Nationalpark Jasmund: Hier waltet die Natur, nicht der Förster
Wer den Wald an der Rügener Kreideküste über der Ostsee betritt, merkt gleich, dass dies kein gewöhnlicher Wald ist. Zu hoch sind die Bäume, die in den Himmel zu wachsen scheinen. Zu erhaben wirken die Buchen mit ihren silbergrauen Stämmen, die Menschen klein aussehen lassen. Das Kronendach bildet ein grünes Gewölbe, und die Inventur der Arten zeigt, dass es sich auch biologisch um eine Schatzkammer handelt.
Die Stubnitz, so heißt der Wald auf der Halbinsel Jasmund, gilt als Buchenurwald von morgen. Bereits jetzt beherbergt er seltene Arten, wie den für alte Wälder charakteristischen Kleinabendsegler (Nyctalus leisleri) und die Rauhautfledermaus (Pipistrellus nathusii) sowie spezialisierte Totholzkäfer, darunter die Urwaldreliktart Aeletes atomarius. Auch die langlebigen Flechtengemeinschaften sind typisch für historisch alte Wälder. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung im Auftrag des Nationalparkamtes, die auf Holzbewohner fokussierte.
Vor etwa 800 Jahren eroberten die Rotbuchen den Jasmund, wo sie heute den größten naturnahen Buchenwald an der südlichen Ostseeküste zwischen Dänemark und Litauen bilden. Obwohl die Buche in ganz Mitteleuropa natürlicherweise die dominante Art wäre, ist so ein Waldökosystem auf dem Kontinent heutzutage selten zu finden. Das liegt daran, dass der Nutzungsdruck auf die Wälder weltweit zunimmt. Vor diesem Hintergrund gewinnen Schutzgebiete wie der 1990 eingerichtete Nationalpark für Flora und Fauna immer mehr an Bedeutung; zumal Teile des Gebiets schon 1929 unter Naturschutz gestellt wurden. Dennoch sind die ältesten Buchen mit einem Alter von gut 260 Jahren vergleichsweise jung gegenüber den Verwandten in den Karpaten, wo bis zu 550 Jahre alte Buchen gefunden wurden.
Wälder, die sich über einen längeren Zeitraum relativ ungestört entwickeln konnten, zeichnen sich durch einen hohen Anteil an altem oder totem Holz aus. Wer durch den Nationalpark Jasmund wandert, bemerkt, dass es hier sehr »unordentlich« aussieht: Umgestürzte Bäume liegen kreuz und quer herum, ebenso dicke Äste und buschig belaubte Zweige. Selbst am Wegesrand kann man imposante Baumriesen liegen sehen, die ein Sturm aus der Erde gerissen hat und dessen nun frei in die Luft stehendes Wurzelwerk einen Menschen noch überragt. Solche Stämme sind oft bemoost und von Flechten und Pilzen überzogen, an manchen Stellen ist die Rinde von Löchern beziehungsweise Fraßgängen durchsetzt, bisweilen bröselt das Holz sogar. Klar ist: Hier waltet die Natur – wie in allen Nationalparks – und nicht der Förster (außer zur Gefahrenabwehr).
Totholz als Lebensgrundlage
Das ist gut für die ökologisch wichtigen Zersetzer, wie Insekten, Pilze und Bakterien, die sich ungestört ans Werk machen können. Das von ihnen hinterlassene morsche Holz bietet eine Fülle von Nischen und Verstecken für eine Vielzahl von Tieren. In Baumhöhlen nisten Spechte, Fledermäuse, Käuze. Totholz ist die Basis des Lebens in einem Waldökosystem; und ein mitteleuropäischer Buchenwald beherbergt von Natur aus rund 4300 Pflanzen- und mehr als 6700 Tierarten, darunter viele Käfer.
Von den in Deutschland vorkommenden Käfern sind rund 1400 Arten xylobiont, das heißt, sie sind auf Alt- oder Totholz angewiesen. Sie ernähren sich von absterbendem oder totem Holz, von Holz abbauenden Pilzen oder anderen Organismen, die im oder am Holz leben. »Damit leisten sie einen wesentlichen Beitrag zum Stoffkreislauf des Waldes«, erläutert der Käferspezialist Stephan Gürlich im »Forschungsband 1 aus dem Nationalpark Jasmund«. »Sie tragen zum Abbau von Totholz bei, schaffen durch ihre Fraßtätigkeit Nistmöglichkeiten für andere Organismen und dienen Vögeln, Fledermäusen und Eidechsen als Nahrung.«
Allerdings stehen 60 Prozent der xylobionten Käfer auf der Roten Liste der bedrohten Arten (entweder bundesweit und/oder von Mecklenburg-Vorpommern) und ein großer Teil von ihnen gilt als stark gefährdet. In den Wirtschaftswäldern hier zu Lande finden sie nicht ausreichend Lebensräume mit liegendem oder stehendem Totholz in unterschiedlichen Phasen der Zersetzung. Auch Bäume mit großen Höhlen fehlen weitgehend, da sich diese erst bei alten Exemplaren bilden. Das Vorhandensein solcher Käfer ist somit ein wichtiger Indikator für die Naturnähe eines Waldes. Während der Untersuchungsphase durchstreifte der Biologe das Gebiet mit einem ganzen Arsenal von Käferfanggeräten wie Fensterfallen, Flugköderfallen, Leimringen oder Kescher, und er siebte das bröselnde und verpilzte Holz durch. Auf diese Weise erbeutete er binnen zwei Jahren fast 11 000 Käfer, die sich 421 Arten zuordnen ließen. Die Hälfte von ihnen machten die »Holzkäfer« aus, und fast ein Viertel der gefundenen Arten befinden sich auf einer Roten Liste.
Große Vielfalt an Fledermäusen
Am stärksten gefährdet sind so genannte Urwaldreliktarten, die auf Grund intensiver Waldnutzung in ganz Mitteleuropa nur noch selten vorkommen oder bereits ausgestorben sind. Diese Käfer brauchen zerfallendes, totes Holz, und das kontinuierlich, weil sie wenig mobil sind. Sie gelten darum nicht nur als Indikatoren für die Strukturqualität eines Waldes, sondern auch für eine Habitatstradition, wie sie nur in historisch alten Wäldern zu finden ist.
Im Jasmund, dem kleinsten Nationalpark Deutschlands, hat der Käferspezialist mit Aeletes atomarius zwar nur eine dieser Arten nachweisen können, diese »allerdings in beiden Untersuchungsjahren in mehreren Proben und mit zahlreichen Individuen«. Von der geringen Größe des Gebiets abgesehen liegt das möglicherweise auch am besonderen Standort des Waldes, der einem maritimen Klima und nicht selten starkem Wind ausgesetzt ist. Beides könnte eine Rolle als begrenzende Faktoren spielen, so Gürlich, dafür sprächen ähnliche Untersuchungsergebnisse im urtümlichen Wald der streng geschützten Insel Vilm, die Rügen vorgelagert ist und sich ebenfalls durch viel Totholz auszeichnet.
Eine weitere Tiergruppe, die zum Reich der alten Buchenwälder gehört, sind die Fledermäuse. Mit mindestens zehn Arten, welche die Ökologen Henrik und Annette Pommeranz und Christoph Paatsch während eines Untersuchungszeitraums von mehreren Monaten nachgewiesen haben, sowie weiteren vier bis fünf, die bereits vorher im Jasmund gesichtet wurden, zeichnet sich der Nationalpark durch eine große Vielfalt an Flattertieren aus.
Spezialisierte Flechten sind an alte Wälder gebunden
Faunistisch besonders interessant sind dabei der Kleinabendsegler und die Große Bartfledermaus, die im nördlichen Vorpommern sonst kaum vorkommen. Der Kleinabendsegler ist eine mittelgroße, typische Waldfledermaus, die vor allem in großen und reich strukturierten Laubwäldern mit viel Altholz lebt. Als Quartier bevorzugt sie natürlich entstandene Baumhöhlen. Die Große Bartfledermaus, die trotz ihres Namens zu den kleinen Fledermäusen gehört, aber ein langes Fell besitzt, jagt vor allem im Laubwald und oft in der Nähe von Gewässern.
Die finden sich im Nationalpark Jasmund reichlich, wie der Wanderer am mannigfaltigen Plätschern hören kann. Es stammt aus zig Bächen und Rinnsalen, die den Wald durchströmen. Wegen des starken Gefälles erinnern sie an Gebirgsbäche. Das Wasser ist klar, man sieht bis auf den Grund, und mit etwas Glück kann man den bunt schillernden Eisvogel beobachten. Ein weiterer typischer Waldbewohner ist die Rauhautfledermaus, die ebenfalls die Nähe von Gewässern sowie einen hohen Anteil von Alt- oder Totholz schätzt.
Für Fledermäuse, so das Ergebnis der Gutachter, ist die Stubnitz bereits heute als Sommerlebensraum und auf dem Durchzug bedeutsam. Und das wird in den kommenden Jahrzehnten mit dem Alter des Waldes noch zunehmen, wenn sich in den Buchen verstärkt Stammrisse und Höhlen bilden.
»Wir können nun den wunderbaren Prozess miterleben, durch den im Lauf der Zeit ein Buchenurwald entsteht.«
Stephanie Puffpaff
Alte Wälder, in denen lange Zeit nicht gerodet wurde, bergen auch eine deutlich größere Flechtenvielfalt als junge Wälder. Auf Grund ihrer symbiotischen Lebensweise aus Pilzen und Grünalgen oder Zyanobakterien können sich Flechten einerseits gut an verschiedenste Standorte, auch extreme anpassen, wie Wüsten oder arktische Regionen.
Auf der anderen Seite gibt es spezialisierte Arten, die an alte Wälder gebunden sind und empfindlich auf Störungen reagieren. Diese meist seltenen Arten eignen sich deshalb besonders gut als Indikatoren. Neun davon hat der Biologe René Thiemann im Jasmund nachgewiesen; zu ihnen gehören die Dicke Gravurflechte und Laurers Großsporflechte, die in ganz Deutschland vom Aussterben bedroht sind. Mit 43 Arten insgesamt zeichnet sich die Flechtenflora auf den Stämmen der Buchen im Jasmund ebenfalls durch eine hohe Vielfalt aus, von ihnen stehen 19 auf der bundesweiten Roten Liste. Und manche der Flechten gedeihen nur in »guter« – nicht mit Schadstoffen belasteter – Luft.
Für bedrohte Tier- und Pflanzenarten stellt der Nationalpark Jasmund also einen wichtigen Rückzugsraum dar. Die Naturnähe der Stubnitz heute zeige, so das Fazit der Studie, dass er sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten zu einem Waldökosystem ähnlich dem der Karpaten entwickeln kann. »Die Untersuchung war der Startpunkt für eine Dauerbeobachtung der natürlichen Sukzession«, sagt Stephanie Puffpaff, die das Sachgebiet Forschung und Monitoring im Nationalpark leitet. »Wir können nun den wunderbaren Prozess miterleben, durch den im Lauf der Zeit ein Buchenurwald entsteht.«
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