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Astronomie: Tumult in der Milchstraße

Hochgenaue Daten zur Bewegung vieler Millionen Sterne ermöglichen es, die ereignisreiche Geschichte unserer Galaxie zu rekonstruieren. Sie ist viel turbulenter, als lange Zeit vermutet wurde.
Illustration der Milchstraße
Rätselhafte Heimatgalaxie: Die Illustration stellt dar, wie unsere Milchstraße von außen betrachtet aussehen könnte. Da wir uns inmitten der Struktur befinden, ist ihre tatsächliche Form nur schwer in Erfahrung zu bringen.

Der Astronom Bob Benjamin von der University of Wisconsin-Whitewater hat die letzten beiden Jahrzehnte damit verbracht herauszufinden, wie die Milchstraße aussieht. Das ist keine einfache Aufgabe, weil wir uns im Inneren dieser Galaxie befinden und sie deswegen nicht von außen betrachten können. Aber mit einigen gewieften Lösungen, hofft Benjamin, »lässt es sich in Erfahrung bringen«. Dabei geht er von dem groben Gesamtbild aus, das sich aus verschiedenen astronomischen Erkenntnissen zusammenfügen lässt: Im Zentralbereich befindet sich ein vergleichsweise dichtes, balkenförmiges Band von Sternen, das in eine Scheibe aus Gas und Sternen eingebettet ist. Diese Materie erstreckt sich in so genannten Armen teils spiralförmig nach außen. Alles wird umhüllt von einem dünnen, kugelförmigen Halo aus locker verstreuten Sternen.

Bereits der Weg hin zu einem solchen groben Überblick über die Milchstraße war so mühevoll, dass Forscher wie Benjamin in Interviews immer wieder die Parabel von den Blinden und dem Elefanten zitiert haben: Männer, die nichts sehen können, berühren jeweils bloß den Rüssel, das Ohr oder das Bein des Tieres. Sie beschreiben eine Schlange, einen Fächer oder einen Baumstamm; ein Eindruck der gesamten Gestalt bleibt ihnen versagt. Im Gegensatz dazu war den Astronomen immerhin das Ausmaß ihres Unwissens klar. Ihnen war bekannt, dass die Sterne in verschiedenen Teilen der Galaxie unterschiedlich alt waren, aber sie konnten nicht erklären, warum. Sie wussten, dass sich Sterne in gigantischen Gaswolken bilden, aber deren Vermessung erschien so gut wie unmöglich. Bei anderen Galaxien stellten sie fest, wie Verschmelzungen die Bestandteile durcheinanderwirbeln, aber ob Ähnliches jemals früher in der Milchstraße passiert ist, war offen. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn ging Benjamin davon aus, die Galaxis befände sich in einem Gleichgewichtszustand und sei seit ihrer Entstehung stabil und geordnet.

Dieses Bild hat sich in den letzten Jahren geändert. Neue Erkenntnisse erwuchsen, seit im Rahmen einer Reihe von Durchmusterungen große Zahlen von Sternen systematisch kartiert wurden. Insbesondere die Europäische Weltraumorganisation (ESA) hat hier eine enorme Datenfülle geliefert. Der ESA-Satellit Hipparcos erfasste bis zu seinem Missionsende 1993 rund 2,5 Millionen Sterne; seine Nachfolgerin, die Raumsonde Gaia, hat bis 2023 rund 1,8 Milliarden Exemplare vermessen.

Jede Menge weitere Teleskope und Messkampagnen mit allerlei Akronymen haben zu dem Datenschatz beigetragen: Sloan Digital Sky Survey (SDSS) mit dem dazu gehörenden Apache Point Observatory Galactic Evolution Experiment (APOGEE) und dem Milky Way Mapper (MWM), außerdem Radial Velocity Experiment (RAVE), Large Sky Area Multi-Object Fiber Spectroscopic Telescope (LAMOST), GALactic Archaeology with HERMES (GALAH), Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) und Hectochelle in the Halo at High Resolution (H3). Gemeinsam haben diese Projekte Bilder und Spektren – das heißt das in seine einzelnen Wellenlängen zerlegte Licht – für Millionen von Sternen gesammelt.

Auf Basis solcher Daten lassen sich allmählich exakte Karten der Milchstraße erstellen, die sowohl die dreidimensionale Position der Sterne als auch – durch wiederholte Aufnahmen im Lauf der Zeit – ihre Bewegungen erfassen. Das Ergebnis ist eine umfangreiche, hochauflösende Ansicht einiger Milliarden umherwirbelnder Sterne. Der Film offenbart nicht nur die Struktur der Galaxie, sondern überdies ihre überraschend turbulente Geschichte sowie die Vergangenheit der Sterne und deren mögliche neue Entstehungsregionen. Der Astronom Charlie Conroy von der Harvard University hält das für den »größten astronomischen Wissenszuwachs seit Ewigkeiten«. Kurz gesagt zeigen die Verzeichnisse die Milchstraße nicht etwa ein statisches Gleichgewicht, wie viele erwartet hatten, sondern in Benjamins Worten vielmehr ein ziemliches Durcheinander.

Die Aufzeichnung der Positionen von Sternen ist nichts Neues. So beobachteten schon vor etwa 4000 Jahren die Gelehrten im alten Mesopotamien, wie Sonne, Mond und Planeten durch die Sternbilder wanderten, die, wie sie glaubten, vom Schöpfergott Marduk festgelegt wurden, damit die Menschen ihren Alltag ordnen konnten. Wenn ein Kind in dem Monat geboren wurde, in dem sich der Mond im Sternbild des Stieres befand, und der Erdtrabant dann Nacht für Nacht durch den übrigen himmlischen Tierkreis lief, bis er wieder zum Stier zurückkehrte, dann war das Baby einen Monat alt. Um diese Bewegungen zu verfolgen, betrachteten die mesopotamischen Astronomen bestimmte so genannte Normalsterne und maßen täglich deren Abstände zum Mond, zur Sonne und zu den Planeten mit Hilfe ihrer ausgestreckten Finger.

Enorme Präzision für unvorstellbare Weiten

Später ersetzte der griechische Astronom Hipparchos die in den Himmel gehaltenen Finger durch ein universelles Gitter aus Längen- und Breitengraden, auf dem sich die Sterne lokalisieren ließen. Vom frühen 17. Jahrhundert an und über die darauf folgenden, technologisch bemerkenswerten Jahrhunderte hinweg entwickelten die Astronomen immer bessere Teleskope, mit denen sie zunehmend leuchtschwächere Objekte sehen konnten. In jüngerer Zeit kamen Kameras und Spektrografen hinzu, die das Sternenlicht einfangen und in seine Bestandteile zerlegen konnten. Seit einigen Jahrzehnten fliegen Satelliten jenseits des störenden Einflusses unserer Atmosphäre. Das Ergebnis dieser Fortschritte ist verblüffend. Die Mesopotamier mögen bei ihren Schätzungen noch um höchstens einen ausgestreckten Finger danebengelegen haben, was grob einem Bogengrad oder 60 Bogenminuten entspricht. Der Gaia-Satellit hingegen irrt sich um nicht mehr als 24 millionstel Bogensekunden, was der Breite eines menschlichen Haares gleichkommt, das man aus einer Entfernung von 1000 Kilometern anpeilt. Dank dieser Präzision lassen sich Strukturen in der Milchstraße finden, die Hinweise auf ihre Geschichte geben. Dazu gehören Ströme von Sternen, die sich gemeinsam durch den Halo bewegen, weil sie zusammen geboren wurden und noch immer eine Einheit bilden.

Im Halo tummeln sich alte Sterne, aber er leuchtet so schwach, dass über ihn sonst wenig bekannt war

Ana Bonaca arbeitet seit 2021 an den Carnegie Observatories im kalifornischen Pasadena, nachdem sie sich schon seit ihrer Schulzeit für unsere Galaxis interessiert. Sie sucht in der Datenflut des SDSS nach Strukturen in dem Halo, der die Milchstraße umgibt. Es war bereits bekannt, dass sich in diesen weit entfernten Bereichen alte Sterne tummeln. Aber der Halo leuchtet so schwach, dass über ihn sonst wenig bekannt war. »Ich fühlte mich von den Aspekten der großen Datenmenge und der Suche nach der Nadel im Heuhaufen angezogen«, erinnert sich Bonaca. Während ihres Studiums schlug ihre Betreuerin vor, im Halo nach Sternströmen zu suchen. Bonaca wusste zunächst nicht, was Sternströme überhaupt sind, begeisterte sich aber bald dafür.

Im Jahr 2006 tauchten zunächst beim SDSS und dann auch bei weiteren Himmelsdurchmusterungen Sterne aus dem Halo mit derselben Farbe und Helligkeit auf. Sie schienen sich in langen zusammenhängenden Figuren zu bewegen. Daher vermuteten viele, sie kämen von außerhalb der Milchstraße und ihre Sterne wären gemeinsam in einer kleinen, benachbarten Galaxie geboren worden. Die ganze Struktur wurde dann durch Gezeitenkräfte gedehnt, als sie der Gravitation der bedeutend größeren Milchstraße zu nahekam.

Verräterische chemische Zusammensetzungen

So ein Szenario klang stimmig, war jedoch schwierig zu überprüfen. Der Nachweis eines Sternstroms erfordert Belege dafür, dass die einzelnen Sterne miteinander verwandt sind, das heißt zur gleichen Zeit in derselben Galaxie geboren wurden. Wenn Sterne gemeinsam aus einem großen Gasvorrat hervorgehen, dann zeigen sie alle die spezielle chemische Signatur der Elemente in dieser Wolke. Im Lauf ihres Lebens fusionieren die leichten Atome in den Kernen der Sterne zu schwereren. Solche »Metalle« (in der Astronomie bezeichnet der Begriff alles jenseits von Wasserstoff und Helium) werden bei Explosionen am Ende der Lebensdauer des Sterns in die Umgebung verstreut. Je mehr Generationen von Sternen im Gas einer Galaxie entstanden und wieder vergangen sind, desto metallreicher sind die neu entstandenen, jüngsten Sterne. Daher sollten sich alle Sterne in einem Strom in dieser chemischen Hinsicht ähneln.

»Wir haben sehnsüchtig auf Gaia gewartet«Astronomin Amina Helmi

Darüber hinaus sollten sich Sterne, die zusammengehören, auf die gleiche Weise bewegen. Das Tempo, mit dem sie auf uns zu- oder von uns wegfliegen, lässt sich zwar aus den Spektren ihres Lichts leicht berechnen. Allerdings sind die Messungen der so genannten Eigenbewegungen, die sie entlang des Himmels vollführen, ungenau. »Wenn die Fehlerbalken zu groß sind, kann man darin keinen Strom erkennen«, sagt Amina Helmi von der Universität Groningen, die den nach ihr benannten Helmi-Sternstrom in der äußeren Milchstraße mitentdeckt hat. »Wir haben sehnsüchtig auf Gaia gewartet.«

Im Jahr 2016 wurden die ersten umfangreichen Datensätze der Gaia-Mission veröffentlicht. Dazu gehören chemische Zusammensetzungen, Alter und genaue dreidimensionale Positionen und Eigenbewegungen von insgesamt mehr als einer Milliarde Objekten. Mit dem Gaia-Sternkatalog und den Ergebnissen anderer Durchmusterungen, insbesondere des APOGEE beim SDSS, ließ sich feststellen, welche Sterne von außerhalb der Milchstraße eingewandert waren und welche in ihr selbst geboren wurden. Damit waren nicht nur extragalaktische Sternströme nachweisbar, sondern auch die Bahn eines jeden davon rekonstruierbar – bis zurück zu dessen Ursprung.

So identifizierten Forschungsteams bis 2021 bereits 60 Ströme im Halo; laut Bonaca »zehnmal mehr als vor Gaia«. 23 von ihnen kamen wahrscheinlich aus Zwerggalaxien oder aus Kugelsternhaufen (das sind gravitativ aneinander gebundene Ansammlungen von bis zu einer Million Sternen, die unsere Galaxie umkreisen). Bonaca geht davon aus, dass letztendlich etwa 100 Ströme kartiert werden. Während die Sterne an sich meist rund zehn Milliarden Jahre alt sind, ist schwieriger zu ermitteln, wann aus ihnen Ströme wurden. Wahrscheinlich geschah das vor ein paar Milliarden Jahren.

Verdächtige Exoten

Die Sternströme, die sich durch den Halo ziehen, gehörten zu den ersten Anzeichen dafür, dass unsere Milchstraße ein wechselhaftes Gebilde ist. Hinzu kamen weitere neu entdeckte Gruppen von Sternen, die sich in kein erwartetes Muster fügten. 2017 spürten Bonaca und ihr Team eine Reihe von Sternen an einem überraschenden Ort auf. Die Himmelskörper befanden sich im alten, an Metallen armen Halo und hatten die typischen Umlaufbahnen dortiger Sterne, waren chemisch gesehen aber so metallreich wie jüngere Exemplare aus der Scheibe der Milchstraße. Bonaca fragte sich, ob sie auf irgendeine Weise aus der Scheibenebene in den Halo hinaufgewandert waren.

Ein Jahr später fand ein Team unter der Leitung des Astronomen Vasily Belokurov von der University of Cambridge eine ganz andere Gruppe von Sternen im Halo, die sich ungewöhnlich schnell und in die entgegengesetzte Richtung zu dessen Rest bewegten. Sie verpassten der Gruppe wegen ihrer Form den Namen Sausage (Wurst). Ein anderes Team unter der Leitung von Helmi fand heraus, dass diese Sterne ebenfalls metallarm, das heißt alt waren; sie nannten die Ansammlung Gaia-Enceladus nach dem Sohn der Erdgöttin Gaia. Im Jahr 2023 identifizierten Bonaca und ihre Kollegen einen weiteren Strom von Sternen mit einer ähnlichen chemischen Signatur und Bewegung – vermutlich ein zusätzlicher Teil dieses speziellen Streifzugs durch die Milchstraße. Die astronomische Gemeinschaft einigte sich bei der Namenssuche für das klecksartige Gefüge auf einen Kompromiss: die Gaia-Enceladus-Sausage (GES).

Zwischenzeitlich hatte auch Belokurov die deplatzierten Scheibensterne entdeckt, die Bonaca aufgefallen waren – sie sind offenbar Teil der GES. Mit anderen Worten befindet sich inmitten eines extragalaktischen Kleckses metallarmer Sterne eine Gruppe metallreicher Exemplare aus der Milchstraße. Vermutlich wurden Letztere durch Wechselwirkungen mit der GES aus ihren ursprünglichen Bahnen in den Halo geschleudert. Belokurovs Team nannte die Gruppe Splash (Spritzer).

Von Details zur Gesamtansicht

Aus den Klecksen, Strömen und Spritzern lässt sich folgendes Gesamtbild zusammenfügen: Vor acht bis zehn Milliarden Jahren traf eine Galaxie mit etwa einem Viertel der Größe der Milchstraße frontal auf unsere Galaxis und ging rasch in ihr auf. Die von dem Eindringling stammenden GES-Sterne machen nun den größten Teil des Halos der Milchstraße aus, zudem wurde ihre Scheibe durch die Verschmelzung dicker. Bonaca nennt es »das umwälzendste Ereignis in der Geschichte der Milchstraße«.

Ältere, weniger einschneidende Umwandlungen fanden nicht im Halo statt, sondern weiter im Inneren. Im Jahr 2022 fanden drei verschiedene Teams Anzeichen dafür, wie die Galaxis aus einer Vorläuferin heranwuchs. Das genauer nachzuvollziehen, war auch hier kompliziert und hing davon ab, welche Sterne bereits zur Milchstraße gehörten.

Dabei half eine Entdeckung des Teams um Charlie Conroy. Es identifizierte unter den milchstraßeneigenen Sternen anhand der chemischen Eigenschaften zwei verschiedene Populationen. Eine ältere Gruppe war arm an Metallen, bewegte sich chaotisch und bildete nur langsam neue Sterne; die andere war jünger, metallreich, zog auf geordneten Bahnen und produzierte zehnmal schneller Sterne. Die Astronomen gingen davon aus, dass die Unterschiede zwei Stadien der galaktischen Geschichte repräsentieren, die sie »simmernd« beziehungsweise »kochend« nannten. In der Zwischenzeit hat Belokurovs Forschungsgruppe bei der Messung der Umlaufbahnen von Sternen ebenfalls zwei Epochen erkannt: eine frühe mit metallarmen Sternen, die laut Belokurov überall herumfliegen, und eine spätere mit metallreicheren Sternen und kohärenteren Orbits. Das interpretiert er als Kennzeichen eines Übergangs »von einem heißen Durcheinander zu einer relativ kalten rotierenden Scheibe«. Das heiße Durcheinander nannten die Forscher Aurora (Morgenröte). Eine weitere Bezeichnung hat ein Team um Hans-Walter Rix vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg beigetragen. Als es die Chemie von zwei Millionen Sternen untersuchte, fand es eine gravitativ gebundene Gruppe metallarmer Sterne im Zentrum der Galaxis – das »arme alte Herz« der Milchstraße.

Altes armes Herz | In der Mitte der Milchstraße lassen sich anhand von Daten der Gaia-Mission besonders metallarme Riesensterne aus der frühesten Geschichte unserer Galaxis identifizieren.

Abgesehen von den Namen sind sich die drei Teams einig: Wahrscheinlich geht es in allen Fällen um dieselbe Umwandlung. Dabei verdichtete sich offenbar im Zuge der Entstehung der Milchstraße eine Protogalaxie voller alter, metallarmer Objekte mit chaotischen Bewegungen zu einer Scheibe und zündete dabei ein Feuerwerk neuer Sterne. Bonaca, die hier gemeinsam mit Conroy arbeitete, ist sich zwar nicht sicher, inwieweit alle Beobachtungen wirklich eine konsistente Geschichte ergeben. Es wirke aber immerhin so, als würden sie sich allmählich zu einem übereinstimmenden Bild zusammenfügen: »Ein wenig lässt sich der Elefant schon erkennen.«

Leuchtende Sterne und dunkles Gas

Sterne können nur eine lückenhafte Geschichte erzählen, weil die Milchstraße nur zum Teil daraus besteht. Der Rest ist hauptsächlich Gas. Aus diesem gehen Sterne hervor, so dass beide Vorkommen eng miteinander verbunden sind. Dennoch verkehren Astronomen, die sich mit Sternen beschäftigen, und solche, die sich auf Gas spezialisiert haben, in ziemlich unterschiedlichen wissenschaftlichen Kreisen. Benjamin gehört zu beiden Gruppen, identifiziert sich indessen mehr mit der Gas- als mit der Stern-Community. Sterne werden in und aus Gas geboren und reichern es später mit den von ihnen produzierten Elementen an; die Wissenschaft rund ums Gas beschäftigt sich darum eher mit den gegenwärtigen Veränderungen in einer Galaxie. Sternforschung hingegen ist tendenziell auf die Vergangenheit gerichtet, da Sterne durch ihre Bahnen und chemischen Zusammensetzungen immer auf ihre Ursprünge und damit die galaktische Vorzeit verweisen. »Ich betrachte eine Galaxie als lebendig und atmend«, sagt Benjamin und befindet mit Blick auf die Sternforschung: »Diese Leute behandeln sie wie einen Tatort, der forensisch untersucht werden muss.«

Gasvorkommen kann man am Himmel grob umreißen, aber die genauen Entfernungen und Formen lassen sich oft nur annähernd bestimmen

Es gelingt überhaupt erst seit etwa einem Jahrhundert, Gaswolken zu kartieren. Die Gebilde sind groß, diffus und leuchten nur schwach. Deswegen lassen sie sich nur schwer untersuchen. Zwar kann man ihre Positionen am Himmel grob umreißen, aber die genauen Entfernungen und Formen lassen sich oft nur annähernd bestimmen. Anhand der Gaia-Daten ist es immerhin möglich, Gasvorkommen mittels der dort befindlichen Sterne zu identifizieren, allerdings handelt es sich dabei nur um eine indirekte Methode.

Gaswolken bestehen zu 99 Prozent aus Gas; das übrige Prozent ist Staub. Dieser feine Ruß ist mit dem Gas so gründlich vermischt, dass eine Karte des Staubs mehr oder weniger identisch mit einer des Gases ist. Staub lässt sich daran erkennen, dass durch ihn hindurchscheinendes Sternenlicht röter und leuchtschwächer wird. Indem man ein Verzeichnis der solchermaßen heruntergedimmten Sterne erstellt, lassen sich die Umrisse des Staubs und damit des Gases nachzeichnen. Da die staubgefüllten Gaswolken zudem mit bekannten und genau lokalisierten Sternen gespickt sind, lassen sich diese diversen Informationen miteinander verknüpfen und so die Wolken vermessen. Dennoch ist ein solches indirektes Vorgehen laut Astrophysiker João Alves von der Universität Wien, als würde man einen Elefanten beschreiben, indem man das Haar an seinem Schwanz und somit nur ein Millionstel von ihm berührt.

Ein Team unter der Leitung der Harvard-Astronomin Catherine Zucker vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge fand mehr als ein Dutzend lange, fadenförmige Gaswolken, die über die Spiralarme der Galaxis verstreut sind wie fallen gelassene Zahnstocher. Sie könnten als Geburtsstätten für die vielen neue Sterne in den Armen dienen und werden Knochen genannt. Ein anderes Team entdeckte einen einzelnen, viel größeren, aber ähnlich langen und schmalen Gasfaden, den »Split« (Spalt). Eine weitere von Alves angeführte Gruppe kartierte schließlich die Gaswolken, in denen sich Haufen neugeborener Sterne befanden – laut Alves lokale stellare Kinderstuben. Ihn überraschte vor allem, »dass sie alle entlang einer schmalen Linie ausgerichtet sind«. Von der Seite betrachtet sieht die Anordnung wie eine Welle aus, die durch die Ebene der Milchstraße läuft. In seiner Veröffentlichung vom Januar 2020 nannte das Team sie die Radcliffe-Welle. Sie ist 10-mal länger und 100-mal breiter als die einzelnen Knochen.

Kräftige Arme oder zerzauste Schwingen?

Ein Grund, der diese Gasfäden so interessant macht: Ihre Ausrichtung stimmt vermutlich mit derjenigen der Spiralarme der Galaxis überein, insbesondere im Fall der Knochen. Bisher weiß nämlich noch niemand, wie viele Arme die Milchstraße überhaupt hat. Die bisher bekannten sehen weniger wie klar voneinander abgrenzbare Strukturen aus, sondern vielmehr wie geflügelte Schwingen, deren verworrenes Federkleid es schwierig macht, die genaue Anzahl zu bestimmen. Wenn wir unsere Galaxie von außen betrachten könnten, erschiene sie wohl als ein Zwischending zwischen zwei Grundformen: einem Flocculent Spiral genannten Typ mit einer ungeordneten, regelrecht zerpflückten Struktur und einer »Grand Design«-Spiralgalaxie mit eleganten, symmetrischen Armen.

Im Januar 2022 hat ein anderes Team unter der Leitung von Zucker Erkenntnisse zur so genannten Lokalen Blase veröffentlicht. Dabei handelt es sich um eine Region um das Sonnensystem, die vergleichsweise wenig Materie enthält und aus heißem, verdünntem Gas besteht. Zucker zufolge ist die Blase von Gruppen junger Sterne umgeben, die sich alle nach außen bewegen, was darauf hindeute, dass die Struktur als Folge einer Explosion entstand. Demnach hätte vor etwa 14 Millionen Jahren ein Sternhaufen durch eine Reihe von Supernovae das Gas in der Umgebung weggeschleudert und in eine Kugelform gebracht, auf deren Oberfläche sich Wolken und daraus Sterne bildeten.

Womöglich sind Strukturen wie der Split, die Radcliffe-Welle und die Lokale Blase allesamt Spielarten desselben Vorgangs: Filamente, in denen sich kleinere Wolken zu Sternen verdichten. »Innerhalb dieser länglichen, dunklen, staubigen Struktur bildet sich auf einen Schlag eine kleine helle Blase«, beschreibt Benjamin den Prozess, »und daraufhin tauchen noch mehr dunkle Fäden mit einer weiteren leuchtenden Blase auf.« Für Alves sind sie wie die Perlen einer Kette, die hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichten vielleicht direkt miteinander verbunden sind: »Wir leben in einer Blase zwischen einer großen und einer kleineren schlangenförmigen Struktur.« Er und seine Kollegen spekulieren, wenn wir die Zeit zurückspulen könnten, um die Positionen und Bewegungen des Split und der Radcliffe-Welle vor 15 Millionen Jahren zu sehen, würden wir feststellen, dass sich die beiden überschneiden. Genau an ihrem mutmaßlichen Kreuzungspunkt, wo das Gas am dichtesten war und am ehesten neue Sterne entstehen konnten, lässt sich heute eine Schar junger Sterne in Sternhaufen beobachten. Der Verbund heißt Scorpius-Centaurus-Assoziation, kurz Sco-Cen. Darüber hinaus befinden sich der hypothetische Kreuzungspunkt und Sco-Cen zufällig im Zentrum der Lokalen Blase und sind damit wohl deren Ursprung. »Das ist noch nicht geklärt«, sagt Alves. »Allerdings scheint es sinnvoll, dass so das Gas zusammenkam, um Sco-Cen zu bilden.«

Galaktische Umgebungskarte | Die Form der Milchstraße hat sich nicht von außen unbeeinflusst herausgebildet, sondern entstand während etlicher Wechselwirkungen mit anderen Objekten im Lauf von rund 13 Milliarden Jahren. Immer wieder kamen kleinere Galaxien, Zwerggalaxien sowie Kugelsternhaufen – Ansammlungen sehr vieler Sterne – mit der Vorgängerin der jetzigen Milchstraße in Kontakt. Manchmal gingen das Gas und die Sterne vollständig in der größeren Galaxis auf, in anderen Fällen zerriss deren Schwerkraft die kleineren Strukturen und verteilte Ströme von Sternen im Halo, das heißt dem Raum außerhalb der Spiralarme. Die Illustration basiert auf einer Kartierung der heute noch erkennbaren Überreste solcher Ereignisse durch ein Team um Khyati Malhan vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg auf Grundlage der Daten des europäischen Gaia-Weltraumteleskops.

Wenn die Geschichte der Sterne letztlich die Geschichte davon erzählt, wie sich die Galaxis geformt hat, und wenn die Geschichte des Gases auf die Zyklen der Sternentstehung verweist, dann sollten Sterne und Gas zusammen alles über die Vergangenheit und die Gegenwart der Milchstraße verraten. Benjamin bezeichnet die Vorgänge als »sich entwickelndes Ungleichgewicht«.

Die neue Geschichte der Milchstraße

Der aktuelle Wissensstand ist folgender: Vor 13 Milliarden Jahren, in einem Universum, das damals weniger als eine Milliarde Jahre alt war, lag die Saat der Milchstraße als formlose Gas- und Staubwolke vor. Metallarme Sterne bildeten sich und wirbelten auf zufälligen Bahnen umher. Über die ersten Milliarden Jahre stießen kleinere Wolken und Zwerggalaxien mit der jungen Milchstraße zusammen und versprühten sowohl die neu zugewanderten als auch die einheimischen Sterne in einen Halo. Gas, das von den eintreffenden Kollisionspartnern mitgeführt wurde, löste weitere Sternentstehungen aus. Unterdessen drehte sich die Galaxie vor etwa 12,5 Milliarden Jahren bereits zusammenhängender; ein bis zwei Milliarden Jahre später hatte sie eine Scheibenform angenommen, in der die Sterne kreisförmig um das Zentrum liefen. In diesem ruhigen Simmern bildeten sich Sterne, die schnell ihren Brennstoff verbrauchten und explodierten, wobei sie das Gas anreicherten, aus dem die nächsten Generationen von zunehmend metallreicheren Sternen hervorgehen sollten.

Dann kollidierte vor rund zehn Milliarden Jahren die Enceladus-Galaxie mit der Milchstraße und ging im Lauf der darauf folgenden zwei Milliarden Jahre in ihr auf. Die Gaia-Enceladus-Sausage übernahm die Vorherrschaft im Halo, ließ die Sterne im Innenbereich der Scheibe schneller laufen und befeuerte mit ihrem Gasvorrat die Sternbildung in der Milchstraße. Im Lauf der folgenden zwei Milliarden Jahre platteten sich Gas und Sterne aus den dicken Zentralbereichen zu einer dichteren, dünneren Scheibe ab und wanderten in Spiralarme.

Vor etwa sechs Milliarden Jahren kam eine Zwerggalaxie namens Sagittarius der Milchstraße zu nahe und wurde von ihrer Gravitation eingefangen. Bei ihren Umläufen streifte sie die Galaxis alle paar hundert Millionen Jahre und riss mit jedem Mal eine Spur von Sternen heraus. Die daraus resultierenden Ströme ziehen sich durch den Halo und wanden sich schließlich zweimal um die Galaxis herum. In den nächsten fünf Milliarden Jahren widerfuhr anderen eintreffenden Objekten das gleiche Schicksal, bis die gesamte Milchstraße von Strömen umgeben war. Inzwischen hatte sich das Gas in den Spiralarmen zu langen Fäden verfilzt, entlang derer neue Sterne aufleuchteten.

In der Nähe der Sonne bildeten sich vor etwa 15 Millionen Jahren massereiche Sterne in der Sco-Cen-Assoziation und explodierten schnell wieder. Dadurch entstand die Lokale Blase, auf deren verdichteter Oberfläche Sterne heranreiften. Die 37 Sternhaufen, aus denen sich Sco-Cen heute zusammensetzt, sind aus Explosionen hervorgegangen, die alle knapp fünf Millionen Jahre stattfanden und immer weitere Blasen mit neuen Sternen an ihren Rändern schufen. Die Wolken in den Filamenten werden dabei erst von der intensiven Strahlung zerstreut, bevor das Gas in den Weiten schließlich abkühlt und sich unter dem Einfluss von Schwerkraft und Rotation erneut zu Filamenten verdichtet, aus denen weitere Sterne entstehen.

Auf dem Planeten Erde lernten vor 4000 Jahren Menschen in Mesopotamien, Sternbilder zu benutzen, um den Ackerbau zu planen und das Schicksal vorherzusagen. Wir haben die Konstellationen seit den Zeiten des Gottes Marduk zum Teil umbenannt, doch sie dienen uns noch immer als Orientierungsmerkmale innerhalb der Milchstraße. Präzise Vermessungen zeigen überdies, wie sich die Sternbilder im Lauf der Zeit verschoben haben und wie sich die Galaxis überhaupt verändert hat und weiterentwickeln wird.

In der näheren Umgebung der Sonne sind die Verzeichnisse von Gas und Sternen schon sehr detailliert. Mit größeren Entfernungen werden sie immer weniger genau. Bis 2023 waren nur knapp 2 der etwa 100 Milliarden Sterne der Milchstraße kartiert. »Wenn die Sonne meine Nase ist, sind wir immer noch hier«, erklärt die Harvard-Astronomin Alyssa Goodman, während sie mit ihren Händen beide Seiten ihres Gesichts berührt. »Die Galaxis reicht hingegen bis über meine ausgestreckten Arme hinaus. Wir versuchen einfach, immer besser voranzukommen – hierher, hierher, hierher.« Mit jeder Wiederholung von »hierher« führt sie ihre Hände weiter und weiter nach außen. Indem sie die Dimension der Milchstraße auf ihren Körper überträgt, demonstriert sie zugleich: Moderne Gelehrte deuten die Galaxis zwar auf eine andere Weise als in Mesopotamien – ihre Beziehung dazu ist aber mitunter nicht weniger persönlich.

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  • Quellen

Alves, J. et al.: A galactic-scale gas wave in the solar neighbourhood. Nature 578, 2020

Belokurov, V., Kravtsov, A.: From dawn till disc: Milky Way’s turbulent youth revealed by the APOGEE+Gaia data. Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 514, 2022

Charlie Conroy, C. et al.: Birth of the galactic disk revealed by the H3 survey. ArXiv 2204.02989, 2022

Rix, H.-W. et al.: The poor old heart of the Milky Way. The Astrophysical Journal 941, 2022

Zucker, C. et al.: Star formation near the Sun is driven by expansion of the Local Bubble. Nature 601, 2022

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