Astronaut Matthias Maurer: »Dann wäre ich jetzt Weltraumschrott«
In Houston ist es 8 Uhr morgens, und bevor er sich vor seine Webcam setzt, holt sich Matthias Maurer erst einmal einen großen Becher Kaffee. Die Nacht war kurz für den deutschen Astronauten, der sich auf seinen ersten Flug zur Internationalen Raumstation ISS vorbereitet. Fast bis Mitternacht haben ihn die Japaner im Umgang mit ihrem Forschungsmodul unterrichtet – übers Internet, wegen Corona, ohne Rücksicht auf die Zeitverschiebung zwischen Japan und Texas. Es ist nicht das Einzige, was bei diesem Flug anders sein wird.
»Spektrum.de«: Als erster Deutscher sollen Sie mit einer Kapsel des privaten Raumfahrtunternehmens SpaceX ins All starten (Anm. d. Red.: Der Start fand am 11. November 2021 um 3.03 Uhr deutscher Zeit statt. Hier können Sie das Event nachschauen.). Wären Sie lieber – wie Ihre Vorgänger – mit der bewährten russischen Sojus geflogen?
Matthias Maurer: Am liebsten wäre ich mit beiden geflogen, keine Frage. Beide Systeme, nicht nur die Kapseln, auch das Team, die Kultur, die Erfahrung, sind hochspannend. Und beides hätte ich gerne selbst erlebt. Nun wird es eben die Crew Dragon von SpaceX.
Was macht die Sojus, die inzwischen schon mehr als 50 Jahre auf dem Buckel hat, noch immer so spannend?
Die Kapsel ist superausgereift, sie ist robust, und wenn doch einmal etwas schiefgeht, gibt es unzählige Möglichkeiten, das zu korrigieren. Dieser Erfahrungsschatz ist phänomenal. Außerdem mag ich die russische Kultur und die russische Herangehensweise. Sie stecken viel Herzblut hinein, und die Menschen sind so lieb und offen.
Die Crew Dragon von SpaceX startet hingegen erst zum vierten Mal mit Menschen. Fliegt da ein bisschen Unbehagen mit?
Natürlich hat jede Neuentwicklung noch Kinderkrankheiten, aber SpaceX konnte enorm viel Erfahrung mit ihrer Cargo-Kapsel sammeln, die sich von Crew Dragon kaum unterscheidet. Außerdem schauen die Ingenieure bei einer neuen Kapsel viel genauer hin als bei einem Raumschiff, das schon zehn Jahre lang fliegt. Daher: Nervös bin ich nicht, aber natürlich muss man ein waches Auge haben.
Was macht Crew Dragon so besonders?
Die Kapsel ist sehr modern und bietet extrem viel Platz – insbesondere verglichen mit der Sojus, in der man die Knie fast bis zu den Ohren anziehen muss. Auch optisch ist sie sehr ansprechend gestaltet, alles ist schön weiß und hell. Gesteuert wird über Touchscreens. Wobei: Eigentlich fliegt die Kapsel vollautomatisch, so dass wir die Systeme nur noch überwachen müssen.
Verliert ein Raumflug dadurch nicht seinen Reiz?
Einerseits freut man sich als Astronaut natürlich, wenn man Verantwortung hat und die dafür nötigen Qualifikationen erwerben muss. Und in Extremfällen, wenn wir im Wasser landen oder Feuer bekämpfen müssen, habe ich natürlich meine Funktion im Team. Andererseits bin ich bei einem nominellen Flug in der Tat nur Passagier. Aber ganz ehrlich: Ich hoffe, dass ich bei meinem Start auch Passagier bleiben darf.
Mitte September sollen mit einer SpaceX-Kapsel sogar vier Menschen um die Erde kreisen, von denen niemand ausgebildeter Raumfahrer oder Raumfahrerin ist. Entwertet so etwas nicht den Astronautenberuf?
Nein, entwerten würde ich das nicht nennen. Die Technik erleichtert einfach den Zugang zum Weltall – was richtig ist, schließlich soll Technik die Menschen unterstützen: Nun können Leute ins All aufbrechen, die nicht diese harten Astronautenknochen sind. Wobei ich ohnehin nicht in der gleichen Liga spiele wie einst Juri Gagarin oder die ersten Testpiloten im All, die unglaublich schnell reagieren mussten, weil ständig etwas schiefgehen konnte. Auf der anderen Seite waren sie vielleicht nicht die idealen Teamspieler, die heute ausgesucht werden, um sechs Monate im All zu leben und zu forschen. Das ist alles eine Frage der Perspektive.
Auch wenn jemand, wie jüngst der Milliardär Richard Branson, nur mal kurz auf gut 80 Kilometer Höhe fliegt?
Dann hat er zumindest einen Raketenstart hinter sich gebracht. Ich nenne mich ebenfalls Astronaut, obwohl ich noch nicht mal das geschafft habe (lacht). Nein, entscheidend sind die Erfahrungen und die Möglichkeiten, von den Erlebnissen im All zu berichten. Das ist viel wichtiger als die Frage: War jemand jetzt auf 80 oder 400 Kilometer Höhe, war jemand fünf Minuten schwerelos oder ein halbes Jahr?
Während Ihrer Zeit an Bord sollen fünf Touristen die Raumstation besuchen – zwei Japaner und ein internationales Team mit einer SpaceX-Kapsel. Wird die Crew für diese Touristenbetreuung besonders trainiert?
Wir sollen auf jeden Fall noch ein Briefing erhalten, denn solche Besuche eröffnen viele Fragen: Wo schlafen die Leute, wo essen sie und wo machen sie ihre Morgentoilette, wo halten sie sich auf? Führen sie womöglich eigene Experimente durch, und gibt es Sachen, auf die wir achten müssen? Wenn auf engem Raum plötzlich doppelt so viele Menschen leben, erfordert das – vorsichtig formuliert – zumindest eine gewissen Absprache und Koordination.
Auf was freuen Sie sich am meisten, wenn es im Oktober endlich losgeht?
Auf der ISS anzukommen, die Kollegen zu sehen und dann direkt runterzuschweben zur Cupola, unserer Aussichtskuppel. Dort eine volle Weltreise lang, also 90 Minuten, den Ausblick und die Schönheit des Planeten zu genießen – das ist der große Traum, den ich habe.
So etwas lässt sich wahrscheinlich nicht trainieren oder simulieren.
Nein. Es gibt zwar Nachbauten der ISS-Module hier auf der Erde, und manchmal haben die vor ihren Fenstern sogar einen Monitor, auf dem Kamerabilder laufen, die von der ISS Richtung Erde aufgenommen wurden. Aber ich glaube, das ist etwas ganz anderes.
Apropos Training: Was ist Ihnen dabei am schwersten gefallen?
Das Winterüberlebenstraining in Schweden war schon eine harte Nuss.
Ähnliches erzählt Ihr Kollege Alexander Gerst auch immer. Aber der wurde, als Sojus-Passagier, sogar in den eiskalten russischen Wäldern ausgesetzt.
Ohne Alex die Sahne vom Kuchen nehmen zu wollen, glaube ich, dass unser Training noch mal eine Stufe strammer gewesen war. Erstmals musste die ESA dies selbst organisieren – das war dann ohne Schlafsack, Übernachtungsmöglichkeit, Essen und Trinken. Verantwortlich dafür waren zwei ehemalige militärische Ausbilder, holländische Spezialkräfte. Die haben gesagt: »Überlebenstraining heißt, du sollst hier lernen zu überleben, du sollst an deine Grenzen gehen.« Die hatte ich dann kurz vor Ablauf der geplanten 48 Stunden erreicht. Hart, allerdings auf einer ganz anderen Ebene, war aber auch das Unterwassertraining für den Außenbordeinsatz.
Inwiefern?
Es war die Kombination aus extremer körperlicher Anstrengung in einem ergonomisch nicht optimalen Raumanzug und der mentalen Belastung, fast schon zu 1000 Prozent konzentriert sein zu müssen. Um beim Außenbordeinsatz nicht verloren zu gehen, sollen wir uns stets an zwei Stellen mit der ISS verankern. Darauf achten die Ausbilder. Die Rettungstaucher, die im Trainingspool dabei sind, sind sogar darauf getrimmt, uns sofort vom Stationsmodell wegzuziehen, sollten wir den Kontakt verlieren. So schnell geht das im Weltall zwar nicht, aber es soll einem vor Augen führen: »Ich habe gerade einen großen Fehler gemacht, beim echten Einsatz wäre ich jetzt Weltraumschrott.« Nach sechs Stunden Unterwassertraining bin ich daher in der Regel reif fürs Wochenende.
Und wer so einen Fehler macht, muss dann zu Hause bleiben?
Nicht unbedingt, aber er wird eventuell nicht zertifiziert für einen Außeneinsatz. Und das ist mein zweiter großer Traum – nach dem Schweben in die Cupola: einmal die Station im Raumanzug zu verlassen und im Weltraum zu arbeiten.
Wie stehen die Chancen dafür?
Ganz gut. Mit dem neuen russischen Modul Nauka, das gerade die ISS erreicht hat, ist ein Roboterarm der ESA angekommen. Dieser soll während meiner Zeit an Bord von einem europäischen Astronauten wie mir installiert werden.
Sie werden zudem etwa 35 deutsche Experimente durchführen und 100 bis 150 internationale Versuche. Haben Sie Lieblingsexperimente?
Ja, aber die haben mit dem offiziellen Versuchsprogramm nichts zu tun. In der Schwerelosigkeit kann man wunderbar selbst experimentieren, zum Beispiel mit schwebenden Wassertropfen. Das mag für die Zuschauer ein alter Hut sein. Aber so etwas selbst auszuprobieren und dann mit eigenen Augen zu sehen: Ich bin schwerelos und alles, auch die Physik, verläuft hier ein wenig anders – darauf freue ich mich total. Ich habe auch schon ein paar weitere Ideen, was ich noch ausprobieren möchte. Das soll ein Schwerpunkt meiner Kommunikation bei Twitter, Instagram & Co werden.
Ihr ESA-Kollege Thomas Pesquet, den Sie im Herbst auf der ISS ablösen werden, legt mit seinen Beiträgen in den sozialen Netzwerken gerade ein enormes Tempo vor. Fühlen Sie sich unter Druck gesetzt?
Was Thomas macht, ist phänomenal, der hat ein richtiges Händchen dafür. Und natürlich wird man intern, im ESA-Team, verglichen. Direkt nach Thomas hochzufliegen und quasi bei null, mit gerade einmal 15 000 Followern bei Twitter, zu starten, ist eine Herausforderung. Aber ich sehe das sportlich und will mein Bestes geben, auch wenn ich Thomas sicherlich nicht schlagen kann.
Ist neben Forschung, Instandhaltung und Touristenbetreuung überhaupt Raum für solche Aktivitäten?
Das machen wir in unserer Freizeit, wobei das immer ein Abwägen ist. Denn offiziell soll so etwas den Zusammenhalt der Crew nicht gefährden. Es darf nicht der Eindruck entstehen: Der ist nur für seinen Twitter-Account da oben, nicht für die Arbeit. Außerdem gilt es, sich in der Freizeit zu erholen und nicht den ganzen Sonntag damit zu verbringen, Videoclips zu drehen. Bevor die eigene Batterie leer ist, würden allerdings die Ärzte einschreiten und einen bremsen. Bei einigen europäischen Astronauten ist das sogar schon vorgekommen – auch weil in Europa der Druck, über Raumfahrtaktivitäten zu berichten, deutlich höher ist als in den USA.
Warum ist das so?
Die Amerikaner haben ständig mindestens einen Astronauten auf der Station. Ich hingegen werde jetzt für sechs Monate der Deutsche im All sein und verspüre daher eine gewisse Verpflichtung gegenüber den Steuerzahlern. Andererseits will ich genau das aufbrechen: Ich habe in verschiedenen europäischen Ländern gelebt, spreche mehrere Sprachen und sehe mich als europäischer Astronaut. Genau das möchte ich in meine Kommunikation einfließen lassen.
Sie galten bei der ESA lange Zeit als der Mann für den Mond. Wären Sie lieber direkt zum Erdtrabanten geflogen?
Ich hoffe, dass ich beides machen kann: zur ISS aufbrechen, viel Wissenschaft leisten, mich in der Schwerelosigkeit bewähren. Und dann irgendwann zum Mond fliegen – und zwar nicht nur außen herum. Denn nach der Cupola und dem Außeneinsatz gibt es einen dritten großen Traum: eines Tages über den Mond zu spazieren und ihn zu erkunden.
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