Interview: Ist das nicht vielleicht eine Nummer zu krass für mich?
Spektrum.de: Herr Gerst, am 6. Juni sollen Sie zur Internationalen Raumstation ISS aufbrechen, um dort sechs Monate lang zu leben und zu arbeiten – und das bereits zum zweiten Mal. Alles schon da gewesen, oder was wird diesmal anders sein?
Alexander Gerst: Ich glaube, der wichtigste Unterschied ist, kurz und knapp gesagt: Ich weiß inzwischen, dass ich es kann.
Das klingt, als hätten Sie beim ersten Flug Zweifel gehabt.
So etwas ist, denke ich, ganz normal. Wann immer wir Menschen an unsere Grenzen stoßen – oder zumindest die Befürchtung haben, hier könnten unsere Grenzen sein –, sind wir nicht sicher, ob wir es auch schaffen. Das war der Fall, als ich als Forscher in die Antarktis ging und wusste, ich werde jetzt sechs Wochen lang bei minus 45 Grad Celsius auf einem aktiven Vulkan zelten. Und genauso habe ich mir auch vor meinem ersten Flug gedacht: Okay, ist das nicht vielleicht eine Nummer zu krass für mich?
War's dann aber doch nicht?
Wenn ich jetzt daran denke, muss ich fast grinsen. Denn im Nachhinein ist klar: Das geht, natürlich. Meine Lektion, die ich daraus ziehe: Wir können alle sehr, sehr viel mehr, als wir denken. Wir müssen es nur immer und immer wieder versuchen. Und genau das ist es, was ich auch meiner Crew vermitteln will.
Ihre beiden Mitreisenden, die Amerikanerin Serena Auñón-Chancellor und der Russe Sergei Prokopjew, stehen beide vor ihrem ersten Raumflug. Was sind deren größte Sorgen, was sind die drängendsten Fragen?
Oftmals sind das banal erscheinende Dinge, zum Beispiel: Wie fühlt es sich an, dort oben zu schlafen, zu essen, zur Toilette zu gehen? Schließlich sind das Probleme, die man am ersten Tag lösen muss. Da habe ich nun den Vorteil, dass ich meinen Kollegen sagen kann: Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Hört man so etwas von jemandem, der die Situation selbst erlebt hat, klingt das viel überzeugender.
Aber ist die Vorbereitung auf den zweiten Flug nicht langweilig? Schließlich trainieren Sie zu einem großen Teil das Gleiche wie vor vier Jahren.
Vieles ist nicht mehr so neu, das stimmt. Dadurch wird das Training allerdings auch leichter, da ich jetzt besser abschätzen kann, was eigentlich wichtig ist und was nicht.
Das heißt, Sie lernen auch unwichtige Dinge?
Die Kunst des Astronautendaseins besteht letztlich darin, dass man lernt, unnütze Informationen von nützlichen zu trennen und zu filtern. Wir trainieren so viele Jahre und bekommen so viele Dinge zu hören, dass man sich unmöglich alles merken kann. Wir sind ja auch nur ganz normale Menschen. Aber wir müssen unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Vor meinem ersten Flug ist mir das schwergefallen, und ich habe versucht, mir im Zweifelsfall mehr zu merken. Das ist nun anders, und dadurch habe ich zusätzliche Kapazitäten frei.
Wofür brauchen Sie die?
Ich habe zum Beispiel viele Details meines ersten Starts vergessen. Hinterher haben mich Leute gefragt: Wie warm war es denn in der Kapsel? Oder, wie laut waren die Triebwerke? Und ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Leider konnte ich das mit den Kapazitäten, die ich damals frei hatte, nicht speichern. Nun bin ich gespannt, ob ich bei diesem Start etwas mehr von meiner Umwelt mitbekommen werde – ganz einfach, weil ich ungefähr weiß, was mich erwartet. Noch viel wichtiger sind die freien Kapazitäten allerdings, um mich auf meine neue Rolle an Bord vorzubereiten.
Sie werden drei Monate lang das Kommando auf der ISS übernehmen. Inwieweit hat sich dadurch die Vorbereitung verändert?
Mir war im Vorfeld nicht ganz klar, wie viel Arbeit das jetzt schon bedeutet. Man muss zum Beispiel das Training der Crew koordinieren: hier ein bisschen mehr, da ein bisschen weniger, je nach individuellem Trainingsstand. Man muss die Arbeit mit der Missionskontrolle abstimmen. Man muss schauen, dass sich alle gut kennen. Denn hat man später im All ein Problem und muss mit jemandem am Boden sprechen, dann ist es sehr viel einfacher, wenn das kein Unbekannter ist oder wenn man sogar den Humor des anderen versteht. All das ist eine tolle Aufgabe – auch weil ich merke, dass ich mit meiner Erfahrung hier einen Unterschied machen kann.
Und später im All, was wird dort Ihre Aufgabe als Kommandant sein?
Zunächst einmal habe auch ich als Kommandant einen ähnlichen Stundenplan wie alle anderen an Bord, gefüllt mit wissenschaftlichen Experimenten, Wartungsarbeiten und so weiter. Zusätzlich werde ich versuchen, meiner Crew zu helfen, wann immer es geht. Klappt irgendetwas nicht oder fehlt einem Kollegen ein Werkzeug, liegt es an mir, zur Hand zu gehen oder die Aufgaben mit der Bodenkontrolle neu zu koordinieren. Letztlich ist man dafür verantwortlich, dass die Dinge laufen und dass es allen gut geht.
Hört sich eigentlich ganz entspannt an …
Das ist allerdings nur die eine Seite. Man muss sich stets bewusst sein, dass sich Dinge im Orbit blitzschnell ändern können. Wenn es brennt oder wenn die Raumstation ein Loch hat, müssen sofort wichtige Entscheidungen getroffen werden – unter Umständen sogar ganz ohne Rücksprache mit der Bodenkontrolle. Daher ist es wichtig, dass man als Commander niemals den Überblick verliert. Je nachdem, wo sich zum Beispiel ein Loch befindet, muss völlig anders entschieden werden: Manche Module sind eher unkritisch, andere versperren den Weg zur Rettungskapsel. Das ist extrem komplex. Sich darauf vorzubereiten, ist die eigentliche Arbeit.
Und was wird Kommandant Gerst anderes einpacken als Astronaut Gerst vor vier Jahren?
Das wird dieses Mal recht einfach. Beim ersten Flug habe ich mir wahnsinnig viele Gedanken gemacht und sehr viel Signifikanz in mein Gepäck hineininterpretiert – weil ich mir dachte: Es gibt bestimmt Momente, in denen ich Heimweh habe und in denen ich mir diese Dinge dann anschaue. Aber ehrlich gesagt: Ich brauche dort oben – vielleicht mal abgesehen von ein paar Fotos der Familie und der Freunde – überhaupt nichts. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind inzwischen so gut, dass man nie das Gefühl hat, weit weg zu sein. Im Gegenteil: Alles erscheint sehr nah. Manchmal vielleicht sogar zu nah.
Warum das?
Bislang haben wir als Menschheit noch nicht die Erfahrung gemacht, was es heißt, wirklich weit weg zu sein von zu Hause – auch mental. Wenn man aber ein bisschen einsamer ist da draußen, wenn man sich auch mal ein bisschen melancholischer fühlen kann, dann könnte das einen neuen Blick, eine neue Perspektive auf unseren Planeten eröffnen.
Offenlegung: Das Gespräch ist aus einem Gruppeninterview in Moskau hervorgegangen, für das die Europäische Raumfahrtagentur ESA und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt teilweise die Reisekosten übernommen haben.
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