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Minimalzelle: Auch mit wenig Erbgut gelingt Evolution

Ein künstliches Bakterium, dem fast die Hälfte der Gene entfernt wurden, kann sich trotzdem weiterentwickeln – wenn man ihm genügend Zeit gibt. Das zeigt, wie robust Leben ist.
Minimalzelle Mycoplasma mycoides
Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Clusters von Minimalzellen, 15 000-fach vergrößert. Jede Zelle enthält weniger als 500 Gene.

Leben findet immer einen Weg. Diese simple Schlussfolgerung lässt sich aus der sechsjährigen Forschungsarbeit eines Teams um Roy Moger-Reischer von der Indiana University Bloomington ziehen. Die Forscherinnen und Forscher hatten untersucht, ob eine so genannte Minimalzelle, die nur die absolut lebensnotwendigen Gene besitzt, noch in der Lage ist, sich flexibel an ihre Umgebung anzupassen und zu evolvieren. Die Antwort lautet: Ja, ist sie. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin »Nature« publiziert.

Für die Studie verwendete das Team das Bakterium Mycoplasma mycoides, das parasitär in Eingeweiden von Wiederkäuern wie Ziegen vorkommt. Es stellte eine in der Wissenschaft bereits bekannte Variante des Bakteriums mit dem Namen JCVI-syn3B her, die nur 493 Gene besitzt und somit das kleinste Genom eines sich selbst replizierenden Organismus aufweist. Zum Vergleich: Das beim Menschen vorkommende Darmbakterium Escherichia coli hat mehr als 4000 Gene, viele Tiere und Pflanzen sogar mehr als 20 000. Die Forschenden überließen die Minimalzellen im Labor 300 Tage sich selbst, was etwa 2000 Bakteriengenerationen oder rund 40 000 Jahren menschlicher Evolution entspricht.

Theoretisch könnte die extreme Genreduktion nun bedeuten, dass jede Mutation zu einer – möglicherweise tödlichen – Störung einer oder mehrerer Zellfunktionen führt. Die Möglichkeiten zur flexiblen Anpassung sind zudem extrem eingeschränkt, da es weniger Ziele im Genom gibt, auf die eine positive Selektion einwirken kann.

Doch stattdessen beobachteten die Forscher nahezu das Gegenteil. Sie stellten fest, dass JCVI-syn3B tatsächlich eine außergewöhnlich hohe Mutationsrate aufweist. Im Vergleich zum ursprünglichen M.-mycoides-Stamm entwickelte sich der neue Stamm 39 Prozent schneller und gewann die gesamte Fitness zurück, die er verloren hatte, als die Forscher viele seiner Gene künstlich entfernten: Als die Evolutionsbiologen die evolvierten Zellen mit »frischen« Minimalzellen zusammenbrachten, übernahmen die weiterentwickelten Bakterien die Kontrolle und verdrängten die neuen Zellen. Sie hatten sich mittlerweile an ihre Umgebung angepasst.

Anders als der Wildtyp nahmen die genreduzierten Zellen über die 300 Tage jedoch kaum an Umfang zu. Die Forscher vermuten, dass dies daran liegen könnte, dass gut die Hälfte der Membranproteine entfernt wurden. So fehlten der Zelle wohl die Ressourcen, um ihr Volumen zu vergrößern.

Noch sind viele Fragen offen, etwa welche Gene sich entwickelt haben und warum. Doch die Ergebnisse zeigen, dass die natürliche Auslese stark genug ist, um selbst die einfachsten einzelligen Organismen zu optimieren. »Das Leben scheint robuster zu sein, als man gemeinhin denkt«, sagte Jay T. Lennon, Koautor der Studie und Professor an der Biologischen Fakultät der Indiana University, laut einer Pressemitteilung. »Wir können die Zelle auf das Wesentliche reduzieren, aber das hindert die Evolution nicht daran, ihre Arbeit zu tun. Leben findet einen Weg.«

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