Genevolution: Gene können schrittweise unersetzlich werden
Essenzielle Gene – also Erbgutabschnitte, ohne die eine Spezies nicht leben kann – taugen auf den ersten Blick nicht als Spielmaterial der Evolution: Sie sollten evolutionsgeschichtlich alt und seit langer Zeit kaum verändert sein, weil schließlich jede Veränderung des Gens tödliche Folgen haben kann. Trotzdem finden Forscher aber immer wieder essenzielle Gene, die erst vor kurzer Zeit entstanden sind, ja oft sogar lange nach der Entstehung der Spezies, die sie trägt. Harmit Malik vom Howard Hughes Medical Institute in Seattle und ein Team, zu dem auch Forscher der LMU in München gehören, haben dieses Paradoxon nun am Modellorganismus Taufliege untersucht. Die Studie zeigt, auf welchen Wegen ein junges Gen lebenswichtige Funktionen erwerben kann.
Die Wissenschaftler konzentrierten sich auf das Gen Umbrea der Taufliege Drosophila melanogaster: Es produziert ein Protein, dessen Rolle entscheidend für die Trennung der Chromosomen bei der Zellteilung ist. Wird Umbrea gentechnisch ausgeschaltet, so stirbt das Tier stets, bevor es zur erwachsenen Fliege heranwachsen kann. Genetische Berechnungen belegen, dass das Gen erst vor 15 Millionen Jahren entstanden ist – lange nachdem die Fliegen sich entwickelt haben. Wie verlief die Zellteilung also vor Umbrea ordnungsgemäß? Hat das Gen die essenzielle Aufgabe eines anderen nahtlos ersetzt – oder wie verlief die Übergangsphase?
Mutation im Logistikzentrum – tödlich oder möglich?
Die Genanalysen und gentechnische Nachbauten verschieden evolvierter Umbrea-Enzymvarianten des Teams zeigen, dass das heutige Umbrea seine Funktion offenbar in mehreren Schritten übernahm. Zunächst verlor es dabei seine ursprüngliche Aufgabe als Sortierenzym des Heterochromatins, also des Erbgutgerüstes im Zellkern: Die ältesten Veränderungen sorgten dafür, dass eine Untereinheit des ursprünglichen Umbrea-Enzyms nicht mehr gebaut wurde, was das Andocken an das Chromatin beeinträchtigt. Das ursprüngliche Enzym war allerdings nicht lebenswichtig und bekam so weitere Freiheiten, sich zu verändern.
Eine andere zufällige Veränderung sorgte nun dafür, dass das Enzym sich vor allem an die Centromerregion von Chromosomen bindet. Außerdem veränderten sich die flankierenden Bereiche um diese Region so, dass speziell die Centromere von D. melanogaster, nicht aber von nahe verwandten Fruchtfliegen erkannt werden. Erst diese letzten Veränderungen übertrugen dem Enzym die lebenswichtige Funktion bei der Zellteilung.
Unklar ist allerdings, warum dies eigentlich nötig wurde. Womöglich, vermuten die Forscher, kontert ein verfügbarer Pool unterschiedlicher centromerbindender Proteine wie das von Umbrea kodierte den raschen mutationsbedingten Wandel, der bei den Centomerproteinen selbst zu beobachten ist – also den Andockstellen der verschiedenen Varianten. Tatsächlich ist Umbrea selbst nur für D. melanogaster, nicht aber für ihre Verwandten überlebenswichtig: Diese trennen die Chromosomen bei der Zellteilung mit anderen Proteinen, die womöglich konvergent zum D.-melanogaster-Protein ihre eigene artspezifische Evolution durchlaufen haben.
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