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Seuchen: Auf den Spuren alter Plagen

Archäologen stoßen immer wieder auf mittelalterliche Friedhöfe mit zahlreichen Opfern der Pest und anderer Seuchen. Die Exhumierung liefert medizinisch wertvolle Hinweise, wie sich die Krankheiten seit damals verändert haben.
Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren: Der Triumph des Todes

Der norwegische Arzt Gerhard Armauer Hansen machte dem Rätselraten ein Ende. In Gewebeproben, die er aus den Hautknötchen von sechs Leprapatienten gewonnen und in einprozentiger Säure "zerzupft" hatte, sah er 1873 unter dem Mikroskop auffällig viele stäbchenförmige Bakterien. Das Mycobacterium leprae war entdeckt und damit Bakterien zum ersten Mal als Auslöser einer menschlichen Erkrankung ausgemacht. Vorher, so drückte es Hansen einmal aus, habe es kaum etwas zwischen Himmel und Erde gegeben, das nicht als die Ursache für die Lepra angesehen worden war [1]. Der Norweger fand das verständlich, denn je weniger ein Mensch wüsste, desto stärker käme die Fantasie ins Spiel.

Doch auch heute umgibt die Krankheit in den Augen mancher Menschen etwas Geheimnisvolles. Die Furcht vor der Lepra als eine der ältesten Plagen überhaupt, hat sich tief in das Bewusstsein eingegraben. Das wird auch einer der Gründe sein, warum die Veröffentlichung mittelalterlicher Lepragenome im Fachblatt "Science" vor Kurzem eine so große öffentliche Aufmerksamkeit erregte [2]. Fast jede Zeitung oder Nachrichtensendung berichtete und Verena Schünemann und die an der Entschlüsselung beteiligte Arbeitgruppe "Paläogenetik" der Universität Tübingen hatten einen Presseansturm zu bewältigen.

Der Triumph des Todes | Das Mittelalter war auch das Zeitalter der großen Seuchen: Lepra oder die Pest töteten Millionen Menschen. Und sie inspirierten Künstler wie Pieter Bruegel d. Ä. zu Endzeitgemälden wie hier zu "Der Triumph des Todes".

"Einen wichtigen Anteil an der Faszination, die unsere Forschung ausmacht, haben sicher auch die Methoden, die wir nutzen", sagt Schünemann. Nur dank einer ausgeklügelten Technik gelingt es, aus mittelalterlichen Knochenfunden das Erbgut der Leprabakterien zu isolieren und zu analysieren, mit denen die Menschen vor 700, 800 oder gar 1000 Jahren kämpfen mussten. Bei einem Knochenfund aus einer dänischen Leprakolonie hatten die Tübinger Forscher besonderes Glück: Das Genmaterial aus dem Zahnpulver einer vor 700 Jahren verstorbenen jungen Frau enthielt zu 40 Prozent DNA von Leprabakterien. "Hier mussten wir die DNA nicht anreichern, sondern konnten direkt sequenzieren und sogar noch die ursprüngliche Genarchitektur, also die Anordnung der einzelnen Gene, erkennen", sagt Schünemann. Die Erbsubstanz des Lepraerregers ist vermutlich besonders haltbar, weil sie lange unter einer dicken, fettigen Bakterienhülle, die M. leprae eigen ist, vor äußerem Abbau geschützt war. Schünemann hofft daher, zukünftig noch ältere Lepragenome zu entschlüsseln und so möglicherweise jenen Ursprungsstamm zu identifizieren, der einst als erster den Menschen als Wirt entdeckte.

Die Zeiten unverändert überdauert

In der aktuellen Arbeit wurden aber zunächst insgesamt fünf mittelalterliche Lepragenome sequenziert und mit elf modernen Bakterienstämmen verglichen, die noch heute in Indien, Thailand, Brasilien oder den USA kursieren. Das Ergebnis ist überraschend: Die mittelalterlichen Bakterien unterscheiden sich so gut wie nicht von den modernen. "Einzelne Mutationen sind aufgetreten, aber nicht in den Genen, die den Bakterien ihre krankmachenden Eigenschaften verleihen", sagt die Tübinger Forscherin. Warum es also ab dem 16. Jahrhundert in Europa schlagartig weniger Leprafälle gab, hat nichts damit zu tun, dass die Bakterien an Virulenz einbüßten. Andere Faktoren werden daher wohl den Ausschlag gegeben haben. Diskutiert wird die Verdrängung der Lepra durch eine zunehmende Immunität in der Bevölkerung, andere Erkrankungen, die vermehrt auftraten – etwa die Pest oder Tuberkulose – oder unbekannte, womöglich soziale Einflüsse.

Einen ähnlichen Volltreffer auf den Spuren historischer Plagen landete Michaela Harbeck von der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie in München. Die Konservatorin arbeitet dort inmitten von 60 000 Pappschachteln, die die Knochenfunde des Landes Bayern von der Mittelsteinzeit bis in die Neuere Geschichte beherbergen. Einige Funde stammen von einem frühmittelalterlichen Friedhof in Aschheim, auf dem es auffällig viele Mehrfachbestattungen gab. "Werden mehrmals drei oder vier Menschen je Grab gefunden, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir die Opfer einer Infektionskrankheit vor uns haben", erklärt Harbeck.

Bei der DNA-Analyse der Aschheimer Skelettproben aus dem 6. Jahrhundert entdeckte das Münchner Team die genetischen Überreste von Yersinia pestis, dem Pestbakterium [3]. Auch dies eine aufregende Entdeckung, denn noch immer debattieren Wissenschaftler darüber, ob tatsächlich Yersinia pestis der Auslöser der berühmten "Justinianischen Pest" der Spätantike war oder ob andere Krankheitserreger den Untergang des Römischen Reichs vorantrieben. "Die Befunde unserer und auch anderer Teams sprechen für die Pestbakterien, die sich 541 n. Chr. von Ägypten über Konstantinopel in den Mittelmeerraum und 543 über die Grenze von Frankreich nach Bayern ausgebreitet haben", sagt Harbeck.

Auch die Bundeswehr interessiert sich

An den Untersuchungen der Münchner beteiligt sich auch das Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr. Die Pestbakterien gehören wie Anthrax oder das Botulinum-Toxin zu den so genannten "Dirty Dozen", also solchen biologischen Stoffen, die als potenzielle Biowaffen gelten. Die Forscher am Bundeswehrinstitut interessiert etwa, welche Folgen eine Freisetzung von gefährlichen Krankheitserregern bei einem Anschlag haben könnte. Modellberechnungen werden gemacht, für die auch Angaben über die genetische Wandlungsfreude der Pesterreger hilfreich sind.

Doch ähnlich dem Lepragenom verändert sich das Erbgut von Yersinia pestis nur sehr langsam. Die Pestbakterien der Spätantike unterscheiden sich nur wenig von denjenigen, die im 14. Jahrhundert in Europa während des "Schwarzen Tods" die Bevölkerungszahl nahezu halbierten. Diese wiederum ähneln immer noch stark den heutigen Pestbakterien, die pro Jahr einige tausend Menschen in Afrika und Asien oder Präriewölfe im Südwesten der USA infizieren. Warum die Pest im Mittelalter so verheerend wütete – ob die kleinen genetischen Unterschiede oder die schlechte Gesamtverfassung der Menschen verantwortlich waren – ist noch offen [4, 5].

Schädel eines Leprakranken | Die Tübinger Forscherin Verena Schünemann analysierte für ihre Arbeit zahlreiche Knochenfunde von Seuchenopfern aus dem Mittelalter – darunter diesen Schädel eines mit dem Namen Jorgen 625 bezeichneten Dänen aus Odense.

Forschungsarbeiten wie die von Verena Schünemann oder Michaela Harbeck können wichtige Einblicke in die Geschichte der Auseinandersetzung des Menschen mit Infektionskrankheiten geben, aber sie erlauben auch Ausblicke in die Zukunft. Wo und wann wurden Menschen zum ersten Mal infiziert? Wodurch wurden oder werden die Krankheitserreger besonders gefährlich für den Menschen? Über welche Wege breiten sie sich über den Erdball aus? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Bakterien Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln?

All dies interessiert nicht nur Lepra- oder Pestforscher. Auch Wissenschaftlern, die gegen die Ausbreitung von Cholera, HIV oder die Tuberkulose kämpfen, helfen Kenntnisse zur Entwicklungsgeschichte der verschiedenen Erreger weiter. Die Tuberkulosebakterien, so scheint es, haben sich über die Jahrtausende regional unterschiedlich entwickelt, eng zusammen mit den Menschen, die sie infizierten. So stecken sich etwa US-Bürger, deren Vorfahren aus China oder den Philippinen stammen, heute mit anderen Tuberkulosestämmen an, als Amerikaner europäischer Herkunft [6]. Bei der Impfstoffentwicklung müssten daher die ethnischen Unterschiede berücksichtigt werden, sagt der Forscher Sebastien Gagneux vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel.

Die Erforschung alter Bakteriengenome sei interessant und nützlich, meint auch die Lepraforscherin Diana Lockwood vom Hospital for Tropical Diseases am University College London. "Jedoch ist es unwahrscheinlich, dass diese Studien heutigen Leprapatienten in praktischer Weise weiterhelfen." Dringend würden bessere diagnostische Tests benötigt. Denn je eher die Erkrankung entdeckt wird, desto effektiver können Deformationen der Gelenke und bleibende Hautveränderungen verhindert werden. Auch neue Medikamente, die die für die Infektion typischen Entzündungen stoppen, wären hilfreich.

Noch 1897, also 24 Jahre nach der Entdeckung der Leprabakterien, wurde auf einem Kongress in Berlin behauptet, die Lepra sei unheilbar. Dieser Satz gilt heute glücklicherweise nicht mehr. Aber immer noch müssen sich die weltweit über 200 000 Menschen, die jedes Jahr neu an der Lepra erkranken, einer mühseligen, belastenden Therapie unterziehen. Denn die Behandlung, bei der die Bakterien mit mehreren Antibiotika gleichzeitig angegangen werden, dauert zwölf Monate. Die Betroffenen sehnen kürzere Behandlungszeiten herbei. Laut Jan Hendrik Richardus vom Department of Public Health des University Medical Center in Rotterdam sind hier in nächster Zeit leider keine Verbesserungen zu erwarten: Lepra zähle zu den "Neglected Diseases", den vernachlässigten Krankheiten, Förderwille und Gelder seien rar.

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