Astronauten im Winterschlaf: »Das fühlt sich an wie eine Narkose«
Herr Bereiter-Hahn, Sie haben viele Jahre lang für die Europäische Raumfahrtagentur (ESA) erforscht, ob und wie sich eines Tages Astronauten auf ihrer Reise durchs All in eine Art Winterschlaf versetzen lassen. Warum ist die ESA daran interessiert?
Eine bemannte Reise beispielsweise zum Mars dauert mehrere Monate. Während dieser Zeit müssen die Menschen an Bord unter anderem mit Sauerstoff, Wasser und Nahrung versorgt werden. Würden die Astronauten die Reise in einer Art Winterschlaf verbringen, ließen sich die erforderlichen Vorräte und die psychische Belastung der Crew deutlich reduzieren. Das wäre im Erfolgsfall ein echter Gamechanger. Praktisch alle Raumfahrtorganisationen sind an dem Thema dran. Daher hat auch die ESA Spezialisten beauftragt, sich damit zu beschäftigen. So eine Gruppe habe ich seit 2014 geleitet, zusammen mit einem Marburger Biologen, der während seines gesamten Forscherlebens den Winterschlaf untersucht hat. Ich komme aus der Zellbiologie und beschäftige mich mit dem Energiestoffwechsel. Im November 2023 habe ich die Leitung des Teams jedoch aus Altersgründen abgegeben.
Wie lange kann ein Mensch maximal schlafen?
Das lässt sich nicht so leicht beantworten. Verschiedene Formen von Koma können Tage oder Monate dauern, sind aber im engeren Sinn kein Schlaf. Wir müssen die Begriffe voneinander trennen: Winterschlaf hat mit echtem Schlaf wenig zu tun. Wir sprechen daher lieber von Torpor, dem physiologischen Zustand eines Tiers im »Winterschlaf«. Die Tiere sind dann vollkommen inaktiv und befinden sich in einem Zustand der körperlichen Starre. Die Funktion des Torpors ist, in Zeiten von Stress den Stoffwechsel zu reduzieren. Es gibt Torpor auch unter warmen Bedingungen, wenn Tiere zum Beispiel in Wüsten Trockenperioden überstehen müssen. Daher ist der Begriff Winterschlaf im Zusammenhang mit der Raumfahrt ohnehin falsch.
Was versteht man denn physiologisch unter Torpor?
In den Zellen fährt der gesamte Energiestoffwechsel runter, darunter die Atmungsprozesse sowie die Protein- und die DNA-Synthese. Der Gesamtstoffwechsel sinkt auf bis zu etwa fünf Prozent des normalen Umsatzes. Das ist wirklich extrem. Murmeltiere, Streifenhörnchen und Siebenschläfer können ihre Temperatur auf nahe null Grad reduzieren. Tiefer geht es nicht.
Siebenschläfer sind dem Menschen aber nicht besonders ähnlich …
Nein. Daher hat unser ESA-Team Braunbären als Modellorganismus gewählt. Sie halten monatelang Winterschlaf und sind als Vorbild gut geeignet, da sie ihre Körpertemperatur von 37 Grad auf nur etwa 32 Grad Celsius senken. Das würden Menschen aushalten. Niedrigere Temperaturen können zum Tod führen. Wir wissen von Lawinenopfern, was Menschen gerade noch tolerieren. Der Winterschlaf von Braunbären ist allerdings nach Ansicht einiger Wissenschaftler gar kein echter Winterschlaf, gerade weil ihre Körpertemperatur relativ hoch bleibt. Jedoch reduzieren auch sie ihren Stoffwechsel um etwa 75 Prozent. Während dieser Zeit essen und trinken sie nichts, defäkieren nicht und produzieren keinen Urin.
Ist denn die Kryonik, also das Einfrieren des Körpers, ein mögliches Denkmodell für weite Reisen im All?
Wir können, wie gesagt, bis zu einer Körpertemperatur von 32 Grad noch gut überleben. Die Herzfrequenz wäre in einem torporähnlichen Zustand zwar reduziert, aber die Rhythmik nicht gestört. Geringere Temperaturen führen zu massiven Herzproblemen. Zudem gilt es hier einen Denkfehler zu vermeiden: Der Torpor wird nicht dadurch ausgelöst, dass Organismen abkühlen. Sondern sie kühlen ab, weil sie ihren Stoffwechsel reduzieren.
Der Bär ist also das Vorbild für Astronauten …
Ja, er stimmt in Größe und Gewicht ungefähr mit uns überein. Bären halten ihren verringerten Stoffwechsel im Torpor aufrecht, indem sie das Fett aus ihrem Unterhautfettgewebe abbauen. Der Mensch gehört zu den wenigen Tieren, die nicht im Wasser leben und trotzdem ein dickes Unterhautfettgewebe besitzen. Wir bieten also auch anatomisch geeignete Voraussetzungen für einen Torpor, so die Hoffnung. Der Abbau von Fett hat den großen Vorteil, dass dabei Wasser und Kohlendioxid entstehen. Das Wasser ersetzt das Trinken und das Kohlendioxid atmen die Bären aus. Das ist im Vergleich zur Eiweißverbrennung, bei der der Körper Stickstoffverbindungen wie Harnstoff oder Harnsäure ausscheiden muss, für die Umgebung eines Raumschiffs ein optimaler Stoffwechsel.
Bauen die Tiere währenddessen auch Muskelmasse ab?
Bären verlieren ihre Muskulatur während des Torpors in viel geringerem Maße als in anderen Ruhephasen. Stellen Sie sich vor, Sie lagen drei Monate fast unbeweglich im Bett und müssen dann sofort aufstehen, um Nahrung zu suchen. Das könnten Sie gar nicht mehr. Tiere wie Streifenhörnchen und Siebenschläfer müssen im Anschluss nicht nur Nahrung suchen, sondern auch ihren Feinden entkommen.
Warum geht ein Tier überhaupt in den Torpor?
Wichtiger für uns ist herauszufinden, was einen Torpor auslöst, also welche äußeren Faktoren verantwortlich sind. Bei Winterschläfern in Gefangenschaft lassen sich die Tageslänge und die Raumtemperatur künstlich reduzieren. Die Tiere fressen dann zunächst mehr. Wird daraufhin auch die Nahrungsaufnahme vermindert, kann das dann einen Torpor auslösen – selbst wenn es gar nicht der natürliche Zeitpunkt dafür ist.
»Wir kennen mittlerweile die Hirnareale, die am Torpor beteiligt sind. Diese lassen sich chemisch stimulieren«
Sie sind also dazu in der Lage, einen Torpor künstlich zu erzeugen?
Wir kennen mittlerweile die Hirnareale, die daran beteiligt sind. Diese lassen sich chemisch stimulieren. Bekommen Ratten, die normalerweise keinen Winterschlaf halten, zum Beispiel GABA-Agonisten – das sind Proteine, die an der Steuerung der Muskelrelaxation beteiligt sind –, werden Herzfrequenz und Körpertemperatur verringert und die Tiere fallen in den Torpor. Ob es sich dabei um einen echten Torpor handelt, ist wissenschaftlich gesehen aber nicht eindeutig. Daher spricht man in diesem Fall von einem synthetischen Torpor.
Wie weit ist die Wissenschaft bereits darin, einen Torpor beim Menschen auszulösen?
Beim Stichwort »Mensch« sage ich gleich »stopp!«. Davon sind wir noch weit entfernt. Die Frage stellt sich uns im Augenblick nur für andere Säugetiere, die normalerweise nicht in den Torpor fallen. Hier gibt es inzwischen einige Wege, um einen torporartigen Zustand auszulösen. Einmal chemisch, indem wir auf die beteiligten Hirnregionen lokal einwirken. Oder per fokussiertem Ultraschall, den wir auf bestimmte Hirnareale richten.
Was bewirkt der Ultraschall?
Ein solches Gerät bündelt den Schall auf einen Punkt, an dem sich das Gewebe lokal erwärmt. Dafür ist es notwendig, die Zonen im Gehirn zu kennen, die in der Lage sind, den Torpor zu triggern. Auf diese Weise konnten wir schon Mäuse, also Nichtwinterschläfer, in einen reversiblen Ruhezustand versetzen. Dabei reduzieren die Nager ihre Herzfrequenz und Körpertemperatur. Die Tiere liegen dann weitgehend unbeweglich im Käfig.
Welche Rolle spielt dabei das Schlafhormon Melatonin?
Mit Melatonin allein lässt sich kein Torpor auslösen. Doch ein Kollege von der Universität in Bologna hat bereits Versuche mit Cocktails aus verschiedenen Substanzen unternommen, die neben GABA-Agonisten auch Melatonin enthielten. Es gelang ihm damit, Organismen, die üblicherweise keinen Winterschlaf machen, acht Tage lang in einer Art synthetischem Torpor zu halten. Unser Ziel ist es, zunächst die hormonellen und neuronalen Faktoren für natürlichen Torpor zu untersuchen, um dann mit Hilfe dieses Wissens den Stoffwechsel zu beeinflussen. Derzeit ist das jedoch noch nicht möglich.
»Am Menschen können wir diesen Zustand bisher nicht ausprobieren, das verbietet sich aus ethischen Gründen«
Das künstliche Koma ist schon seit Jahrzehnten medizinische Routine. Worin besteht der Unterschied zum Torpor?
Im künstlichen Koma läuft der Stoffwechsel mehr oder weniger normal weiter. Im Gegensatz dazu sind während des Torpors der Darm, das Immunsystem und die Muskulatur fast vollständig stillgelegt, die Herzfrequenz und die Atmung sind deutlich verringert. All das muss im Anschluss wieder problemlos funktionieren. Das Erwachen ist dann kein einfaches Aufwachen: Während des Torpors haben sich Abfallstoffe angesammelt, die entsorgt werden müssen. Manche Zellen werden abgebaut, wobei Gewebe und Organe aber voll funktionsfähig bleiben.
Das heißt, Sie und Ihre Kollegen stehen vor dem Problem, Astronauten nicht nur in einen Torpor versetzen zu wollen, sondern sie auch noch gesund daraus aufwachen zu lassen.
Nach einem echten Torpor sollten Astronauten weitgehend einsatzfähig sein. Am Menschen können wir diesen Zustand bisher nicht ausprobieren, das verbietet sich aus ethischen Gründen. Meines Wissens hat noch niemand Versuche mit Menschen gemacht, sondern vorwiegend mit Ratten. Natürlich stellt sich die Frage, wie sich das Wissen eines Tages auf Astronauten anwenden lässt, denn das ist ja unser Ziel. Davor müssten beispielsweise Schweine in Torpor versetzt werden.
Wenn der Stoffwechsel nicht entsprechend reduziert wird, würden Astronauten quasi schlafend verhungern. Wäre da ein Torpor für Astronauten mit kürzeren Intervallen eine Lösung?
Das sind Denkmodelle, welche die US-Amerikaner verfolgen: 14 Tage Torporphase und 14 Tage Wachphase im Wechsel. Bei sechs Leuten in einem Raumschiff sind immer zwei in der Ruhe, der Rest spielt Karten. Der Ansatz der Amerikaner ist es, Astronauten während der Ruhephasen zwar auch herunterzukühlen, aber dabei künstlich zu ernähren. Wobei das derzeit alles reine Gedankenspiele sind. Unsere Gruppe in Europa verfolgt dagegen das Bären-Modell, bei dem wir den Stoffwechsel in einer Übergangszeit allmählich reduzieren. Bären legen sich auch nicht sofort hin und fallen in den Winterschlaf, das beginnt bereits Wochen vorher. Erst bauen sie Fettpolster auf und fangen erst dann an, Stoffwechsel und Körpertemperatur zu reduzieren, das Blut fließt langsamer und zäher. Damit der Körper unter diesen Bedingungen keinen Schaden nimmt, muss er biochemisch und immunologisch Vorsorge treffen.
Sterben denn Bären während des Winterschlafs?
Soweit ich weiß, nicht. Von schwedischen Kollegen habe ich bisher nicht gehört, dass die wild lebenden Bären, die sie beobachteten, während des Winterschlafs gestorben wären.
»Überlegenswert wäre, vorwiegend Frauen auf die Reise zu schicken, denn diese haben oft mehr Unterhautfettgewebe als Männer«
Müssen sich Astronauten künftig vor einer Mission ein Fettpolster anfuttern?
Das ist vorstellbar. Überlegenswert wäre zudem, vorwiegend Frauen auf die Reise zu schicken, denn diese haben oft mehr Unterhautfettgewebe als Männer.
Wie würde ein Astronaut im Torpor aussehen?
Im amerikanischen Denkmodell wären Astronauten mit zahlreichen Messstellen und Injektionspunkten übersät, um sie zu überwachen und zu ernähren. Dazu müssten sie fixiert werden. Im Torpor nach dem Modell Bär braucht es nur eine Schlaufe, denn die Astronauten leben ja in der Schwerelosigkeit. Sie bewegen sich vielleicht mal ein bisschen, aber meistens sind sie in Ruhe. Bären in ihrer Winterbehausung machen das auch so. Da geht sogar mal einen Moment der Stoffwechsel hoch oder sie strecken sich und ziehen ein Bein an. Das würden wir alles gerne zulassen. Künstliche Ernährung wäre während eines solchen Zustands nicht erforderlich.
Würden Astronauten im Torpor genauso schnell altern wie im normalen Leben?
Untersuchungen zu DNA-Veränderungen deuten darauf hin, dass sich der Alterungsprozess verlangsamt. Das ist auch klar, wenn die Teilung der Zellen eingeschränkt und die DNA nicht mehr abgelesen wird. Dann passieren weniger Fehler. In diesem Zusammenhang sinkt zudem die Strahlenempfindlichkeit, wie Experimente ergeben haben. Das macht den Torpor für Astronauten zusätzlich hilfreich, da die Strahlenbelastung bei langen Weltraumflügen enorm ist.
Wie tief ist ein Torpor verglichen mit dem regulären Schlaf? Träumen die Tiere?
Nach Träumen sieht es nicht aus, das lässt sich mittels Elektroenzephalografie, also der Messung der Hirnströme feststellen. Außerdem gibt es bei vielen Winterschläfern so genannte »arousal bouts«, das sind Aufwachrunden. Murmeltiere wachen beispielsweise mehrfach kurz auf.
»Mit einer entsprechenden Förderung könnten wir möglicherweise in zehn Jahren ein ganzes Stück weiter sein. Die vergangenen Jahre haben eine Fülle von unerwarteten Erfolgen gebracht«
Lässt sich erahnen, wie sich ein Torpor anfühlt? Immerhin müssen Menschen bereit sein, sich in einen solchen Zustand versetzen zu lassen.
Ich nehme an, er fühlt sich an wie Tiefschlaf. Tiere träumen während dieser Zeit wie gesagt nicht und haben vermutlich daher keine Gefühle. Das ist wie bei einer Narkose. Die Sinneswahrnehmungen sind sehr reduziert.
Wann könnte es gelingen, einen Menschen für eine Langzeitmission in einen Torpor zu versetzen?
Das ist sehr spekulativ. Wenn ein Arzt oder eine Ärztin sagt, sie werden in fünf Jahren Krebs heilen, dann müssten sie das im Prinzip auch heute schon können, denn dann wissen sie ja, wie es geht. Die fünf Jahre bräuchten sie nur noch für die Verfeinerung des Verfahrens. Mit einer entsprechenden Förderung könnten wir möglicherweise in zehn Jahren ein ganzes Stück weiter sein. Die vergangenen Jahre haben eine Fülle von unerwarteten Erfolgen gebracht.
Macht die ESA bei dem Thema Fortschritte?
Wenn sich die ESA entschlösse, das Thema »Winterschlaf bei Astronauten« voranzutreiben, wären große finanzielle Anstrengungen zur Forschungsförderung nötig. Sollten diese Bemühungen gelingen, wären sie aber auch auf der Erde von großer Bedeutung. Da geht es vor allem um den Bereich der Intensivmedizin und der Organtransplantation. Ein Torpor wäre eine gute Vorbereitung, um dem Körper ein Organ zu entnehmen, jedenfalls sofern dafür die Zeit ausreicht. Es ließe sich unter torporähnlichen Bedingungen zudem Zeit gewinnen, um die unterschiedliche Empfindlichkeit von Tumorzellen und Nichttumorzellen gegenüber Chemotherapeutika zu nutzen. Das alles sind interessante, aber noch fast vollständig offene Forschungsfelder.
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