Bausteine des Lebens: Weltraumkälte kehrt chemische Regeln um
Kohlenstoffringe, Aminosäuren, DNA-Vorläufer: Viele Moleküle, die für den Ursprung des Lebens unerlässlich sind, entstehen schon in den Weiten des Weltalls. Doch in der eisigen Kälte des interstellaren Raums verlaufen chemische Reaktionen ganz anders als bei uns auf der Erde. Wo Moleküle nur wenig Energie haben, spielen plötzlich subtile Quantenvorgänge eine wichtige Rolle – und bekannte Regeln gelten nicht mehr. Das ist das überraschende Ergebnis einer Arbeitsgruppe um Frédéric Merkt von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), die die Reaktion von Wasserstoff mit Ammoniak bei extrem niedrigen Temperaturen untersuchte. Wie das Team in der Fachzeitschrift »Physical Review X« berichtet, wirken unter diesen Bedingungen Rotationsenergie und Temperatur genau entgegengesetzt zu ihren Effekten bei hohen Temperaturen.
Über Jahrmillionen haben sterbende Sterne das Gas des interstellaren Raums mit vielerlei Elementen angereichert. Diese Atome verbinden sich in Gas- und Staubwolken zu einer Vielzahl von Molekülen, die schließlich auch das Leben in Gang brachten. Doch die Details, wie diese entscheidenden Reaktionen der interstellaren Chemie ablaufen und mithin, welche Moleküle sich dabei bevorzugt bilden, ist rätselhaft. Denn die Bedingungen dort sind ganz anders als jene, unter denen man auf der Erde Chemie betreibt. Das Innere der Gas- und Staubwolken ist eiskalt. Die Molekülbausteine haben kaum Energie, alles, was passiert, passiert extrem langsam – und normalerweise irrelevante Quantenunterschiede haben womöglich großen Einfluss.
Die Arbeitsgruppe um Merkt untersuchte deswegen die Reaktion des Wasserstoffions H2+ mit Ammoniak (NH3), zwei in interstellaren Wolken häufig auftretenden Molekülen, bei Temperaturen, die weniger als 50 Grad über dem absoluten Nullpunkt lagen. In den Experimenten ersetzte sie Wasserstoff teilweise durch Deuterium, das ein Neutron mehr hat, um die Reaktionsprodukte voneinander zu unterscheiden. Außerdem verwandelte sie neutralen molekularen Wasserstoff nicht direkt in das Ion, sondern versetzte eines seiner Elektronen in einen so genannten Rydberg-Zustand, bei dem dieses extrem weit von den Atomen weg ist. So reagiert das Molekül bei engen Kontakten wie H2+, ist aber von Weitem betrachtet neutral, so dass elektrische Felder das Experiment nicht stören.
Zudem kontrollierte das Team, wie schnell das Ammoniakmolekül rotierte: Da eine Seite des Moleküls eine andere Ladung trägt als die andere, »sieht« der Reaktionspartner ein umso neutraleres Molekül, je schneller es rotiert. Da die geladenen Molekülteile für die Reaktion entscheidend sind, verringert der Effekt bei höheren Temperaturen die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Stoffe reagieren. Doch hier erlebte die Arbeitsgruppe eine echte Überraschung: Die schneller rotierenden Moleküle reagierten sogar besser. Ebenfalls anders als bei hohen Temperaturen waren die Stoffe außerdem umso reaktionsfreudiger, je niedriger die Temperatur war. Normalerweise laufen Reaktionen besser ab, je mehr Energie die Moleküle beim Zusammenstoß haben, also je heißer sie sind.
Letzterer Befund leuchtet ein. Bei so niedrigen Temperaturen ist entscheidender, wie viel Zeit die Stoffe in unmittelbarer Nähe zueinander verbringen. Dass allerdings eine schnellere Rotation die Reaktion sogar erleichtert, war nicht absehbar. Hinter dem Effekt stecken subtile Quanteneffekte, durch die der erste Schritt der Reaktion, die elektrostatische Wechselwirkung zwischen den Molekülen, erleichtert wird. Dieser Befund sei vermutlich wichtig für viele vergleichbare Reaktionen der interstellaren Chemie, schreiben die Fachleute. Denn ein geladenes Molekül zeigt unabhängig von seiner Rotation immer seine Ladung nach außen. Bei einem neutralen Molekül dagegen spielt die genaue Ladungsverteilung und deren Ausrichtung bei einem Kontakt mit einem anderen Stoff eine viel größere Rolle.
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