Atmosphärenchemie: Blitze mit Nachwirkung
Wenn Wissenschaftler das Zeug zu Hollywoodstars haben, dann wohl die Piloten des DC-8 Earth Science Laboratory der NASA. Im Frühsommer 2012 flogen sie über den weiten Ebenen im Zentrum der USA gezielt Gewitter an – je heftiger das Unwetter, desto besser.
An Bord jedes Flugs: Chemiker und ihre Analysegeräte. Sie waren Teil der großen amerikanischen Kooperationskampagne »Deep Convective Clouds and Chemistry« und untersuchten, wie Gewitter die Chemie der Atmosphäre verändern. Die Forscher und Forscherinnen verglichen dazu die Zusammensetzung der Luft, die in ein Gewitter eintritt, mit derjenigen, die es verlässt. So wollten sie verstehen, wie starke Konvektionsströme und Blitze die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre beeinflussen. Sie erwarteten sich aufschlussreiche Ergebnisse, die wichtig sein würden, um die Luftverschmutzung in Städten oder die Bildung von Treibhausgasen besser zu verstehen.
»Die Piloten waren fantastisch«, erinnert sich William Brune, der als Atmosphärenchemiker an der Pennsylvania State University forscht. Er saß als einer der wissenschaftlichen Leiter der Kampagne bei vielen Flügen mit im Cockpit und entschied, welches Gewitter es zu verfolgen galt. Die Piloten überwachten ihr Radar und umkreisten das Zentrum des Sturms, wobei sie bis zum Wolkenamboss – dem oberen Rand der Gewitterwolken – hinaufflogen. »Man darf nicht zu dicht heranfliegen, muss aber so nah wie möglich kommen, um möglichst viel von dem zu sehen, was aus dem Sturm aufsteigt«, sagt Brune. »Um diese Stürme herum- und in die Wolkenambosse hineinzufliegen, war spektakulär.«
Als ebenso spektakulär erwiesen sich die dabei gesammelten Daten. Bei mehreren Flügen entdeckte das Team in der Nähe von Gewittern verblüffend hohe Hydroxylkonzentrationen, die um Größenordnungen über allen bisherigen atmosphärischen Messungen des reaktiven Radikals lagen. Hydroxylradikale (siehe Glossar) sind das primäre Oxidationsmittel der Erdatmosphäre. Sie sind entscheidend für die Fähigkeit der Luft, sich selbst zu reinigen. Ein Jahrzehnt nach dem letzten Flug der Feldkampagne deuten die jüngsten Erkenntnisse von Brune und seinen Kollegen zu den hohen Hydroxylausschlägen nun darauf hin, dass Blitze die Chemie der Atmosphäre viel stärker beeinflussen als bisher angenommen.
Ein Blitz kann den Himmel erleuchten. Zwar ist jeder Blitz nur etwa zwei bis drei Zentimeter dick, heizt aber mit seiner Energie die Umgebungsluft auf 30 000 Grad Celsius auf – das ist weitaus heißer als die Oberfläche der Sonne. Dort, wo der Blitz auf den Boden trifft, kann ein direkter Einschlag ausgewachsene Bäume auseinandersprengen – und abrupt völlig andere Bedingungen schaffen, als sie dort für gewöhnlich herrschen (siehe »Starthilfe für das Leben?«). Jeder Blitz ist auf seinem gesamten, typischerweise fünf Kilometer langen Weg durch die Luft gleich zerstörerisch: Er zerreißt jedes Molekül in seiner Nähe in einzelne Atome. Bei den meisten dieser Moleküle handelt es sich um Distickstoff (N2) und molekularen Sauerstoff (O2), die beiden Hauptbestandteile der Luft. Wenn die Atome abkühlen, können sie sich mit neuen Partnern verbinden.
Die Temperatur ist entscheidend
»In dem 30 000 Grad heißen Blitz, den wir sehen, läuft eine ganz besondere Chemie ab«, sagt Brune. »Das wichtigste Gas, das bei zahllosen Missionen gemessen wird, ist jedem ein Begriff: Stickstoffmonoxid (NO).« Die Temperatur ist entscheidend für die NO-Produktion bei Blitzen, nicht nur in der Erhitzungsphase. Die Luft muss sich extrem schnell abkühlen, und zwar in weniger als einer Millisekunde, damit das NO im Wesentlichen gefriert. Sonst verbinden sich Stickstoffatome wieder zu N2 und Sauerstoffatome zu O2.
Nach dem Einschlag können die NO-Moleküle eine Reihe von Reaktionen mit anderen Sauerstoff- und Stickstoffatomen sowie -molekülen eingehen. Zwei wichtige Verbindungen, die dabei entstehen, sind Stickstoffdioxid (NO2) und Ozon (O3). Jeder einzelne Blitz mag global gesehen nur ein kleines Ereignis sein; da die Erde jedoch jeden Tag mehr als drei Millionen davon erlebt, kann sich ihr Einfluss summieren.
Mary Barth ist Atmosphärenchemikerin am US National Center for Atmospheric Research in Boulder, Colorado. Sie erforscht, wie sich Gewitter auf die Ozonproduktion und -verteilung auswirken. »Am Boden kennen wir Ozon als gesundheitsschädlichen Stoff«, erklärt sie, »aber in der oberen Troposphäre, wo das Molekül in Gewittern entsteht, wirkt es als Treibhausgas.«
Gewitter können den Ozongehalt in vielfältiger Weise beeinflussen. Formaldehyd zum Beispiel, ein häufiger Bestandteil verschmutzter Luft, ist ein Ozonvorläufer. Durch die starke Konvektion kann es bei Gewittern in die Höhe gezogen werden, wie Barth erläutert. Doch da sich Formaldehyd partiell in Wolkentröpfchen auflöst, regnet ein Teil davon eher ab. Dadurch verschiebt sich das chemische Gleichgewicht.
Um zu verstehen, welche Rolle Ozon als Treibhausgas in der oberen Troposphäre spielt, muss man vor allem in Erfahrung bringen, wie viel NO2 bei einem Blitzschlag entsteht. Denn dieses ist eine wichtige Quelle für Ozon: Sonnenlicht spaltet das Molekül in NO und ein Sauerstoffatom auf, das sich wiederum mit molekularem Sauerstoff (O2) zu Ozon verbinden kann.
Starthilfe für das Leben?
Blitze beeinflussen nicht nur die Chemie der Atmosphäre. Wo sie einschlagen, verändern sie mitunter auch die chemische Zusammensetzung der Erde. Möglicherweise war das entscheidend für die Entstehung des Lebens.
Als Benjamin Hess, heute Doktorand an der Yale University in New Haven, USA, noch am Wheaton College in Illinois studierte, wandte sich eine Familie aus einer Nachbarstadt an die geologische Abteilung. Ein Blitz war in ihren Rasen eingeschlagen und hatte im Boden ein glasartiges Material hinterlassen, das man Fulgurit nennt. Nachdem es ausgegraben worden war, machte Hess es zu seinem Forschungsprojekt. »Ich habe es aufgeschnitten und wusste buchstäblich nicht, was ich finden würde«, erzählt er.
Hess untersuchte die Probe mittels Raman-Spektroskopie sowie Rasterelektronenmikroskopie und stellte fest, dass der Fulgurit ein Mineral namens Schreibersit enthielt. Darin liegt Phosphor in einer stark reduzierten Form (als Phosphid) an Eisen gebunden vor. Er ist wasserlöslich und steht für chemische Reaktionen zur Verfügung – im Gegensatz zum unlöslichen Phosphat, als das er normalerweise vorliegt.
Den Berechnungen des Teams zufolge könnte der durch Blitze erzeugte reduzierte Phosphor auf der frühen Erde entscheidend für die Entstehung von Leben gewesen sein, indem er die Bildung phosphorhaltiger Biomoleküle wie DNA, RNA, Phospholipiden und ATP ermöglichte.
Seit den berühmten Studien von Stanley Miller und Harold Urey in den 1950er Jahren werden Blitze oft als mögliche Auslöser für die Bildung biologisch wichtiger Verbindungen auf der Urerde angeführt. »Frühe Erdumgebungen und Gesteine in der Erde im Allgemeinen enthalten so viel Sauerstoff, dass wichtige Elemente wie Phosphor an ihn gebunden sind«, sagt Hess. »Aber wenn man einen Blitz ins Spiel bringt, der die Materie sofort auf tausende Grad Celsius erhitzt, werden alle diese Bindungen aufgebrochen. Ein Element wie Phosphor kann sich dann beispielsweise an Eisen binden – wie im Schreibersit –, wodurch es plötzlich frei reagieren und andere Moleküle bilden kann.«
Da Schreibersit häufig in bestimmten Meteoritentypen zu finden ist, lautete eine Theorie, dass reduzierter Phosphor auf der Urerde extraterrestrischen Ursprungs war. Hess’ Ergebnissen zufolge könnten Blitze aber eine ebenso bedeutende Quelle für das Element gewesen sein, zumal die Meteoriteneinschläge mit der Entwicklung des Sonnensystems seltener wurden.
Die Bildung von Stickoxiden durch Blitze untersuchen Wissenschaftler seit Jahrzehnten: wie sie entstehen und wie häufig und wie viel davon sich bei jedem Blitz bildet. Dennoch sind die Ergebnisse nach wie vor höchst schwammig: Es gibt Berichte von 32 bis 664 Mol Stickoxiden (NOx) pro Blitz. Mary Barths Ansicht nach ist das Forschungsgebiet nach wie vor recht jung und ausbaufähig.
Die NOx-Produktion durch Blitze genauer zu messen, war daher eines der wichtigsten Ziele der Feldkampagne aus dem Jahr 2012. »Wir standen morgens auf, sprachen mit den Meteorologen, und sie teilten uns mit, in welchen Gegenden sich an diesem Tag wahrscheinlich Gewitter bilden würden«, sagt Barth. Das Team flog dann zu einem solchen Ort, nahm Luftproben und hoffte, dass sich ein Sturm aufbauen würde.
»Wenn wir ein Unwetter fanden, waren wir sehr aufgeregt. Die Leute verfolgten die Daten am Computer, noch während sie aufgezeichnet wurden«, erzählt die Wissenschaftlerin. Einmal wurde das Flugzeug sogar von einem Blitz getroffen, das Loch kurzerhand mit Klebeband geflickt.
Die NOx-Messungen des Teams engten die früheren Ergebnisse auf einen mittleren Bereich ein, nämlich zwischen 142 und 291 Mol NOx pro Blitz. Es ist nach wie vor schwierig vorherzubestimmen, wie viele Stickoxide ein bestimmter Sturm ausstößt, und die Vorgänge genau in Computermodellen zu erfassen, um atmosphärische Prozesse zu simulieren. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass jeder Sturm individuell ist. Aber wir haben trotzdem einige Anhaltspunkte gewonnen«, sagt Barth. Blitzen eine durchschnittliche NOx-Produktion zuzuordnen, ist demnach möglicherweise zu kurz gedacht. Die Wissenschaftlerin vermutet, dass die Menge der Stickoxide mit der Länge des Blitzes korreliert. Außerdem gehen laut den Ergebnissen ihrer Forschungsgruppe in einem Gewitter Blitze häufiger nieder, wenn sie kürzer sind.
Ein heftiges Sommergewitter kann ein kathartisches Ereignis sein. Wenn die Blitzshow vorbei ist und der Regen aufhört, wirkt die Welt oft wie neugeboren und die Luft wie rein gewaschen. Das kommt nicht von ungefähr: Das durch den Blitz entstandene NO setzt eine Kaskade von Reaktionen in Gang. In der Folge bildet sich nicht nur mehr Ozon, sondern ebenso das wichtigste oxidative Reinigungsmittel der Atmosphäre: Hydroxylradikale. Sie reagieren mit diversen schädlichen Gasmolekülen, etwa dem Treibhausgas Methan oder Verkehrs- und Industrieabgasen, oxidieren sie und machen sie besser wasserlöslich, so dass sie schließlich abregnen.
Das Hydroxylradikal beeinflusst die Lebensdauer zahlreicher Verbindungen in der Atmosphäre stark, gleichgültig, ob sie natürlicherweise dort vorhanden sind oder vom Menschen ausgestoßen wurden. Das haben Wissenschaftler erstmals in den 1970er Jahren herausgefunden. »Eine Zeit lang war es erste Priorität, den Hydroxylgehalt zu ermitteln«, erinnert sich William Brune. »In der Atmosphäre sind nur etwa einige zehn Hydroxylradikale pro Billiarde Teilchen vorhanden. Ihre Konzentration ist also sehr schwer zu messen, und vieles kann die Messung verfälschen.«
Auf der Jagd nach Hydroxylradikalen
Letztendlich wurden zwei Methoden entwickelt, um den Hydroxylgehalt in der Luft genau zu bestimmen. Bei der einen lässt man das Hydroxylradikal mit isotopisch markiertem Schwefeldioxid (SO2) reagieren, so dass isotopisch markierte Schwefelsäure entsteht. Diese wird im Massenspektrometer ionisiert und nachgewiesen. »Es ist sehr bizarr, aber es funktioniert«, sagt Brune über das Verfahren. Er selbst verwendet eine andere Methode, die sich zu Nutze macht, dass Hydroxylradikale UV-Licht bestimmter Wellenlängen auf charakteristische Weise absorbieren und als Fluoreszenz wieder abstrahlen. Dabei führen die Wissenschaftler Luft durch ein kleines Loch in ein Analysegerät und beschießen sie dort mit einem Laser, der auf eine dieser Absorptionen abgestimmt ist. Der Trick liegt im Timing. »Die Lichtstreuung an den Luftmolekülen würde die Fluoreszenz des Hydroxylradikals millionenfach überlagern. Daher verwenden wir einen Detektor, den wir sehr schnell ein- und ausschalten können«, erläutert Brune. »Wir schalten ihn während des Laserpulses aus, warten 100 Nanosekunden und schalten ihn dann wieder ein, um den letzten Teil der Hydroxylfluoreszenz zu erfassen.«
Heute verstehen Fachleute recht gut, wo in der Atmosphäre sich Hydroxylradikale bilden. »Ich habe atmosphärische Hydroxylkonzentrationen in 16 Flugzeugeinsätzen und wahrscheinlich zwei Dutzend Missionen von Türmen aus untersucht, über Städten, Wäldern, Wüsten und ländlichen Gebieten. In vielen Umgebungen wissen wir ziemlich genau, wie sich der Stoff verhält«, resümiert der Experte.
Basierend auf diesem Verständnis war der Mittelpunkt eines Blitzschlags nicht gerade der Ort, an dem die Forscher das spezielle Molekül erwarteten. Wie Brune erklärt, würde das Radikal die extreme Hitze schlicht nicht überleben: »Jedes OH-Radikal würde innerhalb von Mikrosekunden verbraucht. Es könnte nicht nach draußen gelangen und etwas bewirken. Es ist verschwunden, bevor wir es nachweisen können.«
Dagegen erwarteten die Fachleute eine indirekte Hydroxylproduktion durch die Kaskade von Reaktionen, die einsetzt, nachdem sich durch den Blitz NO gebildet hat. Und doch zeigte das Messinstrument zur laserinduzierten Fluoreszenz an Bord des Flugzeugs in der Feldkampagne immer wieder unerklärliche Spitzen an Hydroxyl an – um Größenordnungen höher als alle bisher beobachteten Mengen von Hydroxylradikalen in der Atmosphäre.
»Nach einem Flug sprach ich immer mit meinen Kollegen im hinteren Teil des Flugzeugs, die unsere Instrumente bedienten«, erzählt Brune. Sie berichteten von ihren Beobachtungen: »Wir haben diese riesigen OH-Signale gesehen, als wir in den Wolken waren, und wir wissen nicht wirklich, was sie bedeuten.« Zu der Zeit konzentrierte sich das Team jedoch auf die Hauptmessaufgaben der Mission und wollte die seltsamen Hydroxylergebnisse daher später untersuchen. »Aber wir haben sie uns nie wieder angesehen – bis vor ein paar Jahren, als ich im Sommer aus einer Laune heraus einen Blick darauf warf. Ich verwendete einige neue Analysetechniken, die wir entwickelt hatten, sah mir die Signale an und dachte: »Oha, die sind echt!«
Brune glich die Zeitpunkte der Hydroxylspitzen mit Daten eines US-weiten Netzwerks ab und konnte einige davon eindeutig mit Blitzen in Verbindung bringen. Manche Spitzen folgten wiederum unmittelbar auf Blitze, die auf den Aufnahmen der vorderen Bordkamera des Flugzeugs zu sehen waren. Etwa ein Drittel der detektierten Hydroxylspitzen konnte der Forscher aber nicht mit einem Blitz in Zusammenhang bringen.
Um die Beobachtungen zu verstehen, gingen die Wissenschaftler also zurück ins Labor und generierten dort künstliche Blitze. »Wir sahen, dass wir auf diese Weise mit Funken und Ähnlichem viele OH-Radikale herstellen konnten«, erzählt Brune. Eine entscheidende Entdeckung: Wenn die Blitzanlage so weit heruntergeregelt war, dass kein sichtbarer Funke entstand, wiesen sie sehr viele OH-Radikale nach.
Die Fachleute folgerten daraus, dass sich die detektierten OH-Radikale in einem Bereich um den Funken herum bilden, und zwar durch Entladungen, die nicht heiß sind. »In diesen Entladungen außerhalb des heißen Blitzkanals ist genügend Energie vorhanden, um Wassermoleküle aufzuspalten. Das sind die Hydroxylteilchen, die wir sehen«, resümiert Brune. »Man kann sich leicht vorstellen, dass in den Wolken an vielen Stellen alle möglichen Arten von Ladungstrennungen und kleinen Entladungen stattfinden. Eine ganze Reihe von ihnen muss die OH-Spezies produzieren.«
Unsichtbare Blitze
Legt man die Messungen des Teams zu Grunde, so könnten unsichtbare Blitze bis zu 16 Prozent des globalen atmosphärischen Hydroxylgehalts erzeugen. Das sei ein sehr interessantes Beobachtungsergebnis, sagt Francisco Gordillo-Vázquez vom Instituto de Astrofísica de Andalucía in Spanien. Er führt in seinem Labor derzeit Experimente durch, um die Ergebnisse von Brunes Team zu reproduzieren. »Bislang ging man davon aus, dass diese Oxidantien indirekt über die Bildung von NO entstehen. Dass sie sich direkt bilden, verändert jetzt die Perspektive.«
Die nicht sichtbaren Blitze sind nur eines von mehreren kürzlich entdeckten elektrischen Phänomenen, die in und um Gewitter herum entstehen und die Zusammensetzung der Atmosphäre beeinflussen. Bereits in den 1920er Jahren hatte der schottische Nobelpreisträger Charles Wilson spekuliert, dass hoch oben in der Atmosphäre, wo die Luft weniger dicht ist und ein lokales elektrisches Feld leichter zusammenbrechen kann, leuchtende elektrische Entladungen auftreten können. Man nennt sie Sprites, nach dem englischen Wort für Kobold. Doch erst 1989 wurden zwei Sprites zufällig über einem großen Gewitter im Mittleren Westen der USA aufgezeichnet.
Später zeigte sich, dass Sprites mitunter bis in gut 90 Kilometer Höhe reichen, bis an die Basis der Ionosphäre. Laut Gordillo-Vázquez lassen sich die Entladungen in der oberen Atmosphäre als der fehlende Teil im globalen Stromkreis betrachten, der die Troposphäre mit der Ionosphäre verbindet.
Erklären solche transienten leuchtenden Ereignisse in der oberen Atmosphäre (TLEs) möglicherweise eine andere rätselhafte Beobachtung der Atmosphärenchemie? »Seit den späten 1960er Jahren gibt es von Zeit zu Zeit Berichte, dass in der Nähe von Gewittern plötzlich die Ozonkonzentration steigt«, sagt der Forscher. Die gemeldeten Beobachtungen passten nicht mit dem Wissen zusammen, wonach das Gas indirekt über das vom Blitz erzeugte NO und die darauf folgenden chemischen Reaktionen entsteht. »Man spekulierte, dass die erhöhten Ozonwerte auf die Blitze selbst zurückzuführen sein könnten.«
Normale Blitze produzieren nicht direkt signifikante Mengen an Ozon. Aber könnten die hohen Ozonkonzentrationen in den beobachteten Bereichen eine unmittelbare Folge der seltsamen Leuchtphänomene sein? Während ein Blitz eine sehr heiße elektrische Entladung ist, wird die Energie im starken elektrischen Feld eines TLE kalt abgegeben. »Das ist der Schlüssel zum Verständnis ihrer chemischen Persönlichkeit«, davon ist Gordillo-Vázquez überzeugt. Im Labor produzieren solche kalten »Koronaentladungen« (siehe Glossar) direkt erhebliche Mengen an Ozon und Lachgas (N2O). Letzteres gilt als das drittwichtigste Treibhausgas nach CO2 und Methan.
Heute ist es möglich, TLEs aus der Luft zu beobachten. Dadurch ist es wesentlich einfacher geworden, sie zu untersuchen. Die Forschungsgruppe des Atmosphärenwissenschaftlers ist an einer Weltraummission namens Atmosphere Space Interaction Monitor (ASIM) beteiligt, einem Instrumentarium, das seit April 2018 auf der Internationalen Raumstation installiert ist. Wie sich erwiesen hat, erkennt ASIM leuchtende Koronaentladungen in Gewitterwolken sehr gut. »ASIM hat es uns zum ersten Mal ermöglicht, die Art der in Gewitterwolken auftretenden Koronaentladungen zu verstehen und aufzuzeichnen, wo und wie häufig sie vorkommen«, ordnet der Forscher das Projekt ein.
Mit ASIM lässt sich zwar nicht messen, welche chemischen Stoffe bei den kalten atmosphärischen Entladungen erzeugt werden. Doch es hat gezeigt, dass die fremdartig wirkenden elektrischen Ereignisse weit verbreitet sind. Daher könnten sie eine bedeutende natürliche Quelle für Treibhausgase darstellen, wenn ihre Chemie jener der im Labor erzeugten Koronaentladungen entspricht. Die Frage, wie wichtig dieser Beitrag zum chemischen Haushalt solcher Gase in der Atmosphäre ist, muss man laut Gordillo-Vázquez allerdings erst noch klären. Eine neue Generation von Satelliten zur Überwachung der Luftqualität soll sich bald auf den Weg in eine geostationäre Umlaufbahn über den USA, Europa und Asien machen. Die Daten aus ihren Messungen könnten das Puzzle vervollständigen.
Mehr Daten würden Brune ebenfalls dabei helfen, seine Schätzungen über die globale Bedeutung der Hydroxylproduktion durch unsichtbare Blitze zu präzisieren. »Wir haben sieben Gewitterambosse durchflogen, mehr Daten haben wir nicht«, sagt er. »Wenn man das Ganze richtig angehen wollte, müsste man die Flüge mit einem Flugzeug wiederholen, das viel mehr Instrumente an Bord hat, um elektrische Felder, Ladungen und Ladungstrennungen zu messen.« Außerdem sollte man weitere Gewitter untersuchen, auch tropische, in denen die meisten Blitze auftreten. »Das ist möglich, aber diese Mission muss leider warten.«
Wirklich lohnen würde es sich Mary Barths Ansicht nach, die neuen Instrumente in eines der Flugzeuge einzubauen, die direkt in ein Gewitter hineinfliegen können, nicht nur drumherum. »Die meiste Zeit sehen wir uns die Substanzen in der Luft vor und nach dem Gewitter an. Darüber, was dazwischen passiert, muss man seine eigenen Schlüsse ziehen«, sagt sie und ergänzt: »Ich würde gern etwas über die chemische Zusammensetzung im Inneren des Gewitters erfahren, und zwar durch eine Feldkampagne mit einem Flugzeug, das direkt durch den Sturm fliegt.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.