Tierpersönlichkeit: Draufgänger oder Angsthase?
Haben Sie oft Streit mit anderen? Sind Sie erfinderisch? Launisch? Selbstsicher? Mit Hilfe solcher Fragen schätzen Psychologinnen und Psychologen die Persönlichkeit ein (siehe »Big Five Inventory«). Persönlichkeitsforschung ist schon bei Menschen eine komplexe Angelegenheit. Das gilt umso mehr bei Tieren, die man nicht mit ausgetüftelten Fragebogen konfrontieren kann. Doch auch hier lohnt es sich, die individuellen Unterschiede genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn das führt häufig zu erstaunlichen Ergebnissen.
Verträgliche Affen leben länger
So kann man die »Big Five« der menschlichen Persönlichkeit in ganz ähnlicher Form bei Schimpansen finden. Bei ihnen gibt es verträgliche Zeitgenossen, die gut mit anderen klarkommen, gern kooperieren und selten aggressiv werden. Genauso gibt es aber Unruhestifter und Streithähne, für die all das nicht gilt. Wie ein bestimmtes Tier diesbezüglich tickt, lässt sich durch eine genaue Analyse seines Verhaltens einschätzen. Bei Affen, die in menschlicher Obhut leben, sind da oft Tierpfleger und andere Betreuer gefragt. Sie füllen für ihre Schützlinge spezielle Fragebogen aus, in denen Wesenszüge mit bestimmten Verhaltensweisen in Verbindung gebracht werden. Wie ängstlich ein Tier ist, machen sie zum Beispiel daran fest, ob es bei echten oder eingebildeten Bedrohungen schreit, Grimassen zieht oder die Flucht ergreift.
Auf diese Weise hat eine Gruppe um Drew Altschul von der University of Edinburgh 2018 die individuellen Eigenheiten von mehr als 500 Zooschimpansen erfasst. Dabei stellte sich heraus, dass auch in Affenkreisen bestimmte Typen klar im Vorteil sind: Männchen, die gut mit anderen Artgenossen zurechtkommen, haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als ihre weniger umgänglichen Kollegen – und damit bessere Chancen, Nachwuchs in die Welt zu setzen. So könnte sich in der Evolution sowohl bei Schimpansen wie bei Menschen die Entwicklung von verträglichen Persönlichkeiten durchgesetzt haben, vermutet das Team.
Das muss allerdings nicht heißen, dass die Eigenbrötler immer im Nachteil sind. Denn sie können ebenfalls enge Freundschaften schließen, wie eine Studie des Deutschen Primatenzentrums und der Universität Göttingen zeigt: In einem Reservat in Thailand beobachtete das Team um Anja Ebenau und Oliver Schülke frei lebende männliche Assam-Makaken. Mit Fragebogen aus der Humanpsychologie und detaillierten Verhaltensprotokollen ließen sich auch bei ihnen individuelle Persönlichkeiten ausmachen, die sich in Sachen Geselligkeit und Aggressivität, Freundlichkeit, Wachsamkeit und Selbstvertrauen unterschieden.
Dabei scheinen die Tiere selbst gut einschätzen zu können, wie andere Artgenossen ticken. Männerfreundschaften entstehen jedenfalls bevorzugt zwischen Affen, die in puncto Geselligkeit ähnlich gestrickt sind. Zwei kontaktfreudige Männchen können dabei ähnlich enge Beziehungen eingehen wie zwei Einzelgänger. Das Motto »Gleich und Gleich gesellt sich gern« scheint sich also bei Makaken zu bestätigen.
Gleich und Gleich gesellt sich gern
»Wir gehen davon aus, dass es sich dabei um ein generelles biologisches Prinzip handelt, das tief in der Evolution von Menschen und Tieren verankert ist«, sagt Studienleiter Oliver Schülke. Offenbar ist es von Vorteil, wenn der Kumpel einen ähnlichen Charakter hat wie man selbst. »Ein Grund könnte sein, dass ähnliche Persönlichkeiten ähnliche Bedürfnisse haben, sich besonders gut verstehen, effektiv kommunizieren und damit erfolgreiche Kooperationspartner sind«, erklärt der Biologe.
Wichtig sollte das vor allem bei einem der anspruchsvollsten Gemeinschaftsprojekte überhaupt sein, das Tiere in Angriff nehmen: der gemeinsamen Aufzucht des Nachwuchses. Klappt das besser, wenn Vater und Mutter ähnliche Persönlichkeiten haben? In einer Studie an südamerikanischen Weißbüschelaffen war erstaunlicherweise kein Hinweis darauf zu finden. Möglicherweise lag das daran, dass hier die Elternpaare nicht auf sich allein gestellt sind. Sie erhalten Hilfe von anderen Gruppenmitgliedern, die sich aktiv an der Jungenaufzucht beteiligen.
Trotzdem spielt die Persönlichkeit beim Fortpflanzungserfolg dieser Primaten eine wichtige Rolle. So hat die Forschungsgruppe um Michaela Masilkova von der Südböhmischen Universität Budweis in Tschechien herausgefunden, dass bei verträglicheren Weibchen weniger Zeit zwischen den Schwangerschaften vergeht. Offensichtlich werden sie meist bei der ersten sich bietenden Gelegenheit trächtig.
Neugierige und aktive Weibchen haben zudem insgesamt mehr Nachwuchs. Vielleicht deshalb, weil sie leichter ein gutes Territorium und ergiebige Futterquellen finden und darum besser genährt sind als ihre vorsichtigeren Artgenossinnen. Dadurch können sie sich eventuell einfach mehr Junge leisten. Es ist jedoch auch möglich, dass sie sich mehr für ihren Nachwuchs interessieren und ihn intensiver betreuen, spekulieren die Studienautoren.
Mut ist gefährlich
Klar ist jedenfalls, dass die Persönlichkeit einen wichtigen Einfluss auf den Alltag, das Familienleben und den Erfolg von Primaten hat. Wie aber sieht das bei Tieren aus, die nicht zur näheren Verwandtschaft des Menschen gehören? Hier kam ebenfalls eine Fülle individueller Verhaltensunterschiede ans Licht. Auf der Liste der tierischen Persönlichkeiten finden sich mittlerweile alle möglichen Arten, von Klapperschlangen bis zu Pfeilgiftfröschen. Und sogar Fische besitzen nicht nur in dem bekannten Animationsfilm »Findet Nemo« ganz verschiedene Charaktere.
Einer der Hauptfiguren dieses Films ist der ängstliche Clownfischvater Marlin, der überall Gefahr wittert. Sein Sohn Nemo dagegen ist eher unternehmungslustig – und das hat Folgen. Bei einer Mutprobe wagt er sich zu nah an ein Boot heran und wird prompt gefangen. Wer wissen will, wie viel Wahrheit in dieser Geschichte steckt, sollte sich mit Robert Arlinghaus von dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und der Humboldt-Universität zu Berlin unterhalten. Er und sein Team erforschen die Persönlichkeit von Fischen – und stoßen dabei tatsächlich auf Angsthasen und Draufgänger. Manche Artgenossen sind zudem aktiver, aggressiver oder entdeckungsfreudiger als andere. Und neben den sozial eingestellten Tieren schwimmen die Eigenbrötler.
Wer einmal seine Persönlichkeit einschätzen möchte, kann das auf der Website des Wilhelm-Wundt-Instituts für Psychologie der Universität Leipzig ausprobieren. Dort findet sich die deutsche Übersetzung eines Fragebogens, der häufig in der Persönlichkeitsforschung eingesetzt wird.
Dieses »Big Five Inventory« konfrontiert einen mit 60 Aussagen über sich selbst, die es in fünf Stufen von »stimme voll zu« bis »stimme gar nicht zu« einzusortieren gilt. Anhand der Antworten kristallisieren sich dann verschiedene Facetten der eigenen Persönlichkeit heraus. So erfährt man zum Beispiel, wie extravertiert man im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung ist. Wer hier einen hohen Wert erreicht, ist gesellig, durchsetzungsfähig und aktiv, während sich introvertiertere Menschen lieber zurückhalten. Nach dem gleichen Prinzip lassen sich die eigene Verträglichkeit, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität einschätzen. Und neben diesen fünf zentralen Kategorien, den »Big Five«, erfasst der Fragebogen noch eine Reihe spezifischerer Eigenschaften.
Aber wie lässt sich herausfinden, welchen Charakter so ein Schuppenträger hat? »Es gibt dafür verschiedene Standardtests«, sagt Arlinghaus. Mit seinem Team hat er beispielsweise den Mut von Karpfen untersucht, denen dabei ein sicherer Unterschlupf und zwei Futterstellen zur Verfügung standen. Letztere konnten sie allerdings nur erreichen, wenn sie eine freie Fläche überquerten, auf der sie möglichen Feinden schutzlos ausgeliefert waren. »Die Risikobereitschaft eines Tieres zeigt sich bei diesem Versuch darin, wie viel Zeit es außerhalb seines Verstecks verbringt und wie oft es die Futterstellen aufsucht«, erklärt der IGB-Forscher.
Das Ergebnis hängt jedoch nicht nur von der Persönlichkeit, sondern auch von den äußeren Umständen ab. Das haben Arlinghaus und sein Kollege Thomas Klefoth von der Hochschule Bremen herausgefunden, als sie das gleiche Experiment in einem naturnahen Teich und in einem ähnlich großen künstlichen Becken in einer Halle durchführten. Die Testfische gehörten zu zwei Karpfenrassen mit unterschiedlichem Temperament: Schuppenkarpfen gelten als vorsichtige Bedenkenträger, während die hochgezüchteten Spiegelkarpfen eher das dreistere Verhalten von Haustieren an den Tag legen.
Im Versuchsteich zeigten sich diese Unterschiede sehr deutlich: Die mutigen Spiegelkarpfen steuerten die ungeschützten Futterstellen sehr viel häufiger an als die scheuen Schuppenkarpfen, die lieber so lange wie möglich in ihrem Versteck blieben. Im Aquarium aber schien es plötzlich gar keine schwimmenden Angsthasen mehr zu geben. Wo kein Reiherschnabel lauert und das Wasser nicht einmal den Geruch von Raubfischen enthält, wirft offenbar auch der schüchternste Schuppenkarpfen seine Zurückhaltung über Bord. Als die Forscher immer wieder Fische mit einer kleinen Angel aus dem Becken holten und anschließend vorsichtig wieder zurücksetzten, fielen die Tiere jedoch in ihre typischen Verhaltensmuster zurück. »Erst die latente Bedrohung durch die Angel brachte ihr wahres Gesicht zum Vorschein«, erläutert Arlinghaus.
Angeln und Netze gibt es heutzutage in vielen Seen, Flüssen und Meeresgebieten. Beeinflusst die Fischerei also die Persönlichkeitsentwicklung, weil sie bestimmte Verhaltensweisen belohnt und andere bestraft? Computermodelle zeigen, dass die Erfahrungen von Clownfisch Nemo durchaus einen wahren Hintergrund haben: Mobilere Tiere mit mehr Erkundungsdrang werden eher geangelt, zurück bleiben vor allem die scheuen und wenig entdeckungsfreudigen Exemplare. Und das gilt nicht nur für virtuelle Fische. Auch in der Realität haben Robert Arlinghaus und sein Team solche Effekte schon nachgewiesen. Bei Hechten zum Beispiel fördert die Fischerei kleine, eher inaktive und scheue Tiere, die schwer zu fangen sind.
»Tatsächlich kenne ich keine Tierart, bei der sich Artgenossen nicht individuell in ihrem Verhalten unterscheiden«Robert Arlinghaus, Fischereiwissenschaftler
Das liefert einen Hinweis darauf, wie unterschiedliche Tierpersönlichkeiten im Lauf der Evolution entstanden sein könnten. Generell scheinen Feinde und Konkurrenten, schwankende Umweltfaktoren und andere Herausforderungen die Ausbildung von verschiedenen Charakteren zu begünstigen. Ist die Lage entspannt, kann man sich schließlich mit diversen Verhaltensweisen irgendwie durchmogeln. Doch wenn es ernst wird und vielleicht sogar um Leben und Tod geht, ist Konsequenz gefragt: Man ist entweder vorsichtig und geht auf Tauchstation – oder man schlägt alle Bedenken in den Wind und nutzt jede Gelegenheit zum Fressen. Ein Patentrezept für Erfolg gibt es dabei nicht.
Je nach Situation kann mal der eine Verhaltenstyp im Vorteil sein und mal der andere. Wer zum Beispiel aktiver und mutiger ist, lebt wahrscheinlich gefährlicher. Dafür bekommt er mehr Nahrung. Lauern kaum Feinde in seinem Lebensraum, hat er vermutlich bessere Karten als seine vorsichtigeren Konkurrenten. In einer riskanteren Umgebung dagegen zieht er wohl eher den Kürzeren. Für das Überleben der gesamten Art dürfte es demnach von Vorteil sein, sowohl Angsthasen als auch Draufgänger in ihren Reihen zu haben.
Individualisten auf sechs Beinen
Haben nur besonders hoch entwickelte Lebewesen verschiedene Persönlichkeiten? »Tatsächlich kenne ich keine Tierart, bei der sich Artgenossen nicht individuell in ihrem Verhalten unterscheiden«, sagt Arlinghaus. Allem Anschein nach ist es eine Kombination aus Genetik und Umwelteinflüssen, die diese Vielfalt hervorbringt. Und je genauer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen hinschauen, umso mehr Beispiele finden sie. Sogar unter kleinen und unscheinbaren Insekten.
Letztere sind erst vor gut zehn Jahren in den Blick der Persönlichkeitsforschung gerückt. Vorher hatte niemand so recht auf dem Schirm gehabt, was für unterschiedliche Charaktere da durch die Gegend krabbeln, flattern oder surren. »Systematisch untersucht wurde das zum ersten Mal an Wanzen und Blattläusen«, erinnert sich Caroline Müller von der Universität Bielefeld. Wenn man nach Individualisten in der Tierwelt fahndet, sind das für viele Menschen nicht unbedingt die naheliegendsten Kandidaten.
Das Gleiche gilt für den nur wenige Millimeter großen, metallisch glänzenden Meerrettichblattkäfer, dessen Verhalten Müller und ihr Team seit 2013 untersuchen. Bis heute erntet die Biologin teils skeptische, teils amüsierte Blicke, wenn sie von Persönlichkeitstests für Käfer erzählt. Doch die Ergebnisse ihrer Studien sprechen für sich.
Wie risikofreudig so ein Insekt ist, lässt sich zum Beispiel mit einer ursprünglich für Wirbeltiere entwickelten Mutprobe untersuchen: »Man setzt die Käfer in eine offene Arena und misst die Zeit, bis sie am Rand Schutz suchen«, erklärt die Forscherin. Tiere, die das lange hinauszögern, gelten als besonders mutig. Das gilt auch für Artgenossen, die sich aus einem dunklen Versteck rasch wieder ans Licht wagen. Oder die sich nach einem simulierten Angriff nicht lange tot stellen, sondern schnell wieder auf die Beine kommen. »Wir waren anfangs selbst überrascht, wie konsistent sich die Käfer in diesen Versuchen verhielten«, resümiert Müller. Wer sich in einem Test mutig zeigte, tat das ebenso in anderen. Und das Muster blieb über längere Zeit erhalten. Genau diese beiden Voraussetzungen müssen in den Augen der Forscherin erfüllt sein, um einem Tier eine Persönlichkeit zusprechen zu können.
Welche das im Einzelfall ist, hängt auch bei Insekten nicht allein von der Genetik ab. Das haben Martin Tremmel und Caroline Müller herausgefunden, als sie ihre Käfer verschiedenen Umweltbedingungen aussetzten. Tiere, die sich mit wenig Nahrung begnügen mussten, zeigten sich beispielsweise mutiger als Artgenossen, die im kulinarischen Schlaraffenland lebten. »Erstere haben wahrscheinlich nichts zu verlieren«, liefert Müller eine mögliche Erklärung. »Sie müssen größere Risiken eingehen, um überhaupt genug Futter zu finden.«
In anderen Versuchen hat die Biologin zusammen mit ihrem Kollegen Thorben Müller untersucht, wie sich das soziale Umfeld auf die Persönlichkeit der Käfer auswirkt. Insekten, die in Gruppen aufwuchsen, zeigten sich später nicht so mutig wie einzeln aufgezogene Artgenossen. Möglicherweise können sie sich zu viel Dreistigkeit nicht erlauben, weil die anderen Gruppenmitglieder sie in die Schranken verweisen.
»Wir waren anfangs selbst überrascht, wie konsistent sich die Käfer in diesen Versuchen verhielten«Caroline Müller, Ökologin
Doch nicht nur die eigenen Artgenossen können die Persönlichkeit von Insekten beeinflussen. Auch der Mensch funkt ihnen mitunter dazwischen. Wenn er ihre Lebensräume zerstört und voneinander isoliert, zwingt er sie zum Beispiel oft zu einer ungünstigen Partnerwahl: Tiere, die in ihrem Refugium isoliert wie auf einer Insel leben und keinen Kontakt nach außen haben, müssen sich wohl oder übel mit Verwandten paaren. Diese Inzucht kann zu Krankheiten führen, lässt Meerrettichblattkäfer jedoch auch eher unvorsichtig werden. Ähnlich wie ihre hungrigen Artgenossen haben sie offenbar wenig zu verlieren, weil sie sich wegen ihrer Gesundheitsprobleme ohnehin schlechter fortpflanzen können.
Neben dem Mut scheinen sich durch die Aktivitäten des Menschen weitere Facetten der Käferpersönlichkeit zu verändern. »Wir haben beispielsweise festgestellt, dass Weibchen unter dem Einfluss von Pestiziden aggressiver werden«, berichtet Caroline Müller. Das liegt vermutlich an Veränderungen im Stoffwechsel und im Nervensystem. Wenn die krabbelnden Unruhestifterinnen einen Fragebogen ausfüllen könnten, müssten sie die Frage »Haben Sie oft Streit mit anderen?« wohl mit Ja beantworten.
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