Polargebiete: Auf dünnem Eis
Am 19. Juni 2015 drifteten Mats Granskog und 35 weitere Crewmitglieder langsam in südwestlicher Richtung auf den Rand der schwimmenden Meereisdecke zu, die den Arktischen Ozean bedeckt. Sie befanden sich an Bord der "R/V Lance", einem robusten ehemaligen Robbenfänger und heutigen norwegischen Forschungsschiff, das gerade per Anhalter in einer Eisscholle von etwa einem Kilometer Durchmesser mitfuhr – in rund 900 Kilometer Entfernung vom Nordpol.
Granskog, ein stämmiger 43-Jähriger finnischer Herkunft, ist als leitender Wissenschaftler eines ungewöhnlichen und zugleich ambitionierten Forschungsprojekts tätig: der Untersuchung eines kompletten Jahreszyklus des arktischen Meereises, von seiner Bildung im Winter bis zur Schmelze im Sommer. Zusammen mit den Kollegen der Norwegian Young Sea Ice Cruise, kurz N-ICE2015, erhoffte sich der Forscher aktuelle Erkenntnisse über die "neue Arktis" zu gewinnen, wie sie einige Experten seit Kurzem bezeichnen – eine Region, die die volle Wucht des durch den Menschen verursachten Klimawandels weitaus heftiger zu spüren bekommt als irgendein anderes Gebiet auf der Erde.
Da umhertreibendes Meereis in der Lage ist, ein Schiff zu zerquetschen, lassen sich Seeleute normalerweise nicht mit Absicht darin einfrieren. Doch genau dieses Wagnis war die Besatzung der "Lance" im Januar 2015 mitten in der dunklen, kalten Polarnacht eingegangen. Trotz der nur schwachen Schiffsbeleuchtung war es den Wissenschaftlern gelungen, die umfangreiche, tonnenschwere Ausrüstung auf dem Eis zu entladen: Schneescooter, Hütten, Bojen, Eisbohrer, ein Zelt sowie einen etwa zehn Meter hohen Wettermast. Im weiteren Verlauf der Expedition hatten sie mit schweren Stürmen und extremen Temperaturen zu kämpfen, die zuweilen sogar unter minus 40 Grad Celsius fielen.
"Außerdem bestand das Risiko, dass ein hungriger Eisbär vorbeikommt und deine Ausrüstung oder vielleicht auch dein Bein anknabbern möchte", erinnert sich Granskog mit der Andeutung eines Lächelns. "Wir hatten tatsächlich ein paar unheimliche Begegnungen in der Dunkelheit, nichts wirklich Gefährliches, aber doch ausreichend, um uns daran zu erinnern, dass wir an diesem Ort nicht die Stärksten waren."
Am 19. Juni, als die Spätfrühlingssonne gemächlich ihren Kreis von 360 Grad am Himmel zog, konnten die Wissenschaftler zumindest die sich nähernden Eisbären schon auf weite Distanzen entdecken. Und auch die Wetterbedingungen hatten sich mit Temperaturen um den Gefrierpunkt deutlich verbessert. Nach dem Frühstück machten sich einige Forscher bereit, um auf das Eis hinauszugehen und eine Reihe letzter Untersuchungen zum Abschluss zu bringen. Bald würde die "Lance" Kurs auf den Hafen in Svalbard nehmen, der sich eine eintägige Seereise entfernt in südlicher Richtung befand.
Was vom Meereis übrig bleibt
Meereis kann im Juni sehr schnell schmelzen, vor allem in Zeiten wie diesen, in denen die globale Erwärmung dazu geführt hat, dass die gefrorene Deckschicht des Arktischen Ozeans gegenüber früheren Jahren sehr viel dünner und wesentlich kleinräumiger in ihrer Ausdehnung geworden ist. "Wir sind im Begriff, das Meereis zu verlieren", stellt Mark Serreze fest, Direktor des US-amerikanischen National Snow and Ice Data Center.
Die Ergebnisse diverser Forschungsarbeiten weisen zudem darauf hin, dass der sommerliche Rückgang des Meereises seit dem Ende des 20. Jahrhunderts sehr viel stärker erfolgte als zu irgendeinem Zeitpunkt in den vergangenen 1450 Jahren. Laut Serrezes Prognosen wird die durch den Menschen verursachte Erwärmung bereits in den kommenden Jahrzehnten dazu führen, dass die Arktis im Sommer nicht mehr von einer signifikanten Eisschicht bedeckt sein wird. Das schmelzende Eis hat die Region schon jetzt in eine Art neues Grenzland verwandelt, auf dessen Seerouten, die strategisch günstige Lage zwischen Eurasien und Nordamerika und die möglicherweise riesigen Öl- und Gasvorkommen gerade viele Nationen begehrliche Blicke werfen. Tatsächlich könnten laut Bewertungen des United States Geological Survey in dem Gebiet nördlich des Polarkreises schätzungsweise 90 Milliarden Barrel Rohöl, etwa 47 Billionen Kubikmeter Erdgas sowie 44 Milliarden Barrel technisch förderbare Erdgaskondensate lagern. Diese Mengen entsprechen etwa 22 Prozent der weltweit noch unentdeckten Lagerstätten dieser Brennstoffe – in einer Region, die nur sechs Prozent der Erdoberfläche ausmacht.
Und hierin liegt das Paradoxe an der Situation in der Arktis: In dem Maß, wie die aus der Verbrennung fossiler Energieträger und anderen menschlichen Aktivitäten resultierende weltweite Erwärmung einen Schwund des arktischen Meereises bewirkt, trägt sie gleichermaßen zur Erschließung der Nordpolarregion für die Ausbeutung weiterer fossiler Brennstoffe bei. Sollten dort tatsächlich große Öl- oder Gasvorkommen entdeckt und nachfolgend verfeuert werden, würde die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens und das darin formulierte Ziel, den weltweiten Temperaturanstieg bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, eine weitaus größere Herausforderung bedeuten – und es wäre zudem sehr viel schwieriger, die schon jetzt in der Arktis und anderen Gegenden deutlich spürbaren Umweltauswirkungen einzudämmen. Bereits vor dem geplanten Ausstieg der USA aus der Vereinbarung von Paris hätte die Einhaltung der Klimaziele eine enorme Kraftanstrengung bedeutet. Der Schachzug Donald Trumps vom Frühjahr 2017 sowie die Verbrennung der in der Arktis lagernden fossilen Brennstoffreserven, die durch die fortschreitende Erderwärmung in verstärktem Maß verfügbar werden, würden das Zwei-Grad-Ziel höchstwahrscheinlich in nahezu unerreichbare Ferne rücken.
Ein neuer Ölrausch
Russland und Norwegen bohren schon in ihren landeseigenen arktischen Gewässern nach Öl und Gas, bislang allerdings mit recht bescheidenen Ausbeuten. 2016 lieferte die einzige russische Offshore-Förderanlage in der Arktis lediglich 2,1 Millionen Tonnen Öl – eine Menge, die nicht einmal ausreicht, um den täglichen Erdölverbrauch der USA zu decken. Doch die arktische Ölproduktion könnte in den kommenden Jahren signifikant ansteigen. Moskau jedenfalls hegt große Pläne. Über die Vereinten Nationen erhebt das Land auf friedlichem Weg einen weiträumigen Gebietsanspruch im Nordpolarmeer – mit der Aussicht auf die damit verbundenen ausschließlichen Nutzungsrechte für Öl- und Gasbohrungen, Fischerei und andere Wirtschaftsaktivitäten.
Allerdings steckt in dem Samthandschuh des von Russland geltend gemachten Rechtsanspruchs offenbar eine eiserne Faust. In den vergangenen Jahren habe die Nation eine verstärkte Militärpräsenz in der Arktis demonstriert, die weit über das zur Verteidigung notwendige Maß hinausgehe, erklärt Heather A. Conley, Spezialistin für arktische Angelegenheiten am Center for Strategic and International Studies. Sie weist darauf hin, dass Moskau gerade versuche, einen "eisigen Vorhang" in der Region zu etablieren. Während der "Eiserne Vorhang" aus der Ära des Kalten Kriegs den Kontakt von Bürgern der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten mit dem Westen unterbunden hatte, bezweckt der eisige Vorhang augenscheinlich eine andere Form des Ausschlusses: anderen Ländern den Zugang zu weiten Teilen der Arktis zu verweigern.
Zwar besteht nach Conleys Ansicht noch immer ein gewisser Handlungsspielraum, um mögliche Konfrontationen zu verhindern, "aber auch solche Spielräume können sich stark einengen". Die Arktis "stellt nicht nur eine potenzielle ökologische Katastrophe mit verheerenden Folgen für die Umwelt dar", wie es die schwedische Außenministerin Margot Wallström in Gegenwart ihrer europäischen Ministerkollegen und anderer auf einer Konferenz in Norwegen Anfang dieses Jahres formulierte. Die Entwicklungen in der Region "könnten sich genauso gut in ein Sicherheitsrisiko globalen Ausmaßes verwandeln".
Draußen auf dem Meereis stand Granskog dagegen einem ganz konkreten und unmittelbaren Risiko gegenüber. Er wusste sehr wohl, dass das Eis jederzeit aufbrechen und ihn, seine Forscherkollegen der N-ICE2015 und ihre gesamte Ausrüstung in den eisigen Fluten verschwinden lassen könnte. "Mutter Natur hat das Ruder in der Hand", konstatiert der Wissenschaftler. "Du bewegst dich auf einem dünnen Stück Eis, und es kann alles Mögliche passieren." Wie sich später herausstellte, mussten er und seine Mitstreiter auf der "Lance" nicht allzu lang warten, um am eigenen Leib zu erfahren, was in einer sich dramatisch erwärmenden Arktis tatsächlich passieren kann.
Anzeichen einer Veränderung
Angesichts dessen, was sich buchstäblich unter ihren Füßen abspielte, gaben sich die Forscher keinerlei Illusionen hin. Im Verlauf der Expedition hatten sie herausgefunden, dass das Eis an einigen Stellen weniger als 1,5 Meter dick war und somit nur noch die Hälfte seiner erst vor wenigen Jahrzehnten gemessenen Mächtigkeit aufwies. Um die Vorgänge unterhalb dieser dünnen Eisschicht genauer zu untersuchen, bedienten sich die Wissenschaftler eines ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs (remorely operated vehicle, ROV) und machten dabei eine erschreckende Entdeckung.
"In letzter Zeit hat man beim Einsatz eines ROV unter dem Eis das Gefühl, in einer Spinatsuppe umherzufahren", schrieb Granskog kürzlich in einem Blogbeitrag. "Im Wasser treiben Unmengen an Phytoplankton sowie Zooplankton, das sich von Ersterem ernährt, und die Sicht ist so schlecht, als würde man in einem Schneesturm Auto fahren."
Das aus winzig kleinen Pflanzen bestehende Phytoplankton stellt die Grundlage des gesamten arktischen Meeresökosystems dar. Jegliche Änderungen von Menge, Artenzusammensetzung, geografischer Verbreitung und Lebenszyklen dieser Algen können daher tief greifende Auswirkungen auf die arktischen Lebensgemeinschaften haben. Man kann sich das Phytoplankton als eine Art Weide des Meeres vorstellen, auf der das Zooplankton die Rolle der Kühe einnimmt. Letzteres ernährt den Polardorsch (Boreogadus saida), der von den Robben gefressen wird, die wiederum die Leibspeise der Eisbären (Ursus maritimus) darstellen. Wird also in irgendeiner Weise am Phytoplankton herummanipuliert, dann kann es sehr wohl passieren, dass dadurch auch die Bären beeinträchtigt werden.
Wie für fast alle Pflanzen ist auch für das Phytoplankton Sonnenlicht lebensnotwendig. Doch obwohl das Eis am Einsatzort des Unterwasserfahrzeugs von einer bis zu 60 Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt war, fanden sich im Wasser unterhalb der Eisdecke gewaltige Algenblüten. Im Verlauf ihrer Untersuchungen erkannten die Forscher, dass das zunehmend dünnere und bruchanfälligere Meereis für dieses Phänomen verantwortlich war. Heftige Stürme hatten es weitaus häufiger als erwartet aufbrechen lassen – bereits während der dunklen und klirrend kalten Wintermonate. Zwar froren die entstandenen Streifen offenen Wassers schnell wieder zu, doch die einstigen Rinnen im Eis, von den Wissenschaftlern "leads" genannt, verhielten sich wie Reißverschlüsse, die durch nachfolgende Stürme leicht wieder aufgerissen werden konnten.
Reißverschlüsse im Eis
Als sich mit dem nahenden Frühling der Polarhimmel ein wenig aufhellte, öffneten sich diese Reißverschlüsse im Eis, froren wieder zu, öffneten sich erneut und setzten das Wasser somit immer häufiger den lebensspendenden Strahlen des Sonnenlichts aus. Auch wenn die Schübe an Sonnenenergie noch so kurz waren, reichten sie dennoch aus, um die Bildung von Algenblüten früher als gewöhnlich auszulösen und diese über längere Zeiträume aufrechtzuerhalten.
Normalerweise treten die gigantischen Blüten von Phyto- und Zooplankton erst im späten Frühling auf, also zu einer Zeit, in der das arktische Meereis endgültig aufbricht. Folglich sind auch die Lebenszyklen von Arten, die auf höheren Ebenen der Nahrungskette stehen, zeitlich so angepasst, dass die Tiere von dem Festschmaus im Spätfrühling profitieren können. Da sich jedoch ein beträchtlicher Teil der grünen Suppe unter dem Eis immer frühzeitiger bildet, wäre es durchaus möglich, dass dadurch das gesamte System aus dem Gleichgewicht gerät. Die Algenblüten unterhalb des Meereises könnten etwa einen Teil der im Wasser enthaltenen Nährstoffe aufzehren und sich somit möglicherweise limitierend auf jene späten Blüten des Phytoplanktons auswirken, die momentan die Grundlage der arktischen Nahrungskette darstellen. Tatsächlich haben Forscher der N-ICE2015-Expedition in den von ihnen gesammelten Wasserproben Hinweise auf eine Nährstoffverarmung gefunden.
Ein Experte auf dem Gebiet der arktischen Meeresbiologie liefert im Hinblick auf die aktuelle Situation der Arktis eine schonungslose Einschätzung. Die derzeitigen Veränderungen des Meereises führten dazu "dass wir alles, was wir bisher über dieses Ökosystem zu wissen glaubten, neu überdenken müssen", stellt Rolf Gradinger von der Universität Tromsø in Norwegen unverblümt fest.
Betrachtet man beispielsweise das Zooplankton, das sich von Algen ernährt, so verweist Gradinger darauf, dass "die echten arktischen Formen groß, fettreich und von hohem Energiegehalt sind" und folglich für Polardorsche, Bartenwale, Robben und letztlich auch für Eisbären eine exzellente Nahrungsquelle darstellen. Doch mit einem weiteren Schwinden der Eisdecke könnten die Populationen dieses arktischen Zooplanktons einen Einbruch erleiden und durch andere, aus südlicheren Breiten stammende Arten ersetzt werden, die jedoch "weitaus weniger Energie pro Bissen" enthalten.
Laut Untersuchungen des Wissenschaftlers Robert G. Campbell von der University of Rhode Island, der sich mit der Rolle des Zooplanktons in marinen Ökosystemen beschäftigt, gibt es schon jetzt erste Hinweise darauf, dass eine solche Entwicklung gerade in einigen Teilen der Arktis stattfindet und sich als Konsequenz weitere Wellen der Zerstörung in höhere Ebenen der Nahrungskette fortpflanzen könnten. Zwar mahnt der Forscher, es seien noch mehr Langzeitstudien nötig, um jene Änderung des Artenspektrums eindeutig auf den Klimawandel zurückzuführen. Doch angesichts der schwindenden Eisbedeckung, des sich erwärmenden Wassers, längerer Vegetationsperioden und Veränderungen in den Lebenszyklen des Phytoplanktons "ist es einfach unvermeidlich, dass eine Besiedelung der Arktis durch Arten und Populationen aus niederen Breiten stattfindet. Das, was wir gerade beobachten, sind wahrscheinlich die ersten Anzeichen."
Der große Faunenaustausch
Auch in südlicheren Gewässern beheimatete Fische, darunter der Atlantische Kabeljau (Gadus morhua), der Schellfisch (Melanogrammus aeglefinus) und die Lodde (Mallotus villosus), sind der zurückweichenden Eiskante in Richtung Norden gefolgt und mittlerweile in der arktischen Barentssee zu finden. Und dies wiederum hat auch die Fischer in jene nördlichen Gewässer gelockt.
Eine weitere Spezies, die sich unter den veränderten Bedingungen geradezu prächtig entwickelt, ist die Makrele (Scomber scombrus). "Als Folge des Klimawandels haben die Makrelenbestände im Nordostatlantik ihr Verbreitungsgebiet geradezu explosionsartig vergrößert", erläutert Dorothy Dankel, Fischereiwissenschaftlerin an der Universität Bergen in Norwegen. Da auch die Fischer den nordwärts wandernden Fischbeständen folgten, könne sich die Überfischung allerdings zu einem ernsthaften Problem entwickeln, wenn nicht alle beteiligten Länder die wissenschaftlichen Leitlinien zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Meere konsequent einhielten, warnt Dankel.
Unerwartete Änderungen in Bezug auf Ökologie und Artenzusammensetzung führen zuweilen auch zu großen Überraschungen. Als Beispiel ist die Schneekrabbe (Chionoecetes opilio) zu nennen, die als eine invasive Art der Barentssee gilt und 1996 erstmalig in diesem nördlichen Seegebiet nachgewiesen wurde. Seitdem schnellten die Populationen dieser Spezies sprunghaft in die Höhe und bilden mittlerweile die Grundlage eines völlig neuen Fischereizweigs. Doch als ein Einwanderer, der sich von bodenlebenden Organismen ernährt, könnte die Schneekrabbe die Zusammensetzung der Meeresbodenbewohner erheblich beeinflussen und dadurch das gesamte marine Ökosystem empfindlich stören.
"Wir diskutieren gerade einen gewaltigen Wandel, der sich in der Arktis vollzieht, aber wir wissen nicht, was zum Kuckuck dort eigentlich passiert", stellt Dankel fest. "Es ist eine faszinierende und komplexe Verkettung unglücklicher Umstände – entweder nimmt sie ein wirklich gutes Ende, oder es geht alles den Bach runter."
Die Scholle bricht
Am Morgen des 19. Junis 2015 hatten Granskog und seine Kollegen eigentlich geplant, ihre Untersuchung der Algenblüten unter dem Eis mit Hilfe des ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs fortzusetzen. Nur wenige Seemeilen von der Position der "Lance" entfernt traf die Meereiskante bereits auf den offenen Ozean. Auch wenn Granskog das Wasser vom Deck des Schiffes aus noch nicht sehen konnte, ließ es sich auf Grund eines Phänomens, das Seeleute als "Wasserhimmel" bezeichnen, bereits erahnen: Da die Eisbedeckung einen Großteil des umgebenden Lichts reflektiert, erscheinen die Unterseiten der Wolken über freiem Wasser wegen der fehlenden Reflexion dunkler.
Weit draußen auf dem Meer versetzte eine kräftige Dünung das Wasser in Aufruhr. Und obwohl die Besatzung der "Lance" sehr wohl wusste, dass jene Wellenbewegungen vermutlich in einigen Gebieten für ein Aufbrechen des Eises sorgten, ahnten die Forscher nicht, dass sich die Wogen genau in die Richtung ihres Schiffs bewegten. Mit zwei fest in der Eisscholle verankerten Leinen hatte sich die "Lance" in den vergangenen Wochen als äußerst standfest erwiesen. Doch als er jetzt an Deck stand, fühlte Granskog plötzlich, wie sich das Schiff bewegte. "Mein Bauchgefühl sagte mir sofort, dass wir von der Scholle getrennt worden waren."
Es hatte sich ein Spalt im Eis gebildet, der sich zusehends erweiterte. Schon bald kamen weitere Risse hinzu – ihre Eisscholle war im Begriff, in kleine Stücke zu zerbrechen. "Auf einmal sahen wir immer mehr Eisschollen, die auf Grund der hereinbrechenden Wellen in unterschiedliche Richtungen auseinanderdrifteten", erinnert sich Granskog. Da ein vollständiges Zerbersten der Eisscholle nahezu unausweichlich schien, stürzten die Expeditionsmitglieder auf das Eis, um rasch ihre Ausrüstung in Sicherheit zu bringen, bevor diese zusammen mit ihnen im Nordpolarmeer versinken würde.
Was in der Arktis geschieht, zeigt auch anderswo Wirkung
Der Zusammenhang zwischen den anthropogenen Kohlendioxidemissionen und den Erlebnissen der N-ICE2015-Expeditionsteilnehmer hätte nicht deutlicher sein können. Tatsächlich hatte bereits der schwedische Wissenschaftler Svante Arrhenius vor mehr als einem Jahrhundert eine derartige Entwicklung vorausgesagt, denn 1896 prognostizierte der Forscher auf Grund seiner Berechnungen, dass das bei der Verbrennung fossiler Energieträger entstehende CO2 eine globale Erwärmung bewirken würde. Und nicht nur das: Sobald die Anreicherung von CO2 in der Atmosphäre einen bestimmten Wert überschreite, würde sich die Arktis am schnellsten erwärmen, so die weitere Voraussage von Arrhenius.
Seit dem Beginn der industriellen Revolution hat der Mensch der Erdatmosphäre durch das Verfeuern fossiler Brennstoffe etwa 1,5 Billionen Tonnen Kohlendioxid zugeführt, weitere 0,5 Billionen Tonnen dieses Gases entstanden durch anthropogene Landnutzungsänderungen wie beispielsweise das Abholzen von Wäldern. Und wie es Arrhenius vorhersagte, führten diese Aktivitäten zu einer Erwärmung des gesamten Planeten; 2016 erreichte die seit dem Jahr 1880 aufgezeichnete weltweite Durchschnittstemperatur sogar ihren absoluten Höchstwert.
Auch mit seiner zweiten Prognose lag der schwedische Wissenschaftler richtig. "Die stärksten Temperaturveränderungen sind in der Arktis zu beobachten", bestätigt Serreze vom National Snow and Ice Data Center. Auf Grund eines Phänomens, das als "arktische Verstärkung" [des Klimawandels] bezeichnet wird, steigen die Temperaturen in der Region doppelt so schnell wie im weltweiten Durchschnitt. Schuld daran ist im Wesentlichen der dramatische Rückgang des Meereises. Im September 1980 hätte sich die arktische Eisbedeckung in ihrer Ausdehnung fast komplett über die Fläche der 48 zusammenhängenden US-Bundesstaaten erstreckt, doch seitdem ist die Meereisdecke um 40 Prozent geschrumpft. Zudem ist das noch vorhandene Eis weitaus dünner. In einigen Teilen des zentralen arktischen Ozeans, sogar in Regionen weiter nördlich des Gebiets, in das sich die "Lance" vorwagte, hat sich die Dicke der Eisschicht von im Durchschnitt knapp 3,65 Metern im Jahr 1975 auf lediglich 1,22 Meter im Jahr 2012 verringert.
All diese Faktoren haben zur Entstehung einer sich selbst verstärkenden Rückkopplungsschleife beigetragen, die den Verlust des Meereises beschleunigt, der wiederum seinerseits die Erwärmung vorantreibt. Etwa 85 Prozent des Sonnenlichts, das im Sommer auf das stark reflektierende Meereis trifft, wird von diesem wieder zurückgestrahlt – ein Prozess, der viele Jahrhunderte lang für eine natürliche Kühlung der Arktis sorgte. Doch wenn kein Eis mehr vorhanden ist, passiert etwas völlig anderes: Das Meerwasser, das so gut wie gar kein Licht reflektiert, absorbiert nämlich mehr als 90 Prozent der eingestrahlten Sonnenenergie.
Die gesteigerte Sonnenexposition weiter Bereiche des Arktischen Ozeans hat inzwischen zu einer beträchtlichen Erwärmung dieses Gewässers geführt. So wurden etwa im August 2014 in einigen Gebieten der Arktis Wassertemperaturen gemessen, die bis zu vier Grad Celsius über dem langjährigen Mittelwert lagen. Darüber hinaus hat das wärmere Wasser die Meereisdecke von unten her regelrecht ausgehöhlt. Und auch wenn die Sonne im Verlauf des Herbstes untergeht und die lange Polarnacht beginnt, sorgt doch die im Ozean gespeicherte Wärme dafür, dass ein erneutes Gefrieren des Wassers sehr viel langsamer stattfindet.
Aus diesem Grund erreicht die Meereisbedeckung immer häufiger neue Rekordtiefstwerte – mittlerweile sogar in den kälteren Monaten des Jahres. Allein im Jahr 2016 wurden sowohl im Januar, Februar, Oktober und November als auch im April, Mai und Juni neue Negativrekorde in Bezug auf die Ausdehnung der arktischen Eisfläche gemessen.
Die Fernwirkung trifft auch uns
Zudem bleiben die Ereignisse in der Arktis nicht ausschließlich auf das Gebiet nördlich des Polarkreises beschränkt. Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen legen nahe, dass die zunehmend wärmeren Temperaturen in diesen Breiten auch das tägliche Wetter in weitaus südlicher gelegenen Regionen beeinflussen – und dies nicht immer in angenehmer Weise. Der Beginn des 21. Jahrhunderts hat uns eine außergewöhnlich hohe Zahl an Extremwetterereignissen beschert, die allesamt mit großen Schäden verbunden waren. Forscher haben inzwischen nachgewiesen, dass sich das gesteigerte Auftreten von Hitzewellen sowie Stark- und Dauerregenperioden ziemlich wahrscheinlich auf die menschliche Beeinflussung des Klimas zurückführen lässt. Die Atmosphärenwissenschaftlerin Jennifer Francis von der Rutgers University in New Jersey sieht eine Verbindung zwischen diesen Wetterextremen und den Geschehnissen in der Arktis. Ihre Theorie gründet sich auf den Jetstream oder Strahlstrom, jenes eng begrenzte Band extrem hoher Windgeschwindigkeiten, das sich in einer Höhe von etwa zehn Kilometern über der Erdoberfläche bewegt.
Wenn wir uns einen Fluss vorstellen, der von den Bergen hinab in die Ebene fließt, dann zeigt dieser auf Grund des starken Gefälles zunächst einen relativ geraden Verlauf, bis er die flache Landschaft erreicht. Dort verlangsamt sich die Fließgeschwindigkeit des Wassers, und der Strom sucht sich seinen Weg in einem gewundenen Flussbett mit großen Mäandern. Auch das Strömungsverhalten des Jetstreams wird von einem Gradienten gesteuert: der Temperaturdifferenz zwischen den hohen geografischen Breiten der Arktis und den gemäßigten, mittleren Breiten, die die Erde wie einen Gürtel umspannen und zu deren riesigen Landmassen der größte Teil von Nordamerika und Eurasien gehören.
Vor dem Einsetzen der globalen Erwärmung hatte ein steiler Temperaturgradient zwischen diesen beiden Regionen für einen relativ schnellen und geradlinig verlaufenden Jetstream gesorgt, vergleichbar mit einem Gebirgsfluss. Durch die sehr viel schnellere Erwärmung der Arktis gegenüber den mittleren Breiten ist aber auch die Temperaturdifferenz beträchtlich geringer geworden und hat, wie Forschungen von Francis und einem Kollegen zeigten, zu einer Abschwächung des Strahlstroms geführt. Und wie ein gemächlich in der Ebene dahinplätschernder Fluss scheint nun auch der Jetstream größere Mäander auszubilden, die zudem über längere Zeiträume bestehen bleiben.
Im Allgemeinen neigt ein schneller und verhältnismäßig geradlinig verlaufender Strahlstrom dazu, Wetterlagen zügig aufzulösen. Auf eine Phase warmer und trockener Witterung folgt daher relativ rasch kühleres und feuchteres Wetter. Ein langsamerer und wellenförmigerer Jetstream könne allerdings dazu führen, dass Wettersysteme länger bestehen blieben und sich zudem aufbauten, was die Wahrscheinlichkeit von Wetterextremen deutlich erhöhe, argumentiert Francis. Ein typisches Beispiel stellen Hitzewellen dar, die auf einer Seite eines feststeckenden Jetstream-Mäanders den Westen Nordamerikas und Europa zum Schwitzen bringen, während auf der anderen Seite arktische Kaltluft den östlichen Teil des Kontinents oder Teile Asiens frieren lässt.
Die von Francis postulierte Jetstream-Theorie erfuhr im März 2017 starken Aufwind, denn neuere wissenschaftliche Untersuchungen konnten ein von der Arktis zu den mittleren Breiten reichendes Muster von Temperaturverschiebungen nachweisen, das lang anhaltende Strahlstrommäander begünstigt. Jenes Muster sei "ein deutlicher Fingerabdruck menschlicher Aktivität", betont der Erstautor der Studie Michael Mann von der Pennsylvania State University. Und indem es die Entstehung stationärer Mäander wahrscheinlicher macht, hat es wohl auch zu dem gesteigerten Auftreten zerstörerischer Extremwetterereignisse in vergangenen Sommern beigetragen, wie etwa den starken Überschwemmungen in Pakistan im Jahr 2010 oder der europäischen Hitzewelle 2003.
Nicht mehr von untergeordneter Bedeutung
Obwohl die Veränderungen in der Arktis auch unser Leben, das sich viele tausend Kilometer weiter südlich abspielt, beeinflussen, liegt die Region für unsere Begriffe noch immer am Rand der Welt – abgelegen, isoliert und relativ unbedeutend. Ein Grund für diese Wahrnehmung sei die Tatsache, dass die Arktis auf Landkarten lange Zeit als ein großer, weißer Fleck abgebildet worden sei, "ein unwirtlicher Ort hoch im Norden", meint Paul Wassmann, Meeresökologe an der Universität Tromsø, der sich schwerpunktmäßig mit dem arktischen Lebensraum beschäftigt. In diesen Karten "wird die Arktis immer als eine Art Anhängsel dargestellt".
Mit zunehmender Erwärmung der Region täten wir allerdings gut daran, unsere Sichtweise zu verändern, rät Wassmann. Stellen wir uns statt der gängigen Kartendarstellung mit dem quer über die Mitte verlaufenden Äquator doch einmal eine Projektion vor, die von oben direkt auf den Nordpol schaut. Auf diese Weise betrachtet, liegt die Arktis genau im Zentrum der nördlichen Hemisphäre, während sich die Landflächen plötzlich an ihrer Peripherie befinden.
Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten haben andere arktische Nationen diesen Wechsel der Perspektive bereits vollzogen. Während die Arktis früher allgemein als ein Gebiet betrachtet wurde, das für menschliche Angelegenheiten nur von marginaler Bedeutung war, "stimmt dies heutzutage bei Weitem nicht mehr, denn die weltweiten Entwicklungen haben die Region inzwischen in das Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt", argumentiert die schwedische Außenministerin Margot Wallström.
Sturla Henriksen, Geschäftsführer des Verbands der norwegischen Schiffseigner, formuliert es so: "Ein Polarmeer öffnet sich" – sowohl für die Schifffahrt als auch für die Gewinnung natürlicher Ressourcen wie Öl, Gas und Fisch. Nach wie vor herrschen jedoch in weiten Teilen der Arktis harsche und unerbittliche Bedingungen, und dies wird wohl auch in nächster Zukunft so bleiben – ein Umstand, der die Erschließung arktischer Offshore-Ressourcen zu einer außerordentlich teuren Angelegenheit macht. Dennoch drängen Spekulanten, die in der Arktis ein großes Geschäft wittern, darauf, die Rohstoffexploration weiter voranzutreiben.
Laut Prognosen soll die weltweite Nutzung erneuerbarer Energien zwar bis zum Jahr 2050 um 1700 Prozent steigen, doch man erwartet, dass auch zu diesem Zeitpunkt noch immer ein Drittel des gesamten Energieverbrauchs durch die Nutzung fossiler Brennstoffe gedeckt wird. "Die genauen Zahlen spielen keine Rolle", stellt Karl Eirik Schjøtt-Pedersen, Generaldirektor des norwegischen Öl- und Gasverbands Norsk Olje og Gass, fest. "Auf jeden Fall wird es 2050 nach wie vor eine beträchtliche Nachfrage nach Öl und Gas geben."
Die Nachfrage nach Öl und Gas bleibt
Bis dahin werden allerdings viele der zurzeit vorhandenen Öl- und Gasreserven erschöpft sein; tatsächlich hat sich allein die norwegische Produktion seit dem Jahr 2000 um die Hälfte verringert. Dies lasse die Erdöl- und Erdgasexploration in der Arktis im Moment durchaus als eine vernünftige Alternative erscheinen, argumentieren Schjøtt-Pedersen und andere. Und gegenüber denjenigen, die das Risiko einer solchen Rohstoffförderung in der empfindlichen arktischen Umwelt als zu hoch erachten, versichert der Direktor des norwegischen Öl- und Gasverbands, die Barentssee in der norwegischen Arktis sei weniger gefahrenträchtig als die Gewässer vor Neufundland. "Es gibt keine nennenswerten klimatischen Hindernisse, die einer Erschließung neuer Öl- und Gasfelder in der Barentssee im Weg stehen", betont Schjøtt-Pedersen.
Doch dieser Behauptung widersprechen norwegische Umweltschützer vehement. Ihrer Ansicht nach würden die Risiken einer Gefährdung der fragilen arktischen Ökosysteme durch Ölunfälle schwerer wiegen als etwaige Vorteile einer Rohstoffexploration. Zudem stellten die Folgen der Verbrennung jener fossilen Energieträger, nämlich noch mehr Erderwärmung und Klimaschäden, eine Bedrohung dar, die man unter keinen Umständen auf die leichte Schulter nehmen dürfe, so die weitere Argumentation der Naturschützer. Allein die Ölfelder der Barentssee könnten aber möglicherweise 17 Milliarden Barrel Rohöl beherbergen – eine Verlockung, der die norwegische Regierung nur schwer widerstehen kann. Erst im März 2017 hat die Regierung vorläufige Pläne für die Eröffnung einer rekordverdächtigen Anzahl von Öl- und Gasexplorationsblöcken im norwegischen Teil der Barentssee bekannt gegeben.
Während sich Norwegen im Wesentlichen auf die Erschließung der Arktis konzentriert, geht Russland noch einen Schritt weiter. 2015 erhob das Land bei den Vereinten Nationen Anspruch auf ein etwa 1 200 000 Quadratkilometer umfassendes Gebiet in der Arktis, das auch den Nordpol einschließt; diese Fläche entspricht etwa drei Vierteln derjenigen von Alaska. Seinen Gebietsanspruch begründet Russland mit den Ergebnissen geologischer Untersuchungen, die offenbar nachgewiesen hätten, dass sich der russische Festlandsockel von der Nordküste des Landes über die Gesamtheit des von Moskau beanspruchten Meeresgebiets fortsetze. Sollten die Vereinten Nationen dem Antrag stattgeben (was jedoch keinesfalls als eine ausgemachte Sache gilt), würde Russland die ausschließliche wirtschaftliche Kontrolle über die Ressourcen dieser Gewässer und der des darunterliegenden Meeresbodens erlangen.
Ein solcher Versuch ist nicht neu; schon zu Zeiten Stalins gab es in dieser Richtung erste Bestrebungen. Doch im Gegensatz zu früher ist Moskau heutzutage vielleicht in der Lage, seine Forderung, die sich auf das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) stützt, mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern. Auch Dänemark macht im Rahmen von UNCLOS Ansprüche auf einen Teil des arktischen Meeresbodens geltend, und Kanada wird diesbezüglich voraussichtlich 2018 ebenfalls einen formalen Antrag einreichen. Die USA haben indes das Seerechtsübereinkommen noch nicht einmal ratifiziert – als einziger der arktischen Anrainerstaaten. Seit mehreren Jahren schon blockieren die Republikaner im US-Senat die Unterzeichnung des Gesetzes, mit der Begründung, Verträge wie diese würden die Souveränität der Vereinigten Staaten untergraben.
Russland dagegen betrachtet die Seerechtskonvention aus einer anderen Perspektive, nämlich als Möglichkeit, seine wirtschaftliche Souveränität drastisch zu erweitern. Das Land habe seinen Anspruch nachdrücklich angemeldet und sich dabei "an die Spielregeln gehalten", macht Conley vom Center for Strategic and International Studies deutlich. Die Russen versprechen sich von der Arktis Reichtum und Wohlstand, und ihre Strategie scheint offensichtlich am besten geeignet, um in den Besitz dieser Schätze zu gelangen.
Russlands große Ziele
Allerdings könnten jene Reichtümer erstaunlich weit von Russlands nördlichem Horizont entfernt liegen. Im Januar 2017 informierte der russische Wissenschaftler Gennady Ivanov die Teilnehmer einer in Norwegen stattfindenden Tagung, die passenderweise den Namen "Arctic Frontiers Conference" trug, über Entdeckungen hinsichtlich der Meeresbodengeologie in der Umgebung des Nordpols. "Ich versichere Ihnen, dort gibt es Öl und Gas", berichtete Ivanov aufgeregt.
Vladimir Barbin, der für die russische Arktispolitik zuständige ranghöchste Beamte, erklärte: "Russlands Zukunft ist eng an die Arktis geknüpft." Schon jetzt werden in der Nordpolarregion zehn Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet (anderen Schätzungen zufolge liegt dieser Wert bereits bei 20 Prozent). "In Zukunft wird diese Verbindung sogar noch bedeutsamer sein", fügt Barbin hinzu. Russland müsse von den verfügbaren Ressourcen der Arktis Gebrauch machen, "um die Entwicklung des Landes zu fördern".
Zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung richtet die russische Regierung gerade zehn Zentren des Such- und Rettungsdienstes (SAR) entlang der Nordostpassage ein, dem eurasischen Äquivalent der berühmten Nordwestpassage. Dieser Schritt ist Teil einer Initiative zur Verbesserung der begleitenden Infrastruktur einer Schiffsroute, mit deren Hilfe die Reisestrecke von Europa nach Asien um ein Drittel verkürzt werden kann. Mit nur etwa 50 Schiffen, die den Seeweg pro Sommer befahren, wird zurzeit allerdings lediglich ein Bruchteil des Schiffsverkehrs über diese Route abgewickelt. Doch der zunehmende Rückzug des Eises verlockt eventuell auch andere Schiffseigner dazu, den Weg über die Nordostpassage zu wählen. Für Russland hat sich ein Teil der Strecke schon jetzt als unentbehrlich für den Transport der an der Erschließung arktischer Öl- und Gasreserven beteiligten Menschen und Materialien erwiesen.
Die neuen russischen SAR-Zentren würden ebenfalls militärische Kapazitäten umfassen, die weit über das für Such- und Rettungsdienste nötige Maß hinausgingen, ergänzt Conley. Und dies stellt nur eine Komponente der Strategie des eisigen Vorhangs dar; russische Staatsbeamte haben außerdem ein völlig neues strategisches Konzept für die Region entwickelt, das auch die Wiedereröffnung von 50 arktischen Militärstützpunkten bis zum Jahr 2020 vorsieht. Moskau hat in der Arktis bereits umfangreiche Militärmanöver abgehalten, an denen nicht nur konventionelle, sondern auch nukleare Streitkräfte beteiligt waren. Im Februar 2015 führten beispielsweise Atom-U-Boote der russischen Marine in den eisbedeckten Gewässern um den Nordpol militärische Übungen durch; zudem arbeitet Russland an der Entwicklung mobiler Kernkraftwerke, die für die Stromversorgung seiner in der Arktis stationierten Militäreinheiten sorgen sollen.
Ein besonders aufsehenerregendes Militärmanöver fand im März 2015 statt, als der russische Präsident Wladimir Putin die Nordmeerflotte im Rahmen einer kurzfristig angesetzten Militärübung, die mehr als 45 000 Soldaten, 41 Kriegsschiffe, 15 U-Boote und 110 Flugzeuge umfasste, zu voller Kampfbereitschaft aufrief. Doch der vielleicht beunruhigendste Aspekt war die Tatsache, dass Russland dieses Manöver nicht, wie es im Allgemeinen üblich ist, gegenüber der NATO angekündigt hatte. "Ganz eindeutig geht es hier um Fähigkeiten der globalen Machtprojektion, und die Arktis ist einfach ein strategischer Ort", stellte Conley auf eine Veranstaltung Anfang 2016 fest. "Wir kennen dies aus der Ära des Kalten Kriegs und finden es auch heute noch. Die USA vertritt zwar eine andere Auffassung, doch Russland sieht es ganz sicher so."
Laut Conley tragen Russlands Aktionen sämtliche Kennzeichen einer militärischen Strategie, die als "Anti Access/Area Denial", kurz A2/AD, bekannt ist. Vereinfacht gesagt zielt diese Taktik darauf ab, befreundete Streitkräfte zu schützen, während sie gleichzeitig verhindert, dass sich die Gegner potenziell vorteilhafte Positionen sichern. Darüber hinaus betrachtet Russland die Arktis auch als eine Möglichkeit, seiner Nordmeerflotte Zugang zum Atlantik und Pazifik zu verschaffen. "Mit seiner starken nationalen Identität in Bezug auf die Arktis und der Stationierung seiner strategischen nuklearen Abschreckung im hohen Norden sieht sich Russland als die arktische Supermacht, während der Kreml die Arktis in zunehmendem Maß bereitwillig nutzt, um Russlands wiedererstarkte Macht sowohl global als auch regional zu demonstrieren", schlussfolgert die Arktis-Spezialistin Conley zusammen mit einem Kollegen in einer Veröffentlichung, die den Titel "The New Ice Curtain" trägt.
Die USA besitzen lediglich zwei Eisbrecher, während Russland mit insgesamt 41 dieser Schiffe aufwarten kann. "Die meisten Amerikaner wissen nicht einmal, dass sie Angehörige einer arktischen Nation sind", ergänzt Conley. Und während Russland und andere arktische Anrainerstaaten sich voll und ganz der durch die Erderwärmung verursachten Veränderungen in der Arktis bewusst sind und gerade versuchen, diese in vollem Umfang zu nutzen, bestreitet US-Präsident Trump nach wie vor die Existenz des Klimawandels und hat bereits mit der Zerschlagung politischer Vorhaben zur Reduzierung der für die globale Erwärmung verantwortlichen Kohlendioxidemissionen begonnen.
Ebenso wie es innerhalb der arktischen Ökosysteme Gewinner und Verlierer des Klimawandels gibt, werden auch die Länder der Welt von den klimatischen Veränderungen profitieren oder darunter leiden. Und unter dem Klimagesichtspunkt seien die Bemühungen Moskaus im hohen Norden durchaus nachvollziehbar, erklärt James White, Klimawissenschaftler und Leiter des Institute of Arctic and Alpine Research an der University of Colorado, denn "der größte Nutznießer eines wärmeren Planeten ist Russland".
Unangenehme Überraschung
Im Januar 2017, während Minister, Diplomaten und Wissenschaftler auf der Arctic Frontiers Conference im norwegischen Tromsø gerade die neuen geopolitischen Realitäten im hohen Norden diskutierten, ging Mats Granskog im nahe gelegenen Norwegischen Polarinstitut seiner täglichen Arbeit nach. Fast zwei Jahre waren seit dem Ende der N-ICE2015-Expedition vergangen, noch immer standen Unmengen an Daten über die "neue" Arktis zur Auswertung bereit, und auch die Ereignisse des 19. Juni 2015 hatte Granskog nach wie vor in lebhafter Erinnerung. Als sich an jenem Spätfrühlingstag die Rinnen im Meereis rund um das Schiff auftaten, wurde dem Wissenschaftler schlagartig bewusst, dass alle Daten, an deren Erfassung er und sein Team so mühevoll gearbeitet hatten, einfach in den Tiefen des Arktischen Ozeans verschwinden könnten.
Schon zweimal hatten die Forscher ein solches Aufbrechen des Eises miterlebt und wussten daher, was in einer solchen Situation zu tun war. Dennoch standen sie einer gewaltigen und gefährlichen Aufgabe gegenüber. Mehr als zwei Tonnen Gerätschaften mussten geborgen werden – eine Tätigkeit, bei der die Wissenschaftler das Risiko eingingen, selbst ins Wasser zu fallen. "Das Schlimmste war eigentlich, das sich jedes Ausrüstungsteil auf einer separaten, winzigen Eisscholle befand", erinnert sich Granskog.
Mit einem kleinen Boot bahnte sich das Bergungsteam seinen Weg durch die sich stetig erweiternden Rinnen inmitten eines Labyrinths aus schwimmenden Eisschollen. Hatten die Wissenschaftler ein Stück Treibeis erreicht, auf dem Geräte installiert waren, gingen sie auf das Eis hinaus; zuweilen mussten sie kleinere Risse mit Hilfe einer Leiter, die sie quer über die Öffnung im Eis legten, überwinden. Es war ein hartes Stück Arbeit, doch Schritt für Schritt gelang es den Forschern, jedes Teil ihrer Ausrüstung abzubauen, zu verpacken und wieder wohlbehalten zur "Lance" zurückzubringen, wo es von einem Kran an Bord gehievt wurde.
Dieses Verfahren eignete sich sehr gut für kleinere Gerätschaften, doch zur Bergung des großen, zehn Meter hohen Wettermastes sah sich der Kapitän gezwungen, die etwa 60 Meter lange "Lance" einzusetzen. Bei diesem Manöver musste der Schiffsführer allerdings äußerst vorsichtig vorgehen: Er durfte nicht die Eisscholle, welche die Wetterstation trug, mit seinem voll beladenen Schiff, das mehr als 2000 Tonnen Wasser verdrängte, rammen und wie eine Glasscheibe zersplittern lassen – bevor der Wettermast zerlegt und an Bord gehoben werden konnte.
Nach rund acht Stunden intensiver Arbeit befanden sich schließlich alle Gerätschaften, Daten und Expeditionsteilnehmer wieder sicher an Bord. Die "Lance" nahm Kurs aufs offene Meer und drehte bald darauf nach Süden in Richtung Svalbard. Während er jetzt, knapp zwei Jahre später, in seinem gemütlichen Büro sitzt, spricht Granskog auch über einige Dinge, die während seines sechsmonatigen Aufenthalts auf dem Eis einen besonders nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterließen. Dazu zählt auch die rasante Geschwindigkeit, in der sich der Wandel in der Arktis vollzieht.
"Das sind keine geologischen Zeiträume mehr", erklärt der Wissenschaftler. "Diese Prozesse laufen bereits in menschlichen Zeitskalen ab." Granskogs Erfahrungen sind gleichzeitig ein Beweggrund für seine Motivation, einer solch ungewöhnlichen Arbeit nachzugehen: Er möchte die Arktis dokumentieren, bevor sie sich so tief greifend verändert, dass wichtige Spuren ihres ursprünglichen Zustands unwiderruflich verschwinden. Granskog und auch viele andere Forscher sind sich der dringlichen Notwendigkeit ihrer Arbeit bewusst – aus einem einfachen Grund: Die Arktis liefert uns gerade entscheidende Hinweise über die Richtung, in die sich unser Planet bewegt. Der Klimawissenschaftler Jim White achtet ebenfalls aufmerksam auf diese Signale. Auch er hat viele Stunden auf dem Eis – dem grönländischen Eisschild – verbracht; er kennt die Region ebenfalls sehr gut und ist gleichermaßen fasziniert und beunruhigt über das rasante Tempo jener Veränderungen.
"Wenn ich mir das gesamt System der Erde als einen Zug vorstelle und ich auf der Bahnstrecke eine günstige Stelle aussuchen sollte, an der man den Zug zum Entgleisen bringen könnte, während ich in meinem Gartenstuhl sitze und dabei zuschaue, dann würde ich ganz bestimmt die Arktis wählen", sinniert White.
Der Artikel erschien unter dem Titel "On thin ice" zuerst bei "bioGraphic", einem digitalen Magazin, das von der "California Academy of Sciences" publiziert wird.
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