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Künstliche Intelligenz und Physik: »KI wird kein neuer Einstein«

Läutet das KI-Zeitalter eine neue Ära der Physik ein? Trotz erstaunlicher Fortschritte glaubt Nobelpreisträger Brian Schmidt vorerst nicht an eine Revolution, wie der Astrophysiker im Interview erklärt.
Der Nobelpreisträger Brian Schmidt schaut freundlich in die Kamera. Er sitzt hinter einem Tisch, trägt ein lachsfarbenes Hemd und einen hellen Anzug. Im Hintergrund ist verschwommen ein Regal mit Weinflaschen zu erkennen.
Der Astronom Brian Schmidt war Ende der 1990er Jahre maßgeblich an der Entdeckung beteiligt, dass das Universum beschleunigt expandiert. Für seine entsprechenden Messungen der Helligkeit ferner Supernovae wurde er im Jahr 2011 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Am Rande des Gesprächs auf der Lindauer Nobelpreisträgertagung erzählt Schmidt, dass er KI bereits nutzte, als noch niemand davon sprach: Schon 1994 trainierte er ein neuronales Netz mit zwei Schichten, um nach kosmischer Strahlung zu suchen.

Herr Professor Schmidt – vor rund 100 Jahren änderte sich das Wesen der Physik. Ging es bis dahin oft darum, theoretische Erklärungen für bekannte Naturphänomene zu finden, entwickelten Einstein, Heisenberg, Schrödinger und viele weitere nun Theorien, die teils erst viele Jahrzehnte später experimentell überprüft werden konnten. Erleben wir gerade eine neue Phase der Wissenschaftsgeschichte, in der Künstliche Intelligenz die Physik grundlegend verändert?

Ich glaube nicht, dass das heute der Fall ist. KI ist vorerst »nur« ein sehr mächtiges statistisches Werkzeug – die Einführung des Computers war wichtiger. KI wird die Physik, wie wir sie kennen, nicht grundlegend verändern. Oder anders formuliert: KI wird kein neuer Einstein. Doch ich kann mich auch irren.

Wo tritt die Macht von KI als Werkzeug in Erscheinung?

Da gibt es echt coole Sachen. Als ich das zum ersten Mal sah, dachte ich an meinen Sohn, der in der Spieleentwicklung arbeitet: Wenn man in einem Videospiel die Lichtausbreitung bei Spiegelungen und Ähnliches berechnet, werden die GPUs genutzt, um die physikalischen Kalkulationen tatsächlich durchzuführen. Dann ist jemandem aufgefallen, dass man mit diesen physikalischen Berechnungen eine KI trainieren kann, die die Strahlverfolgung genauso gut durchführt, nur rund eine Million Mal schneller. Das funktioniert erstaunlich gut.

Wo bringt KI Sie in Ihrer eigenen Forschung weiter?

KI kann uns bei komplexen astrophysikalischen Simulationen helfen. Mich interessiert zum Beispiel der Strahlungstransfer in explodierenden Sternen: Wir wollen berechnen, wie das Licht durch eine Supernova hindurchgeht und was davon von außen sichtbar und beobachtbar ist. Eine solche Berechnung dauert auf einem Supercomputer Stunden bis ganze Monate. Doch was passiert, wenn man anfängt, eine KI auf den Simulationen zu trainieren? Es stellt sich heraus: Die KI ist wirklich gut darin ist, mit diesen aufwändigen physikalischen Simulationen zu trainieren, und die Antwort kommt im Anschluss richtig schnell und ist ziemlich genau, man braucht nicht neu zu rechnen.

Statt also 100 Modelle für eine Supernova zu entwickeln, wo man keine Chance hat, ein Modell tatsächlich zu testen, trainiert man einmal eine große Anzahl rechenintensiver Modelle. Und dann verwendet man dieses von der KI trainierte Modell, um eine statistische Analyse dessen durchzuführen, was vor sich geht – und zwar viel genauer als wir es derzeit können. Das ist schon eine ganz neue Arbeitsweise, die meiner Meinung nach ziemlich revolutionär sein wird.

Also doch ein wenig Revolution? Aber die Theoretiker wird KI wohl kaum ersetzen?

Davon sind wir himmelweit entfernt. KI ist sehr gut darin, Daten und Informationen zu verarbeiten, die uns schon vorliegen. Aber ich habe bislang noch wenig Vermögen gesehen, daraus etwas zu extrapolieren, was über unseren derzeitigen Wissensstand hinausgeht. Sogar AlphaFold, ein wirklich mächtiges KI-Tool, das Proteinstrukturen anhand der Aminosäuresequenz von Proteinen vorhersagen kann, funktioniert nur, wenn es eine Menge Daten hat, aus denen es lernen kann. Ich glaube nicht, dass es über die Fähigkeit verfügt, darüber hinauszugehen und Dinge zu tun, an denen Forscher noch nie gearbeitet haben.

»Es ist ziemlich schwer, mit KI neue Gesetze der Physik zu entdecken. Aber es ist ziemlich leicht, ein Deepfake-Video zu erstellen, in dem jemand sagt, was man will«

Verstanden – also keine grundlegende Revolution der Physik durch KI …

Wo ich mir das schon eher vorstellen könnte, wäre die Mathematik, denn sie ist exakt. Wenn wir alles, was wir über Mathematik und Logik wissen, einer KI eintrichtern könnten und die KI könnte das dann weiter ausbauen – das wäre schon interessant. Die Mathematik geht über die Physik hinaus, Physik ist ein Teilbereich der Mathematik. Wenn KI diese Exaktheit erlernen würde, könnte sie aus den möglichen Einflussfaktoren die wirklich wichtigen bestimmen und daraus potenziell leichter extrapolieren, also korrekte Vorhersagen treffen. Doch sobald Rauschen die eigentlich wichtigen Parameter überlagert, erhält man nutzlose Vorhersagen. Genau das ist der Grund für die bekannten Halluzinationen in Large Language Models: Die KI hat keine Informationen und erfindet einfach irgendwas.

Schade eigentlich. Dann wird uns künstliche Intelligenz also nicht die Vereinigung von Quantenphysik und Gravitation abnehmen.

Ich kann mir das zurzeit nicht ansatzweise vorstellen. Es gibt schlicht die Informationen nicht, auf denen wir die KI dazu trainieren könnten. Im Übrigen: Wenn eine KI das hinbekäme, sollten wir uns besser Sorgen machen. Ich würde dann vermutlich meinen Computer ausstöpseln!

Wir sprachen jetzt über KI als Werkzeug, das spezifische Aufgaben wie statistische Berechnungen besser verrichten kann als jeder Mensch. Könnte denn eine allgemeine künstliche Intelligenz die große vereinheitlichte Theorie der Physik entwickeln?

Wenn es wirklich eine solche AGI (Artificial General Intelligence) gäbe, die über alle notwendigen Voraussetzungen für Selbstlernfähigkeit verfügt und die ohne menschliches Zutun durchstartet – was ich als Möglichkeit nicht ausschließen will – dann weiß niemand, wozu sie in der Lage ist. Doch das wäre eine äußerst unbehagliche Aussicht für die Menschheit.

Vielleicht würde eine AGI uns ja auch nie die große vereinheitlichte Theorie der Physik liefern, weil wir diese gerade von ihr erhoffen …

Ich denke, sobald eine KI über Autonomie und Handlungsfähigkeit – »Agency« – verfügt, und AGI muss in meinen Augen über beides verfügen, dann werden die Menschen ihr Regeln auferlegen wollen. Die Handlungsfähigkeit gibt der AGI ihre Autonomie. Und ab diesem Punkt ist jede Wette auf die Zukunft hinfällig.

Lassen wir die Spekulation über AGI beiseite. Wo sehen Sie Herausforderungen bei der Art von KI, die wir heute schon kennen?

Was mir Sorge bereitet, ist eher kultureller Natur: Es ist wirklich schwierig, KI dazu zu bringen, interessante Dinge zu tun, die obendrein noch gut sind. Umgekehrt ist es einfach, Böses mit KI anzustellen, oft erfordert das gar nicht viel Aufwand. Oder etwas konkreter: Es ist ziemlich schwer, mit KI neue Gesetze der Physik zu entdecken. Aber es ist ziemlich leicht, ein Deepfake-Video zu erstellen, in dem jemand sagt, was man will. Und dieses Missverhältnis wird uns erhalten bleiben.

Mit welchen Konsequenzen?

KI erzeugt jede Menge Müll – potenziell bösartigen Müll. Wenn sie damit schneller ist, als wir damit klarkommen, wird es gefährlich. Dann brauchen wir ein neues Regelwerk, müssen eine neue Art des Umgangs mit KI finden. Nur: Regeln, die wir einer KI auferlegen, um unerwünschtes Verhalten auszubremsen, könnten die KI gleichzeitig weniger nützlich machen. Allerdings würden wir auch keine KI nutzen, der wir nicht vertrauen können.

»Man muss alles testen können. Sonst bleibt es Metaphysik«

Manchmal können wir vielleicht gar nicht entscheiden, ob etwas, das eine KI entwickelt oder vorhersagt, wahr ist oder nicht.

Dann brauchen wir Experimente. Physiker entwickeln ständig alle möglichen Theorien, aber wir nehmen sie erst für bare Münze, wenn sie experimentell überprüft sind. Solange eine KI etwas nicht selbst messen kann, woher soll sie wissen, ob sie richtig liegt? Und wie sollten wir das wissen? Oder falls sie etwas weiß, es uns aber nicht verrät, was dann? Schwer zu sagen. Aber wenn KI auf wundersame Weise immer wieder richtige Vorhersagen trifft, dann wüssten wir, dass es da etwas Wahres gibt, das sie herausgefunden hat. Und um genau das dann unsererseits zu verstehen, müssen wir versuchen, es empirisch umfassend in Augenschein zu nehmen. Man muss alles testen können. Sonst bleibt es Metaphysik.

In Tausenden von Simulationen versuchen Theoretikerinnen und Theoretiker, die Entwicklung des Kosmos zu beschreiben. Dabei setzen sie auch unterschiedlichste Annahmen über die Dunkle Energie an, jene hypothetische Energieform, die das All beschleunigt auseinandertreibt. Für die Entdeckung dieses Phänomens haben Sie selbst im Jahr 2011 den Nobelpreis erhalten. Wenn wir nun eine KI mit all diesen Simulationen füttern würden: Könnte sie dann lernen, darin Muster zu erkennen, nach denen Sie und andere Astronomen anschließend im realen Universum suchen?

Schon möglich. Das wäre ja nichts anderes als eine statistische Methode, die nach sehr hochdimensionalen Merkmalen sucht, die das menschliche Gehirn längst nicht mehr durchdringt. Meins kämpft schon mit vier Dimensionen, bei dreien ist es noch ganz gut. Doch bei 17 Dimensionen streicht unser Hirn die Segel, während KI ohne Weiteres damit zurechtkommt. Gut möglich also, dass sie auf ein interessantes Muster stößt.

In erster Ordnung sind die meisten dieser Variationen ziemlich linear; das können wir noch selbst vorhersagen. Doch wenn es Nichtlinearitäten gibt, bei denen verschiedene Parameter auf eine Weise interagieren, die mehr ist als eine Summe oder Multiplikation, dann könnten wir tatsächlich auf etwas echt Spannendes stoßen. KI wird uns in die Lage versetzen, sehr komplexe Simulationen durchzuführen und diese dann in einer Art und Weise miteinander zu vergleichen, wie es bislang nicht möglich war – aber immer mit dem Ziel, sie empirisch zu validieren oder zu eben zu verwerfen.

Das Gespräch fand während der 73. Lindauer Nobelpreisträgertagung 2024 statt.

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