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Artenvielfalt: Wird das Mittelmeer für die Fischwelt zur Sackgasse?

Mehr als 600 Fischarten leben im Mittelmeer – in flachen Lagunen an Felsenriffen, im offenen Wasser und in der Tiefsee. Doch die große Biodiversität ist durch Klimawandel, Überfischung und Lebensraumzerstörung gefährdet. Sind Neuankömmlinge aus dem Sueskanal die Zukunft?
Ein Schwarm silbrig glänzender Goldbrassen (Fische) zieht durch das tiefblaue Meer
Goldbrassen, auch Doraden genannt, gehören zu den beliebtesten Speisefischen des Mittelmeers. Inzwischen kommen sie auch aus Aquakulturen.

Nur wenige Menschen haben die Liechtenstein-Grundel – einen rot-blau gestreiften, knapp drei Zentimeter großen Fisch – je live gesehen. »Dieser Fisch lebt im Verborgenen, so dass man ihn auf Tauchgängen kaum zu Gesicht bekommt«, heißt es in einem Fischführer. Die Liechtenstein-Grundel kommt im nördlichen Mittelmeer vor – vor allem in der Adria, im Tyrrhenischen Meer zwischen Sardinien und Sizilien sowie rund um Ibiza –, sie ist aber überall in ihrem Verbreitungsgebiet selten. Der Fisch verbringt sein Leben in Felshöhlen, wo er sich von kleinen Krebsen und Schnecken ernährt und sich fortpflanzt. Wer Corcyrogobius liechtensteini sehen will, muss lange suchen.

Doch schon Mitte des Jahrhunderts könnte auch die gründlichste Suche vergebens und die Liechtenstein-Grundel ganz verschwunden sein – auf Nimmerwiedersehen. Vor einer »hohen Wahrscheinlichkeit unmittelbaren Aussterbens« warnt die Meeresbiologin Frida Lasram, Professorin an der Université du Littoral Côte d’Opale. In ihrer Doktorarbeit hat sie untersucht, wie sich die Erwärmung des Meerwassers durch den Klimawandel auf 75 Fischarten auswirken wird, die ausschließlich im Mittelmeer vorkommen, also endemisch sind. Lasram und ihr Team verglichen die Ansprüche dieser Arten – etwa an Wassertemperatur, Nahrung und Lebensraum – mit den Klimaprognosen für das 21. Jahrhundert. Denn Fische leben nicht irgendwo im Meer, sondern jeweils in Arealen, auf die sie eingestellt sind – etwa in vergleichsweise kühlem Wasser im Fall der Liechtenstein-Grundel.

Wenn das Mittelmeer zur Sackgasse zu wird

Die Analysen der Meeresbiologin zeigen: Schon bis zur Mitte des Jahrhunderts drohen 6 der 75 untersuchten endemischen Fischarten auszusterben. Weitere 8 werden bis zum Ende des Jahrhunderts folgen, darunter der Adriatische Stör und das Zwerg-Borstenmaul, das in großen Tiefen lebt. Für mehr als zusätzliche 30 endemische Fischarten wird der Lebensraum so schrumpfen, dass ihnen später das Aussterben droht. Schon heute ist der Malteser Rochen – ein 50 Zentimeter großer ockerfarbener Fisch, der sich in großer Tiefe in Sand und Schlamm versteckt, um Beute zu machen – laut Weltnaturschutzunion IUCN vom Aussterben bedroht.

Fische über Seegraswiesen | Seegraswiesen bilden wichtige Lebensräume im Mittelmeer: Sie bilden die Kinderstube vieler Fische und speichern viel Kohlenstoff.

»In der Mitte des Jahrhunderts können die kältesten Teile des Mittelmeers – also die Adria und der Löwengolf – noch Refugien für Arten sein, die auf kaltes Wasser angewiesen sind«, urteilt Lasram. »Aber gegen Ende des Jahrhunderts werden diese Gebiete zu Sackgassen, in denen das Artensterben voranschreitet.« Der Grund ist einfach: Wie die Tierarten in den Alpen, die ihren Lebensraum wegen des Klimawandels immer weiter in Richtung Gipfel verlegen, stoßen auch die endemischen Fische des Mittelmeers an natürliche Grenzen in Form der nördlichen Felsküsten. Dort wird das Wasser schon heute zeitweise so warm, dass Weichkorallen absterben.

»Die miteinander verknüpften Auswirkungen des Klimawandels und anderer Faktoren beeinträchtigen das Funktionieren der marinen Ökosysteme im Mittelmeer auf allen Ebenen«
»MedECC«, Konsortium von Wissenschaftlern und Institutionen

»Die Kälte liebenden Arten können nicht nach Norden ausweichen, weil sie sozusagen erst nach Gibraltar müssten, um dann in den nördlichen Atlantik zu gelangen, was in der Praxis kaum funktioniert«, sagt der Geograf Wolfgang Cramer, Forscher am Institut Méditerranéen de Biodiversité et d’Ecologie marine et continentale (IMBE) in Südfrankreich. Er ist einer der zwei Hauptautoren des Kapitels zum Mittelmeer im Bericht des Weltklimarats IPCC von 2022. Zudem ist er Hauptautor der ersten umfassenden wissenschaftlichen Analyse von Klima- und Umweltveränderungen im Mittelmeerbecken, die ein Konsortium von Wissenschaftlern und Institutionen namens MedECC 2020 publiziert hat. Der Report enthält eine deutliche Warnung: »Die miteinander verknüpften Auswirkungen des Klimawandels und anderer Faktoren beeinträchtigen das Funktionieren der marinen Ökosysteme im Mittelmeer auf allen Ebenen.«

Eine der artenreichsten Regionen der Welt

Noch aber ist der Reichtum des Lebens groß. Schon seit der Antike sind Menschen von der Vielfalt der Lebensformen im Mittelmeer fasziniert. Aristoteles staunte über die Lebensweise der Tunfische und gab rund 100 verschiedenen Fischarten einen Namen, den der Philosoph und Naturforscher zuvor oft von Fischern in Häfen erfragt hatte.

Mehr als 650 Fischarten haben Biologinnen und Biologen bisher bei ihren Tauchgängen und U-Boot-Fahrten im Mittelmeer entdeckt oder in den Netzen von Fischern gefunden. Dafür dass das Mittelmeer nur einen kleinen Teil des weltumspannenden Ozeans ausmacht, ist das eine enorm große Vielfalt. Weltweit wird mit etwa 20 000 Fischarten im Meer gerechnet. Der Anteil des Mittelmeers daran ist überproportional groß.

»Das Mittelmeer ist ein Hotspot der marinen Biodiversität«, urteilt Marta Coll vom staatlichen spanischen Meeresforschungsinstitut in Barcelona. Das trifft auch auf andere Meeresorganismen zu: Obwohl das Mittelmeer nur 0,3 Prozent des globalen Ozeanvolumens und 0,8 Prozent seiner Oberfläche ausmacht, beherbergt es mehr als sieben Prozent aller bekannten Meeresorganismen und weist nicht nur bei Fischen ein hohes Maß an Endemismus auf.

Die Liechtenstein-Grundel ist einer der kleinsten, seltensten und unbekanntesten Vertreter dieser mediterranen Fischfauna. In den Weiten des Meers tummeln sich aber auch Haie wie der bis zu neun Meter lange Riesenhai, stachelschwänzige Teufelsrochen mit fünf Metern Spannweite und mehrere hundert Kilogramm schwere Tunfische. Wer taucht, trifft auch auf bleistiftdünne Seenadeln, Meeraale, Moränen, silberblau leuchtende Brassen und leuchtend rote Fahnenbarsche.

Korallenriff vor der spanischen Küste | Auch im Mittelmeer gibt es Korallenriffe wie hier an der Costa Brava. Erhitzung, Überdüngung und Überfischung sowie eingeschleppte Arten bedrohen diesen Lebensraum.

Die Fangmengen gehen zurück

Zu den Gründen für diese große Vielfalt zählt, dass das Meer um die vielen tausend Inseln herum, entlang von mehr als 46 000 Kilometer zerklüfteten Felsküsten und in seinen Tiefen die unterschiedlichsten Lebensräume und Lebensbedingungen bietet. Von den flachen Seegraswiesen bis zum vor Griechenland gelegenen Calypsotief, wo es 5109 Meter hinunter bis zum Meeresboden geht – die Vielfalt der Fische ist ein Resultat der Vielfalt der Lebensräume. Besonders groß ist sie im Westen des Mittelmeers entlang der spanischen und französischen Küste und in der Adria, wo die meisten endemischen Arten leben.

Die riesige Vielfalt der Fischwelt des Mittelmeers ist nur wenigen, hauptsächlich Taucherinnen und Tauchern, Fischerinnen und Fischern sowie Meeresforschenden, aus nächster Nähe bekannt. Dagegen sind die Speisefische, die das Meer hervorbringt, vielen Menschen geläufig, besonders die Arten aus der Gruppe der Heringe, die in riesigen Schwärmen durch das Wasser flitzen. 158 000 Tonnen Sardinen und 104 000 Tonnen der Europäischen Sardelle, auch Anchovis genannt, haben Fischer 2020 laut Welternährungsorganisation FAO  aus dem Mittelmeer geholt, mengenmäßig gefolgt von Sprotten, Makrelen, Seehecht und Meerbarbe. Griechenland, Italien, Tunesien und die Türkei haben dabei die meisten Fischerboote, oft kleine Boote, die weniger als zehn Meter lang sind. Algerien, Ägypten und Spanien verfügen mit weniger, aber größeren Booten über relativ hohe Kapazitäten. Vom Blauflossen-Tunfisch, dem weltberühmten und geschätzten Raub- und Speisefisch, durften 2020 rund 30 000 Tonnen gefangen und angelandet werden. Nach jahrelangen Schutzbemühungen von Umweltorganisationen konnte die Art 2021 von der Roten Liste des IUCN genommen werden.

»In vielen Restaurants am Mittelmeer wird der Fisch heute schon eher eingeflogen, als dass er aus dem Meer kommt«Wolfgang Cramer

Was die vielen hunderttausend Fischer des Mittelmeerraums aus dem Wasser holen, mutet mit zusammengenommen 750 000 Tonnen Fang riesig an. Drei Milliarden Euro bringt die Fischerei den Volkswirtschaften der Mittelmeerländer direkt ein, weitere sieben Milliarden indirekt, etwa durch Handel und Belieferung von Restaurants.

Doch die Fangmengen gehen seit einem Höchststand von über 1,1 Millionen Tonnen Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich zurück. Vor allem in Frankreich und Spanien macht sich das dadurch bemerkbar, dass der Import von Fischen aus anderen Weltregionen zunimmt. Wer in Nizza oder Barcelona in einem Restaurant ein Fischgericht bestellt, sollte nicht davon ausgehen, dass das Tier noch kurz zuvor quietschfidel durch das nahe Meer geflitzt ist. »In vielen Restaurants am Mittelmeer wird der Fisch heute schon eher eingeflogen, als dass er aus dem Meer kommt«, sagt Geograf Wolfgang Cramer.

Über den Sueskanal wandern viele neue Fischarten ein

Speziell für die Speisefische bleiben die zu hohen Fangmengen die direkteste Bedrohung. Dem Marine Stewardship Council (MSC) zufolge, einer Organisation, die nachhaltigen Fischereibetrieben ein Label anbietet, sind drei Viertel der kommerziellen Fischbestände im Mittelmeer überfischt. »Die meisten kommerziellen Bestände werden außerhalb der biologisch nachhaltigen Grenzen befischt, und der Fischereidruck ist immer noch doppelt so hoch wie das als nachhaltig geltende Niveau«, diagnostiziert auch die FAO.

Angelandeter Fisch und andere Tiere aus dem Mittelmeer | Fisch liefert wichtige Proteine für hunderte Millionen Menschen rund um das Mittelmeer. Doch manche Bestände sind stark überfischt, und die höchsten Fangquoten sind weit von den Werten früherer Zeiten entfernt.

Dass der Fischereidruck in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist, reicht laut Menno Bax, dem Mittelmeerexperten des MSC, noch nicht aus: Die Lage bessere sich zwar, sei aber immer noch Besorgnis erregend, zumal illegale Fischerei und große Mengen Beifang zur legalen Nutzung hinzukämen. »Die Bestandssituation lässt kaum erfolgreiche Bewertungen nach dem strengen MSC-Umweltstandard zu«, warnt Bax. »Daher sind hier aktuell lediglich drei Fischereien zertifiziert.« Ändern können dies nur die für Fischerei zuständigen Ministerinnen und Minister der Anrainerstaaten und der EU, indem sie strengere Quoten festlegen.

Noch offen ist das Urteil von Forschenden zu einem grundlegenden Umbruch in der Fischfauna des Mittelmeers. Denn während die Bestände vieler endemischer Arten schrumpfen, nimmt die Vielfalt der Fischarten im Mittelmeer zu. Seit der Sueskanal 1869 eröffnet wurde, können Fische zwischen dem Roten Meer und dem vorher durch Wüste getrennten Mittelmeer migrieren, wobei ungleich mehr Organismen gen Norden streben. Lessepssche Migration heißt das Phänomen nach dem Ingenieur, der den Bau des Kanals geleitet hat.

Mindestens 80 Fischarten haben sich auf diesem Weg neu im Mittelmeer etabliert, hundert weitere Arten haben Biologen bereits sporadisch gesichtet. Je wärmer das östliche Mittelmeer wird, desto attraktiver ist die Einwanderung für subtropische und tropische Arten. Die Weltnaturschutzunion zählt etwa den Glatten Flötenfisch, den Hasenkopf-Kugelfisch und den Indo-Australischen Tüpfelrochen zu diesen lessepsschen Immigranten.

Ziel 30 Prozent Meeresschutzgebiete

»Ob man hier von einer natürlichen Anpassung sprechen soll oder ob die Gefahr groß ist, dass neue Arten angestammte Mittelmeerarten verdrängen, muss noch erforscht werden«, sagt Geograf Cramer. Die »Tropifizierung« beschleunigt sich in jedem Fall und bedarf deshalb genauer Überwachung.

Rotfeuerfisch | Wahrscheinlich über den Sueskanal sind Rotfeuerfische in das Mittelmeer eingewandert und breiten sich aus. Der Fisch ist attraktiv für Taucher, aber gefährdet einheimische Arten.

Inmitten von Klimawandel, Fischerei, Algenblüten und biologischer Invasion steht und fällt die Zukunft der Fischfauna des Mittelmeers mit dem Schutz der Lebensräume. Während die CO2-Konzentration in der Atmosphäre von globalen Weichenstellungen abhängt, liegt Naturschutz in den Händen der Anrainerstaaten und der EU. Das macht konkretes Handeln greifbar und machbar. Besserer Naturschutz ist in der Gesamtschau die wichtigste direkt verfügbare Lösung, um die Fischfauna des Mittelmeers zu bewahren.

»Es braucht eine Politik, die der Gesundheit der Ökosysteme im Mittelmeerraum Priorität gibt««Wolfgang Cramer

Die Umweltorganisation WWF hat deshalb einen Plan vorgelegt, wie die für Fische überlebenswichtigen Lebensräume auf 30 Prozent der Meeresfläche geschützt werden können – ein Anteil, den das Weltnaturschutzabkommen von Montreal für den ganzen Ozean vorsieht. Der Analyse des WWF zufolge sind derzeit knapp zehn Prozent der Fläche des Mittelmeers formal geschützt. Ein effektiver Schutz durch Personal und auf der Grundlage eines Managementplans findet demnach sogar nur auf etwas mehr als einem Prozent der Fläche statt, hauptsächlich nördlich von Korsika und an der Küste von Südfrankreich.

Nachhaltige Einkommen für Fischer sind wichtig

Mit Fachleuten hat die Umweltorganisation konkrete Vorschläge gemacht, wo die neuen Meeresschutzgebiete liegen sollen. Will man den Schutz der Fischfauna in den Mittelpunkt stellen, bieten sich demnach Gebiete im Alborán-Meer, in der Libyschen See, rund um die Balearen, im Löwengolf und in der Ägäis besonders an. In den Schutzzonen sollen strenge Auflagen für die Fischerei gelten und Praktiken wie die besonders schädliche Schleppnetzfischerei auf dem Meeresgrund ganz verboten sein. Entscheidend sei es, so der WWF, die Schutzgebiete mit ausreichend Personal auszustatten, damit sie Regeln auch durchsetzen können. In einem Projekt in Griechenland macht der WWF vor, wie Fischer auch mit weniger Fang ein gutes Einkommen verdienen können, etwa indem Touristen bei Ausfahrten als zahlende Gäste mitwirken.

Mittelmeer-Zackenbarsch | Besonders gefährdet sind große Fische, die sich langsam fortpflanzen und begehrt bei Fischern wie Sportanglern sind. Der Zackenbarsch war im Mittelmeer deswegen stellenweise schon verschwunden und steht in den Küstengewässern mehrerer Staaten unter Schutz.

Über Jahrtausende hat das Mittelmeer die Menschen an seinen Küsten mit Fischen ernährt, ohne dass die viel dafür tun mussten. Diese Zeit ist nun endgültig vorbei. Bisher konnten sich die Menschen darauf konzentrieren, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, um große Mengen Sardinen einzuholen oder Blauflossen-Tunfische zu fangen. Das reicht schon lange nicht mehr. Wenn das Mittelmeer die vielen hundert Millionen Menschen an seinen Ufern weiter mit Nahrung versorgen soll, müssen die Menschen anfangen, sich auch für das Wohlergehen anderer Bewohner zu interessieren wie der unscheinbaren Liechtenstein-Grundel. Denn nur wenn unterseeische Lebensräume insgesamt intakt sind, können sich auch die für Menschen wichtigen Arten vermehren.

Geograf Wolfgang Cramer plädiert für eine Strategie des »Weniger ist mehr«: »Es braucht eine Politik, die der Gesundheit der Ökosysteme im Mittelmeerraum Priorität gibt«, sagt er, »dann gäbe es vielleicht weniger Fischfang und in jedem Fall höhere Aufwände, um die Schutzgebiete zu erhalten.« Aber nur das sei »ein Kurs, der sich auch dauerhaft durchhalten lässt«.

Das Projekt »Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren« wird gefördert von der Okeanos-Stiftung für das Meer.

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