Materialwissenschaft: Auf dem Weg zum ultimativen Schalter
Welch eine Idee! Man nehme eine elektrische Spannung und verwandle damit einen Isolator in ein Metall und wieder zurück – das ganze superschnell und noch dazu ohne nennenswerten Energieverlust. Schon im frühen 20. Jahrhundert kamen Forscher auf dieses Konzept eines "ultimativen Schalters". Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Versuche, den Widerstand eines Materials zu ändern, indem man mobile Ladungen hinzufügt oder entfernt.
Solche Ladungen werden durch ein elektrisches Feld erzeugt. Es entsteht, wenn man über dem eigentlichen Stromleiter an einer Elektrode – der so genannten Gatter- oder Gate-Elektrode – eine Spannung anlegt. Bereits 1925 wurde ein entsprechendes Patent für Vorrichtungen eingereicht, mit denen sich der elektrische Widerstand eines leitfähigen Materials ändern ließ [1]. Heute kennt man sie unter dem Namen Feldeffekttransistoren.
Schickt man in einem solchen Feldeffekttransistor eine einzelne Elementarladung durch die Gate-Elektrode, erhöht sich die Dichte mobiler Ladungsträger im leitfähigen Kanal genau um den Wert eins – und teils sogar um noch weniger, weil einige der Ladungsträger an Materialdefekten kleben bleiben. Trotzdem bildet diese Art des Schaltens mit Hilfe elektrischer Felder die Grundlage nahezu aller elektronischer Geräte, die heutzutage in Gebrauch sind. Ja, man könnte sagen, sie sei das Rückgrat unserer Informationsgesellschaft. Darüber hinaus sind solche Schaltvorgänge interessant für die Grundlagenforschung, weil eine Veränderung der Elektronendichte viel über ein gegebenes Material verrät [2].
Bis heute haben diese Schaltvorgänge allerdings einen entscheidenden Haken. Alle Vorgänge finden lediglich in einer dünnen Schicht auf der Oberfläche statt und nicht im Hauptteil des Materials. Es ist wie bei einem Sportwagen, bei dem man, sobald man das Gaspedal durchtreten will, auf einen Widerstand trifft.
Mehr noch: Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, kann man bislang nur bei Halbleitern die Leitfähigkeit mit elektrischen Felder beeinflussen – der viel wünschenswertere Fall, dass aus einem echten Isolator ein echter metallischer Leiter wird oder umgekehrt, war bislang nicht in Sicht.
Auftritt Masaki Nakano und Kollegen. In der aktuellen Ausgabe von "Nature" präsentiert ein Team um den Wissenschaftler vom RIKEN Advanced Science Institute in Wako nun ein Gerät nach dem Feldeffektprinzip, das den Weg zum "ultimativen Schalter" ebnen könnte [3].
Schalter vollständig umgelegt
In ihren Experimenten setzten die Forscher starke elektrische Felder ein, indem sie eine Spannung an einen Tropfen einer ionischen Flüssigkeit anlegten. Dabei handelt es sich, wie der Name verrät, um eine Flüssigkeit, die hauptsächlich aus Ionen besteht. Den Tropfen hatten sie zuvor auf einem dünnen Film aus Vanadiumdioxid (VO2) platziert. Vanadiumdioxid ist ein einzigartiges Material: Bei Raumtemperatur ist es ein Isolator, erwärmt man es jedoch auf 340 Kelvin (knapp 67 Grad Celsius), verwandelt es sich in einen metallischen Leiter. Darüber hinaus sind die Elektronen im VO2 korreliert, das heißt, das Verhalten eines Elektrons hängt stark von dem seiner Nachbarn ab.
Die Experimente von Nakano und Kollegen zeigten nun, dass sich der Isolator VO2 auch dadurch in ein Metall verwandeln lässt, dass man an die ionische Flüssigkeit eine Spannung anlegt. Zu ihrer großen Überraschung vollzog sich diese Verwandlung nicht nur in einer dünnen Schicht an der Oberfläche, sondern betraf die komplette Vanadiumdioxid-Probe – zumindest bei allen getesteten Dicken von bis zu 70 Nanometern.
Das ist in etwa so, als würde man beim Sportwagen endlich das Gaspedal voll durchtreten. Denn hinzu kommt noch, dass beim Umschalten des VO2 im Gegensatz zum herkömmlichen Feldeffekttransistor wesentlich mehr mobile Ladungsträger zur Verfügung stehen, als von außen hereingegeben werden. Der Grund dafür ist, dass sich durch die Verwandlung zuvor immobile Ladungsträger im Material befreien und in Bewegung setzen. All diese Vorgänge laufen zudem bei Zimmertemperatur ab.
Genau nachgemessen
Wie bei allen solchen Experimenten steckt der Fehlerteufel jedoch im Detail. Um wirklich sicher zu gehen, dass der Umschaltvorgang das gesamte Material betrifft, haben die Autoren der Studie drei verschiedene Messtechniken angewendet: Sowohl die Röntgendiffraktionsmethode als auch Widerstandsmessungen und Messungen mit Hilfe des Hall-Effekts bestätigten ihren Anfangsverdacht. Wie es scheint, schaltet die ionische Flüssigkeit zunächst nur die Oberfläche um und erzeugt dadurch im VO2 eine Phasengrenze zwischen metallischen und isolierenden Bereichen.
Diese Grenze scheint so energieintensiv zu sein, dass der darauf folgende Phasenübergang durch den kompletten Rest des Materials rasselt – angetrieben durch kollektive Deformationen in der Gitterstruktur des VO2. Offen bleibt dabei noch, ob das elektrische Feld, die Interaktion der geladenen Moleküle der ionischen Flüssigkeit mit der VO2-Oberfläche oder eine Kombination beider Faktoren den Umschaltprozess auslöst.
Die Versuche zeigen nicht nur, dass spannungsgesteuerte Isolator-Metall-Übergänge prinzipiell möglich sind, sondern auch, dass sie die elektronischen Eigenschaften des Materials stark verändern können. Es ist sehr gut möglich, dass man diesen Prozess eines Tages für die Entwicklung einer neuen Generation elektronischer Bauteile heranzieht. Zumal die Ladungsträgerdichte in einem solchen VO2-Kanal signifikant höher ist als in herkömmlichen FETs. Genau dies ist notwendig, will man Transistoren noch weiter verkleinern.
Nakano und Kollegen beobachteten den Übergang von Isolator zu Halbleiter – und damit von "Aus" zu "An" – in einem für technische Anwendungen realistischen Spannungs- und Temperaturbereich: Erhöhten sie die Gate-Spannung um 100 Millivolt (mV), wuchs der Stromfluss im Kanal um das Zehnfache. Das Verhältnis im Stromfluss zwischen An- und Aus-Zustand bestimmten die Forscher auf einen Wert von etwa 100. Und zumindest im Prinzip ließe sich das Gerät mit einer Gate-Spannung von 1 Volt betreiben.
Zum Vergleich: In energiesparenden Prozessoren, wie sie beispielsweise in Smartphones zum Einsatz kommen, gelten ein Verhältnis im An-/Aus-Strom von einer Million und eine Steuerungscharakteristik, die bei rund 90 mV pro Verzehnfachung des Stromflusses liegt, als wünschenswert. Die Gate-Spannung bewegt sich dabei im Bereich von 1,5 Volt.
Noch Verbesserungsbedarf
Dass sich ihr System bei nur 1 Volt betreiben lassen könnte, klingt vielversprechend für seinen Einsatz in Geräten, die mit nur wenig Energie auskommen müssen. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich sein Schaltverhalten noch optimieren lässt. Üblicherweise ist es so, dass Schaltvorgänge, die auf strukturellen Vorgängen beruhen, langsamer sind als rein elektronische. Das könnte die Schaltgeschwindigkeit des Bauteils begrenzen. Allerdings zeigt eine Rechnung: Selbst wenn sich der Phasenübergang im Material auch nur mit Schallgeschwindigkeit ausbreitet, wären langfristig Schaltzeiten von weit unter einer Nanosekunde möglich.
Die brennende Frage für künftige Anwendungen ist jedoch, ob die ionische Flüssigkeit durch einen isolierenden Feststoff ersetzt werden kann. Andernfalls ließe sich die gesamte Vorrichtung nur schwer in einen elektronischen Schaltkreis integrieren. Und dann wäre es natürlich interessant herauszufinden, bis zu welcher Dicke eine VO2-Schicht noch vollständig umgeschaltet werden kann. Wenn wir den Schaltmechanismus genauer verstehen und dazu noch einige Fortschritte in der Materialwissenschaft machen, könnte der Bau eines solchen Feststoffschalters durchaus gelingen.
Weil sich der eigentliche Schaltvorgang über einen quer durch das Material rasenden Phasenübergang zu vollziehen scheint, könnte das Anwendungsspektrum des Geräts weit über den Einsatz als herkömmlicher Transistor hinausgehen. Auch die Zahl in Frage kommender Austauschmaterialien ist riesig. Und da wir immer besser Materialeigenschaften im Voraus am Computer berechnen können, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Forscher irgendwann auf eine passende Kombination von Feststoffen stoßen, gar nicht so gering. Dann könnten wir auch auf den Leiterbahnen endlich Vollgas geben.
Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Put the pedal to the metal" in Nature 487, S. 436-437, 2012.
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