenfauna an den beiden Straßen sowie am so genannten Adlergestell, Berlins längster Straße, einem schnurgeraden Asphaltband, das im Südosten der Stadt den Verkehr in einen Autobahnzubringer schleust. Das Monitoring erfolgte zunächst für die Berliner Humboldt-Universität. Damals wurden für ein Projekt die Mittelstreifen abschnittsweise mit Arten bepflanzt, die resistenter gegen Hitze- und Trockenheit sind. Teilweise wurden bestehende Pflanzen entfernt und der Boden ausgetauscht. Seit dem Projektende im Jahr 2020 erfolgt das Monitoring im Auftrag des Berliner Naturkundemuseums.

»Ich hatte ehrlich gesagt keine besonders großen Erwartungen, als ich mit den Untersuchungen angefangen habe«, sagt Frank Koch. Was sollte auf den Streifen schon zu finden sein? Ein paar Ameisen-, ein paar Fliegen-, ein paar Bienenarten – zu groß schienen die Störfaktoren: Die breiten Straßen links und rechts, unüberwindlich für alle Tiere, die nicht fliegen können. Dazu die extreme Witterung. Im Sommer heizt der Asphalt die Flächen auf. Im Herbst und Winter sind sie Wind und Kälte ausgesetzt. Dazu kommen noch die Belastung durch Abgase und die Störungen durch den Menschen.

»Gleich im ersten Jahr habe ich 111 verschiedene Arten gefunden«, sagt Koch. Mittlerweile hat der Entomologe auf den drei Versuchsflächen mehr als 450 verschiedene Arten nachgewiesen, von denen ein überraschend großer Prozentsatz auf der Roten Liste steht. Das könnte damit zusammenhängen, dass auf den Mittelstreifen Standortbedingungen vorherrschen, die außerhalb der Stadt sehr selten geworden sind. »Gerade durch den Bodenaustausch und durch die starke Hitzeeinstrahlung entsteht ein ruderalflächenähnliches Habitat, das für viele Arten attraktiv ist«, sagt Koch.

Stadtgarten in Groningen in den Niederlanden | Wichtig ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass auch kleine Flächen für den Artenschutz zählen.

Ruderalflächen, das sind vegetationsarme, magere Gebiete, die sich in der Natur bilden, wenn ein Erdrutsch den Oberboden samt Bewuchs wegreißt oder ein Hochwasser das Kiesbett eines naturbelassenen Flusses. Menschengemachte Ruderalflächen finden sich in der Landwirtschaft, an Feldrändern, Feldwegen oder auf brach liegenden Äckern. Wo der Nutzungsdruck gering ist, bleiben sie erhalten, es können sich wertvolle Magerrasen bilden. Doch wegen der Intensivierung der Landwirtschaft sind solche Lebensräume selten geworden. Die städtischen Mittelstreifen könnten darum ein wichtiger Ersatzlebensraum sein. Noch aber ist ihr Potenzial für den Erhalt der Artenvielfalt kaum ausgeschöpft.

Das hat vor allem damit zu tun, dass die Mittelstreifen nur selten als potenziell wertvolle Lebensräume erkannt werden. Bei ihrem Management geht es deshalb nicht um den Schutz der darin vorkommenden Arten, sondern häufig um Optik. Einige Tiere überwintern beispielsweise in Pflanzenteilen, darum kann es eine sinnvolle Maßnahme sein, einen Teil der Gräser über die kalte Jahreszeit stehen zu lassen – auch wenn der Grünstreifen dann bis ins Frühjahr hinein vielleicht ungepflegt wirkt. Überhaupt lässt sich über die Mahd der Flächen viel Gutes – oder Schlechtes – für die Insektenfauna erreichen. Wird regelmäßig kurz gemäht, bleibt nicht mehr viel Lebensraum über. Sind die Mähintervalle dagegen größer oder wird immer nur ein Teil der Fläche gemäht, bleiben genügend Rückzugsmöglichkeiten für die Insekten. Einen Unterschied macht es auch, ob die Pflanzen bis zur Blüte wachsen dürfen, nur dann sind sie eine gute Nahrungsquelle für viele Arten.

Eine App für naturfreundliche Gärtner

Genauso steht es um zahllose weitere Areale innerhalb von Städten und Siedlungen, die ebenfalls nicht dem landwirtschaftlichen Ertrag untergeordnet sind: Parks, Grünanlagen und vor allem die rund 17 Millionen Privatgärten Deutschlands. »Das sind Flächen, auf denen die Besitzer und Besitzerinnen selbst über die Gestaltung entscheiden können und darüber, welche Arten sie dort anpflanzen wollen«, sagt Ingmar Staude vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig. Er ist Mitautor der Studie »Urban conservation gardening in the decade of restoration«, die bei »Nature Sustainability« erschienen ist.

»Rund 40 Prozent der rückläufigen und gefährdeten heimischen Pflanzenarten können in Gärtnereien gekauft und in privaten und öffentlichen Grünflächen in Deutschland gepflanzt werden«, sagt Staude. Zu dieser Erkenntnis kommen die Autoren und Autorinnen, nachdem sie für alle 16 Bundesländer eine Liste der gefährdeten Arten zusammengetragen und mit den Angeboten von Gärtnereien verglichen haben.

Gartenbesitzer und -besitzerinnen können nun ganz praktisch damit anfangen, ihre Grünflächen artenreicher zu gestalten. Die Forschenden haben nämlich aus ihren Daten eine App entwickelt, in der man für einen gewünschten Standort im Garten passende Pflanzen finden kann, die im eigenen Bundesland selten oder gefährdet sind, aber in Gärtnereien erhältlich wären. Allein für Berlin werden knapp 400 gefährdete Pflanzenarten mit ihren wichtigsten Eigenschaften aufgelistet: So erfährt man unter anderem, dass der Kriechende Günsel (Ajuga reptans) zu den Lippenblütern gehört, Sonne bis Halbschatten verträgt, nährstoffreichen Boden bevorzugt, blau blüht und bis zu 30 Zentimeter groß werden kann. Der Günsel ist ein absoluter Insektenmagnet. Elf Bienen- und Wespen- sowie elf Schmetterlingsarten steuern ihn bei der Nahrungssuche an. Außerdem erfährt man, dass die Pflanze auf der Berliner Roten Liste als vom Aussterben bedroht geführt wird (Anhang 1). In einem anderen Suchfenster kann man sich dann Gärtnereien anzeigen lassen, in denen der Kriechende Günsel bezogen werden kann.

Urbane Brache | Kaum oder gar nicht gemähte Flächen mit Wildkräuterbesatz haben wenig Ähnlichkeit mit den gepflegten Rabatten einer Grünanlage. Sie bieten jedoch Lebensräume, die in der heimischen Landschaft selten geworden sind.

»Viele sehen Städte und Siedlungen immer noch als Gegenpol einer artenreichen Natur. Dabei stimmt das schon lange nicht mehr«, sagt Staude. In jedem Garten, sogar auf manchen Balkonen ist die Artenvielfalt größer als auf einem Maisfeld oder einer anderen intensiv genutzten landwirtschaftlichen Fläche. »Die privaten und öffentlichen Grünflächen können wirklich einen wichtigen Beitrag für den Artenschutz leisten«, sagt Staude.

Privatleute wie Stadtgärtnereien könnten beispielsweise verstärkt Wert auf insektenfreundliche Pflanzen legen. Wie überall bei der Artenvielfalt gilt: Je strukturreicher die Fläche ist, desto mehr Arten werden sich einfinden. Im Garten können die unterschiedlichsten Lebensräume direkt nebeneinanderliegen. Zum Beispiel lockt ein Teich (ohne Fische) Amphibien und Libellen an, auf einer Unterlage aus Sand und Kies kann ein mageres Wildblumenbeet entstehen. Totholz, Steinhaufen, Sandbeete, Trockenmauern, Dach- und Fassadenbegrünungen werden zum Lebensraum für noch mehr Arten, im privaten wie im öffentlichen Raum. Apps wie die von Conservation Gardening oder die Webseite von naturgarten.org liefern praktische Handreichungen.

Dass all dies noch nicht in dem Maße geschieht, wie es wünschenswert wäre, liegt vielleicht auch am mangelnden Bewusstsein dafür. Naturschutzgebiete messen sich in Hektaren, der gepachtete Schrebergarten in Quadratmetern. Da kommt manch einer vielleicht gar nicht auf die Idee, dass er oder sie auf diesem begrenzten Raum einen Unterschied machen kann.

Die Architektur muss erst noch lernen, Biodiversität mitzudenken

Um einen Bewusstseinswandel beziehungsweise grundsätzlich um das Mitdenken von Artenvielfalt geht es auch Thomas Hauck. Hauck ist Landschaftsarchitekt und hat eine Professur für Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität Wien. Gemeinsam mit Wolfgang Weisser, der den Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie an der TU München leitet, hat er das Konzept des Animal-Aided Design (AAD) entwickelt. Dessen zentrales Anliegen ist es, Biodiversität und Stadtnatur innerhalb von Stadtentwicklungs-, Landschaftsarchitektur- und Architekturprojekten zu fördern.

Grüne Fassade in Berlin | Eine bewachsene Fassade ist das offensichtlichste Anzeichen für eine auf Natürlichkeit ausgerichtete Architektur. Oft genügen kleinere bauliche Maßnahmen, sofern auch die Umgebung angemessene Lebensbedingungen bietet.

»Bislang ist es so, dass Artenschutz und Biodiversität bei der Planung von Neubauten so gut wie keine Rolle spielen«, sagt Hauck. Im Gegenteil scheinen sich Architektur und Artenvielfalt gegenseitig auszuschließen. »Bürogebäude mit großflächigen Glasfassaden zum Beispiel werden für viele Vögel zur Todesfalle.« Und nicht selten wächst ein Bauprojekt genau dort aus dem Boden, wo vorher eine Grünfläche oder eine artenreiche Brache lag. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass eine Vielzahl geschützter und selten gewordener Arten durchaus den Siedlungsraum annimmt, insbesondere dann, wenn er entsprechend dafür geplant ist.

Das Studio Animal-Aided Design gibt es seit vier Jahren. Mittlerweile werden die Anfragen von Bauherrinnen und -herren häufiger. Ein Projekt, in dem das artenfreundliche Design angewendet wurde, ist bereits fertig gestellt: Bei einem Münchener Wohnungsbauprojekt für etwa 100 Wohnungen wurde die Methode Animal-Aided Design im Rahmen eines Forschungsprojekts von Anfang an in die Planung mit einbezogen. »In Absprache mit den Bauträgern haben wir einige Zielarten identifiziert, die in dem Projekt Berücksichtigung finden sollen. Unter anderem wurden Nisthilfen für Mauersegler und Haussperlinge in die Fassade integriert und Quartiere für Igel und Grünspechte geschaffen«, sagt Hauck.

Mit vielen Arten unter einem Dach

Auch für Fledermäuse wurden Mehrkammerkästen und Fledermauseinbausteine in die Fassade integriert. In Kooperation mit dem bayerischen Umwelt- und Naturschutzverband LBV München wurde noch eine weitere Möglichkeit entwickelt, um Quartiere für Fledermäuse zu schaffen: Rund um die Flachdächer von Neubauten ragt meist eine senkrechte Verlängerung der Außenmauer auf, die so genannte Attika. Deren oberer Abschluss kann leicht so geformt werden, dass ein schmaler Spalt entsteht, in dem Fledermäuse ihr Tagesversteck finden. »Fast alle Neubauten haben Flachdächer mit einer Attika. Mit wenig Aufwand könnte man so flächendeckend neue Quartiere für Fledermäuse schaffen«, sagt Hauck.

Es gibt noch weitere große Bauprojekte, an denen das Studio AAD beteiligt ist: In Berlin-Lichtenberg hat AAD für die Bauprojekte einer Wohnungsbaugesellschaft einen Maßnahmenkatalog für die Integration der Bedürfnisse von Zielarten erarbeitet. Und in Hamburg ist das Studio an der Planung für ein ganzes neues Stadtviertel beteiligt. Die Maßnahmen sind an die jeweiligen Standorte angepasst, aber zum Teil identisch mit den in München bereits umgesetzten. »Grundsätzlich geht es uns darum, eine breite Palette an standardisierten Artenschutzmaßnahmen zu entwickeln, die in jedem Neubauprojekt angewendet werden können«, sagt Hauck.

Bislang gibt es so etwas nicht, schon gar nicht als Vorgabe in den Bauordnungen der Länder. Wenn für alle großen Bauprojekte die Entwicklung eines Biodiversitätskonzepts vorgeschrieben wäre, könnte das die Situation für bestimmte geschützte Arten wie Mauersegler oder verschiedene Fledermäuse deutlich verbessern.

Allerdings müssten die Maßnahmen dann auch konsequent zu Ende gedacht werden. »Vögel oder Fledermäuse werden die Quartiere nur annehmen, wenn auch das Umfeld passt«, sagt Hauck. Es müssen also geeignete Nahrungsquellen vorhanden sein und andere Dinge, die für die Arten wichtig sind. Oft gibt es ganz einfache Lösungen: »Es hilft ja schon, bei der Begrünung Pflanzen zu verwenden, die attraktiv für Insekten und Vögel sind«, sagt Hauck. Und auf Flachdächern kann man zum Beispiel kleine Sandflächen anlegen, die Haussperlinge zum Sandbaden für die Gefiederpflege nutzen.

Großes Potenzial nur bei richtiger Ausführung

Überhaupt haben begrünte Dächer ein enormes Potenzial für die Biodiversität in Siedlungen. Wenn sie denn den unterschiedlichen Ansprüchen der Arten entsprechend angelegt werden: Eine 20 Zentimeter mächtige Substratschicht wird deutlich mehr Arten ein Zuhause bieten als eine nur 10 Zentimeter dicke. Ein dünnes Substrat kann im Winter zum Beispiel durchfrieren und sich im Sommer auf bis zu 60 Grad Celsius aufheizen. Die meisten Bodenlebewesen können solche Extreme nicht überleben. Je mehr unterschiedliche Strukturen es zusätzlich zu den Pflanzen gibt – zum Beispiel kleine Erdhügel, Steinhaufen, vegetationsfreie Flächen oder Totholzhaufen –, desto mehr Arten werden sich einfinden. In dem Münchener Projekt wurden 2022 bei einem Monitoring 20 Käfer- und 17 Wanzenarten auf den Dachflächen nachgewiesen. Besonders teuer sind die Maßnahmen für mehr Artenvielfalt bei Neubauten nicht. »Alles zusammen hat weniger gekostet als ein Tiefgaragenplatz«, sagt Hauck. Für ein Neubauprojekt, das ein Gesamtvolumen von vielen Millionen Euro hat, ist das nicht viel.

Manchmal sind Maßnahmen für mehr Artenvielfalt sogar komplett kostenlos. Beim Berliner Mittelstreifenprojekt jedenfalls hat sich gezeigt, dass Nichtstun das Beste für die Artenvielfalt war. »In einem Untersuchungsgebiet wurde der Seitenstreifen regelmäßig gemäht. Dort waren dann so gut wie keine Insekten zu finden«, sagt Frank Koch. Einzelne Individuen hatten sich an den Rand der Mittelstreifen gerettet, dorthin, wo die Rasenmäher nicht hinkamen. Mittlerweile können die Insekten sich wieder freier entfalten. Die zuständigen Grünflächenämter der Bezirke haben in Sachen Artenschutz dazugelernt. Das Mähen der Mittelstreifen wird jetzt auf eine Mahd im Spätherbst begrenzt.

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