Çatalhöyük: Leben und Sterben mit der Wahlfamilie
Zu seiner Blütezeit muss Çatalhöyük eine regelrechte Metropole gewesen sein: Bis zu 8000 Menschen wohnten hier in kleinen, eng aneinandergebauten Lehmhäusern, sie jagten, sie sammelten, vor allem aber bestellten sie unweit des Dorfs ihre Äcker und versuchten sich in der Zucht von Schafen und sogar Rindern. Ihre Siedlung, die etwa zwischen 7100 und 5950 v. Chr. bestand, zählt zu den ältesten dauerhaft bewohnten Orten der Welt – und ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. Es fehlen hier beispielsweise jegliche Gebäude, die auf eine soziale Hierarchie hindeuten würden. Paläste, Tempel, Herrschaftshäuser – all diese Einrichtungen, ohne die in späterer Zeit kaum eine Ortschaft auskommen wird, sucht man in Çatalhöyük vergebens. Genau wie Friedhöfe: Die Einwohner begruben ihre Toten unter den Fußböden ihrer Häuser.
Jedes dieser rechteckigen Gebäude bot für sich genommen nur einer Hand voll Menschen Platz. Nichts sprach also dagegen, in dem Ort eine große Dorfgemeinschaft zu sehen, die aus vielen kleinen Familienhaushalten bestand. Davon waren auch die Archäologinnen und Archäologen überzeugt, die dort Ausgrabungen machten. »Wir waren eigentlich alle davon ausgegangen, dass diejenigen, die zusammen in einem Haus bestattet wurden, in irgendeiner Weise zur selben genetisch verwandten Familie gehörten, wie groß die Gruppe auch sein mochte«, schreibt Ian Hodder, der über viele Jahre die Ausgrabungen unweit der modernen anatolischen Stadt Konya geleitet hat.
Allerdings fehlte dafür noch ein wissenschaftlicher Beleg. Leider waren bis vor Kurzem noch die Möglichkeiten der Analyse alten Erbguts zu beschränkt für die alten und von früheren Ausgrabungen kontaminierten Knochen. Die amerikanische Anthropologin Marin Pilloud analysierte darum das Gebiss der Bestatteten, um die Verwandtschaftsbeziehungen zu erforschen. Das ist möglich, weil genetisch verwandte Personen Zähne ähnlicher Form und Größe haben.
Keine Anzeichen von Verwandtschaft in den Bestattungen
Pilloud untersuchte das Gebiss von 266 Skeletten aus allen Ausgrabungsschichten und machte eine unerwartete Entdeckung: Weder gehörten Personen, die unter demselben Haus beerdigt wurden, zu einer biologischen Familie, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Noch waren sie mit den Bestatteten in den Nachbarhäusern biologisch verwandt. Die Idee, dass in den Häuserkomplexen, in die man einst nur von Dach zu Dach gelangte, Großfamilien lebten, ließ sich also auch nicht halten. Die Skelette mit der größten genetischen Ähnlichkeit waren über den gesamten Ort verteilt.
2011 veröffentlichte Pilloud mit ihrem Kollegen Clark Spencer Larsen eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse in der Zeitschrift »American Journal of Physical Anthropology«. In ihrer Analyse kamen sie zu dem Schluss, dass Verwandtschaft in Çatalhöyük nicht durch biologische Wurzeln definiert war. Offenbar hatten die Bewohnerinnen und Bewohner ein anderes Verständnis von Verbundenheit – eines, das vielleicht auf ökonomischen, sozialen oder kulturellen Gemeinsamkeiten beruht haben mag und durch das Zusammenleben im gleichen Haus verstärkt wurde. Wo die biologischen Eltern lebten, scheint dagegen bei der Wahl des Bestattungsortes nicht relevant gewesen zu sein.
Ein Paukenschlag könnte man meinen. Doch nach Veröffentlichung von Pillouds spektakulären Befunden geschah erst einmal: nichts. Erst 2019 griff ein internationales Forscherteam das Thema der Verwandtschaftsbeziehungen in der inzwischen zum Weltkulturerbe erklärten Siedlung wieder auf. Diesmal untersuchten die Fachleute Skelette, die von den Ausgrabungen James Mellaarts stammten. Der britische Archäologe hatte Çatalhöyük in den 1960er Jahren entdeckt und dort erste Grabungen durchgeführt.
Das Team um Arkadiusz Marciniak konzentrierte sich nun auf die Analyse der mitochondrialen DNA, die deutlich stabiler ist als die aus dem Zellkern und sich darum auch im archivierten Fundmaterial nachweisen ließ. Ihre 2019 in der Zeitschrift »Genes« veröffentlichten Forschungsergebnisse bestätigten Pillouds Befunde: In den Genproben wurden keine Anzeichen dafür gefunden, dass die Frauen und Kinder, die innerhalb eines Hauses bestattet wurden, miteinander verwandt waren.
War Çatalhöyüks Familienmodell eine Ausnahmeerscheinung?
Jetzt bestand akuter Klärungsbedarf. Waren die Verhältnisse in Çatalhöyük eine Ausnahme? Oder ließen sie sich auf ganz Anatolien übertragen? In Westasien gab es damals eine Vielzahl von Gemeinschaften, in denen die Menschen wie in Çatalhöyük von Ackerbau und Viehzucht lebten; als Jungsteinzeit oder Neolithikum bezeichnen Fachleute diese Epoche. Das Erbgut aus 59 Skeletten aus Hausbestattungen sollte nun Auskunft darüber geben, in welchen Sozialverbänden die Menschen jener Zeit lebten. Neben Funden aus Çatalhöyük wurden Genproben aus dem nordwestanatolischen Barcın Höyük einbezogen. Beide Orte werden dem keramischen Neolithikum zugerechnet, das heißt, dort wurden bereits Keramikgegenstände hergestellt. In diesen Gemeinschaften hatten sich Landwirtschaft und Viehzucht als Hauptnahrungsquellen weitgehend durchgesetzt.
Noch älter, nämlich aus der Zeit zwischen dem 9. und dem 8. Jahrtausend v. Chr., und damit aus dem akeramischen Neolithikum, waren die Proben aus dem zentralanatolischen Aşıklı Höyük und dem zehn Kilometer östlich von Çatalhöyük liegenden Boncuklu Höyük. Ihre Bewohner lebten noch hauptsächlich vom Jagen und Sammeln.
An der Studie wirkten Fachleute aus Archäologie, Genetik, Biologie und Anthropologie mit. Sie nutzten die neuesten Methoden der Analyse alter DNA, um Skelette, die in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander lagen, verwandtschaftlich zuzuordnen. Im Juni 2021 veröffentlichten sie dann die Ergebnisse ihrer Untersuchung in der Fachzeitschrift »Current Biology«.
Auch andernorts herrschten ähnliche Praktiken
Was Çatalhöyük anging, bestätigte sich das nun schon bekannte Bild: Unter den 14 Bestatteten fand sich lediglich in einem Haus ein Schwesternpaar, das gemeinsam begraben wurde. Die übrigen Personen waren nicht miteinander verwandt. Das Gleiche galt für die Skelette aus dem zeitgleich bewohnten Barcın Höyük. Auch hier wurde ein Schwesternpaar gefunden, außerdem zwei Jugendliche, die Verwandte zweiten oder dritten Grades waren. Die Mehrzahl der 23 Bestatteten hatte jedoch keine gemeinsamen biologischen Wurzeln. Dass hier, über 500 Kilometer weit weg von Çatalhöyük, offenbar dieselben Gepflogenheiten herrschten wie in der anatolischen Metropole, mag auf den ersten Blick verwundern. Allerdings ist die natürliche Umgebung des Dorfs am Marmarameer mit der in Zentralanatolien nahezu identisch. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich Siedler aus Çatalhöyük auf ihrem Weg nach Westen in der Ortschaft niederließen.
Ganz anders sahen dagegen die Befunde in den früher bestehenden Siedlungen aus. In Boncuklu Höyük wie auch in Aşıklı Höyük war die Mehrzahl der Toten biologisch verwandt. So wurden in Boncuklu Höyük eine Mutter und ihr erwachsener Sohn und ein Geschwisterpaar im selben Gebäudekomplex begraben. In Aşıklı Höyük fand man ebenfalls Verwandte ersten Grades, die entweder zwei Schwesternpaare oder ein Schwesternpaar und Mutter und Tochter waren. Das ist der bisher älteste Nachweis von Blutsverwandtschaft in einem häuslichen Kontext in Vorderasien.
Die Forschungsgruppe bringt ihre Ergebnisse mit dem Wechsel vom Wildbeutertum zur bäuerlichen Lebensweise in Verbindung. Die Umwälzungen im sozioökonomischen Gefüge zwischen dem akeramischen und dem keramischen Neolithikum hätten schließlich auch zu einer veränderten Bestattungspraxis geführt.
Was die Menschen unter Familie verstünden, sei eben variabel, meint etwa Dominik Bonatz, Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin. Offensichtlich habe es in der Jungsteinzeit eine lange Phase des Ausprobierens gegeben und dazu gehöre auch das Ausprobieren von unterschiedlichen Formen des sozialen Zusammenlebens.
Die Auflösung der biologischen Verwandtschaft beginnt bereits vorher
Das zeichnet sich schon in den älteren Siedlungen ab: Auch in Aşıklı Höyük befand sich unter den fünf untersuchten Skeletten eine Frau, die mit keiner anderen Person in der Gruppe verwandt war. Und in der Boncuklu-Probe, die das Erbgut von neun Personen enthielt, war das immerhin bei dreien der Fall.
Auffallend war hier die gemeinsame Bestattung einer erwachsenen Frau und eines Mädchens, das wahrscheinlich bei der Geburt gestorben war. Man hatte den Körper des Kindes direkt an das Becken der Frau gelehnt. Die intuitive Interpretation des Fundes als Mutter mit ihrem bei der Geburt verstorbenen Kind, erwies sich jedoch als falsch. Die beiden Toten waren genetisch nicht miteinander verwandt. Während die Frau einen Bruder in der Gruppe hatte, war das Mädchen mit keinem der Verstorbenen durch biologische Wurzeln verbunden. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Praxis der Bestattung von nicht genetisch verwandten Personen bereits in den Siedlungen des akeramischen Neolithikums ihre Anfänge hatte.
Für ein dauerhaftes Zusammenleben von biologisch nicht Verwandten im selben Hause fehlte frühen Gemeinschaften wie Aşıklı Höyük allerdings eine entscheidende Voraussetzung. Davon ist jedenfalls die Archäologin Eva Rosenstock überzeugt: »Man braucht eine große Anzahl von stillenden Müttern, um Kleinkinder getrennt von ihren leiblichen Müttern aufwachsen zu lassen. In Dorfgemeinschaften mit einer geringen Anzahl von Bewohnern ist so etwas nicht möglich«, sagt die Prähistorikerin. Ein »Megadorf« wie Çatalhöyük mit mehreren tausend Einwohnern könne dies aber sehr wohl umsetzen. Rosenstock, die selbst in Çatalhöyük gegraben hat, sieht durch die neue Studie die früheren Forschungsergebnisse zu den Verwandtschaftsbeziehungen in der Siedlung bestätigt.
Warum gaben die Menschen ihre Kinder zu anderen Eltern?
So verdichten sich die empirischen Nachweise dafür, dass in den Wohnhäusern Çatalhöyüks vor allem Menschen bestattet wurden, die biologisch nicht miteinander verwandt waren. Die jüngste Studie lässt zudem auf einen Export dortiger Bestattungsbräuche in andere Regionen schließen. Die Motive für diese Praxis liegen jedoch weiterhin im Dunkeln. Auch eine grundsätzliche Frage bleibt ungeklärt: Lebten die Toten in den Häusern zusammen oder wurden sie lediglich dort bestattet?
Bestattungsarrangements, die vom Familienmuster abweichen, wurden im ethnologischen Kontext schon früh entdeckt. So beschrieb Sarah Musgrave bereits 1930 eine Tradition der australischen Aborigenes, bei der tote Kinder mit dem nächsten männlichen Erwachsenen begraben wurden, der nach ihnen starb. Solche Traditionen führen dazu, dass man wie in Çatalhöyük keine genetischen Gemeinsamkeiten zwischen den Bestatteten entdeckt.
Für eine Bestattungsgemeinschaft könnte auch die reiche Symbolik in den Wohngebäuden Çatalhöyüks sprechen. Güneş Duru, Mitautorin der jüngsten Studie, hält sie für ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Siedlungen des keramischen und akeramischen Neolithikums: »Es gibt viele symbolische Ähnlichkeiten in den Häusern Çatalhöyüks, die wir in der materiellen Kultur verfolgen können. In Aşıklı Höyük sehen wir dieses Ausmaß an symbolischen Objekten nicht.«
Die Anthropologin Barbara Mills erinnern die wiederkehrenden Symbole auf Wandgemälden und Reliefs an die Pueblogesellschaften des amerikanischen Südwestens. Dort sind sie ein Erkennungszeichen von so genannten Sodalitäten, die eine Schlüsselrolle in der sozialen Organisation der Gemeinschaften spielen. Mills, die lange Mitglied von Hodders Ausgrabungsteam war, vermutet, dass es solche religiösen Netzwerke auch in Çatalhöyük gab und dass sie den Begräbnisort wesentlich mitbestimmten. Auch wenn ihre Angehörigen nicht zusammenwohnen, begründen Sodalitäten einen Bund weit über die Abstammung hinaus. So haben beim indigenen Stamm der Zuni die Kinder neben ihren leiblichen Eltern »Zeremonien-Eltern« außerhalb des Klans.
»Fiktive Verwandte« gegen Standesunterschiede
Ian Hodder geht davon aus, dass auch in Çatalhöyük Kinder »zwei Sets von Eltern« hatten: die biologischen und diejenigen, mit denen sie zusammenlebten. Letztere hätten als Adoptiv- oder Pflegeeltern die soziale Elternschaft für die Kinder übernommen. So seien in den Häusern »fiktive Familien« entstanden, zusammengehalten durch gemeinsame Arbeit und geteilte Erinnerungen.
Kinder wurden, so glaubt Hodder, wohl schon bald nach der Geburt von ihren Eltern getrennt, und zwar mit deren Einwilligung. Das könnte mit dem egalitären Selbstverständnis der Bewohner zusammenhängen. In der Siedlung waren materielle Privilegien anscheinend verpönt. So verzichtete man nicht nur auf Herrschaftsgebäude, sondern auch auf Unterschiede im Wert und Umfang der Grabbeigaben. Die Trennung von biologischen Eltern und Kindern könnte ein Mittel gewesen sein, »eine Verbindung der Häuser mit der Kernfamilie und ihren Auswirkungen auf die Besitzverhältnisse zu verhindern«, wie Hodder per E-Mail erklärt. Sie hätte der Vermeidung sozialer Ungleichheit durch Vererbung gedient.
Was für uns schwer vorstellbar erscheint, hat durchaus historische und ethnografische Parallelen. So ist es in vielen westafrikanischen Gesellschaften Brauch, Kinder zu Pflegeeltern zu geben. Bei den Baatombu in Nordbenin werden sie zum Beispiel kurz nach dem Abstillen von ihren biologischen Eltern getrennt, wie die Ethnologin Erdmute Alber nachweist. Solche Praktiken sind aus anderen afrikanischen Ländern, aber auch aus Alaska, China und Papua-Neuguinea bekannt. Auch in Westeuropa war es lange Zeit üblich, Kinder in Pflegefamilien zu geben, bis sich die Idee der Kernfamilie als Grundbaustein der Gesellschaft durchsetzte.
Ethnien außerhalb des euroamerikanischen Raums haben oft Vorstellungen von Verwandtschaft, die nicht ausschließlich auf biologischer Abstammung basieren. Die »New Kinship Studies« in der Anthropologie betrachten die Idee der Blutsverwandtschaft daher als westliches Konzept. Für sie ist der Zusammenhang zwischen Genen und Verwandtschaft ein imaginäres Konstrukt, das nicht in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit Gültigkeit hat.
In ähnlicher Weise wird auch in der Archäologie ein biologisch begründeter Verwandtschaftsbegriff zunehmend in Frage gestellt. So argumentieren die amerikanischen Archäologen Kent M. Johnson und Kathleen S. Paul, biologische Verwandtschaft sei zwar eine universelle Realität, ihre soziale Bedeutung variiere aber stark. Eine rein auf Fortpflanzung basierende Vorstellung von Zusammengehörigkeit werde der komplexen Realität früher Gesellschaften nicht gerecht. Sie plädieren stattdessen für einen flexibleren Verwandtschaftsbegriff, der andere Formen von Verbundenheit mit einbezieht. Die Funde in den jungsteinzeitlichen Gräbern Anatoliens sprechen dafür, dass auch in der Archäologie Verwandtschaft neu gedacht werden muss.
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