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Lobbyismus: "Auf Zuruf eines Interessenverbands"

Das Innenministerium stoppt per Dekret eine wissenschaftliche Publikation über Wirtschaft und Gesellschaft – wegen einer Beschwerde aus der Industrie. Der Vorfall verdeutlicht einen lange schwelenden Streit über Wirtschaft im Schulunterricht.
Klandestine Gesprächsrunde

Mitte Juli dieses Jahres ist die Welt für den Arbeitgeberverband BDA wieder in Ordnung. Gerade hat die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) die Auslieferung des Sammelbands "Ökonomie und Gesellschaft" auf Weisung des Innenministeriums eingestellt. Als "vergriffen" ist die Publikation seitdem gekennzeichnet, nicht einmal das Inhaltsverzeichnis ist einsehbar.

Dabei ist der Band unter Federführung der Bielefelder Soziologin Bettina Zurstrassen erst im Februar erschienen. In zwölf Kapiteln sind dort so genannte "Bausteine für die schulische und außerschulische Bildung" zusammengestellt. Darin geht es um die Situation von Entwicklungsländern oder um die Europäische Union als "größten Binnenmarkt der Welt". Aber das Themenspektrum reicht weiter. In einem Kapitel erörtern die Autoren, welche Verantwortung die Konsumenten in der Marktwirtschaft haben. Ein anderer Baustein beschäftigt sich mit dem Für und Wider wirtschaftlichen Wachstums in einer Welt mit endlichen Ressourcen. Und ein Baustein ist schließlich auch der Rolle des Lobbyismus gewidmet. Es sind vor allem Passagen aus diesem Kapitel, die bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) für Verstimmung sorgen.

Anfang Juni macht dessen Hauptgeschäftsführer Peter Clever seinem Ärger in einem Brief Luft. Die Publikation des Bands durch die Bundeszentrale sei "skandalös und nicht hinnehmbar", beschwert er sich bei deren Präsidenten Thomas Krüger und beim Bundesinnenministerium. Die BPB begebe sich "auf ein Niveau einseitiger Propaganda gegen die Wirtschaft", reklamiert Clever weiter. Die Lehr- und Lernmaterialien zeichneten "ein monströses Gesamtbild von intransparenter und eigennütziger Einflussnahme der Wirtschaft auf Politik und Schule". Und er fordert, "den Band in dieser Form nicht weiter zu vertreiben".

Ausgebremst: Der Sammelband "Ökonomie und Gesellschaft" auf der Website der BPB.

Anscheinend hat der Arbeitgeberverband BDA einen guten Draht ins Ministerium. Denn von Berlin aus ergeht kurz darauf die Aufforderung an die Bundeszentrale, "von der weiteren Auslieferung Abstand zu nehmen", so schildert die BPB den Ablauf. In den Augen der Autoren des Bands ein ungeheurer Vorgang. Von diesem ministeriell verfügten Vertriebsstopp wurden sie komplett überrascht. "Dieses Politikum war nicht vorauszusehen", sagt Herausgeberin Bettina Zurstrassen.

Andreas Fischer hat seit knapp 20 Jahren den Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg inne und ist einer der insgesamt 16 Autoren. Fischer ist fassungslos: "Ich weiß nicht, was politisch problematischer ist. Dass der Geschäftsführer des BDA die Muße hat, Unterrichtsmaterialien zu sichten, sie falsch interpretiert und sich dann beim Innenministerium beschwert. Oder dass ein Ministerium auf Zuruf eines Interessenverbands scheinbar ungeprüft ein Veröffentlichungsverbot ausspricht."

Damit steht Fischer nicht allein. Wer sich in diesen Tagen unter Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern umhört, der trifft allenthalben auf Unverständnis. Dass der Arbeitgeberverband BDA so unverhohlen Einfluss zu nehmen versucht, sorgt ebenso für Kopfschütteln wie das Vorgehen der Bundeszentrale für politische Bildung. Auch Wissenschaftler, die darauf Wert legen, dass sie die Positionen der Autoren des Sammelbands nicht unbedingt teilen, sind irritiert. Den verfügten Vertriebsstopp empfinden sie als Brüskierung der Kollegen.

"An Einseitigkeit nicht zu überbieten"

Die Schärfe der Auseinandersetzung verwundert. Auch Andreas Fischer ist überrascht: "Wenn wir uns die Materialien für den Schulunterricht anschauen, dann präsentiert der Band mit seinen zwölf Unterrichtsvorschlägen konstruktive Vorschläge, sich mit der komplexen Welt zu beschäftigen. Die Materialien illustrieren lediglich, dass die Welt nicht nur ökonomisch geprägt ist, sondern dass auch politische, soziale oder ökologische Fragen geklärt werden müssen."

Beim BDA ist man da anderer Meinung. "Der Band ist an Einseitigkeit und Indoktrination kaum zu überbieten", lässt Peter Clever wissen. Er spricht von einer Diffamierung der Wirtschaft und von Propaganda. Das ist starker Tobak.

Aber auch auf der anderen Seite werden schwere Geschütze aufgefahren. In einer Stellungnahme ergreift die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) Partei für ihre Fachkollegen. Der BDA habe Zitate absichtlich aus dem Kontext gerissen und verfälschend dargestellt, so der Vorwurf. Der Vertriebsstopp durch das Bundesinnenministerium ohne vorherige Anhörung der Betroffenen sei inakzeptabel. Insgesamt käme der Vorfall dem Versuch gleich, "der Soziologie das Recht auf Beschäftigung mit ökonomischen Themen abzusprechen". Und der Vorstand der DGS reklamiert gar einen "massiven Eingriff des Ministeriums in die Freiheit der Wissenschaft".

Für Reinholdt Hedtke, Wirtschaftssoziologe von der Universität Bielefeld, ist die Angelegenheit ein "Musterbeispiel für die Strategie von Wirtschaftsverbänden, die Deutungshoheit über die ökonomische Bildung zu gewinnen und alternative wissenschaftliche Ansätze zu verdrängen".

Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit? Indoktrination? Propaganda? Diese Eskalation des Streits geht nicht allein auf das Konto des überschaubaren Sammelbands. Die gegenseitigen Vorwürfe sind Ergebnis einer schon länger schwelenden Fehde. In ihr prallen grundverschiedene ökonomische Lager aufeinander.

Auf der einen Seite stehen die Vertreter der neoklassischen Wirtschaftslehre, die von einer utilitaristischen Ethik, dem Modell des "Homo oeconomicus" und einer grundsätzlichen Funktionalität der Marktwirtschaft ausgeht. Auf der anderen Seite befinden sich die Vertreter solcher Denkansätze, die sich selbst als heterodoxe Ökonomie bezeichnen. Ihnen gemein ist, dass sie das Primat des Marktes kritisch sehen und ökonomische Fragen im Kontext sozialer, kultureller oder ökologischer Fragen diskutieren. Die Autoren des Sammelbands gehören zur zweiten Gruppe. Das ist legitim.

Streitpunkt Wirtschaft in der Schule

So sieht das übrigens auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundeszentrale. Das Gremium hat sich am 16. Oktober ausführlich mit der Angelegenheit befasst, die Vorwürfe geprüft und sich mehrheitlich dafür ausgesprochen, dass die Publikation wieder regulär im Programm verfügbar gemacht wird. Dieser Empfehlung hat sich jetzt auch das Bundesinnenministerium angeschlossen. Allerdings, so teilt das BMI mit, wird dem Band voraussichtlich "ein Hinweisblatt beigelegt, wonach man ergänzende Literatur hinzuziehen sollte, wenn man das gesamte wissenschaftliche Spektrum zum Themenkomplex zur Kenntnis nehmen möchte".

Ende gut, alles gut? – Nicht so ganz. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände möchte die jüngste Entwicklung und den Umstand, dass der Sammelband in Kürze wieder verfügbar sein wird, selbst auf mehrfache Nachfrage nicht kommentieren. Ein Diskurs über die Rolle des "unternehmerischen Engagements in Politik und Gesellschaft" sei aber erwünscht, beteuert man beim BDA. Allerdings müsse dabei der "Beitrag zum Allgemeinwohl (…) stärker thematisiert werden, auch um Mut zum Unternehmertum zu machen."

Bei den Autoren des Sammelbands werden solche Spielregeln für den Diskurs vermutlich auf wenig Gegenliebe stoßen. In den Augen von Tim Engartner von der Goethe-Universität Frankfurt hat die Auseinandersetzung zwischen den Lagern ohnehin eine neue Qualität erreicht. "Wir haben hier seit Urzeiten erstmalig wieder einen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit erlebt", sagt der Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften.

Der Knackpunkt: Wirtschaft in der Schule

Er hat für den Sammelband das umstrittene Kapitel über die Rolle des "Lobbyismus als 5. Gewalt" beigesteuert. Die massive Einflussnahme durch die BDA passt für ihn ins Bild. Die Unternehmerseite sei an verschiedenen Fronten aktiv und erfolgreich, stellt er etwas konsterniert fest. "Da gibt es die direkt Einflussnahme auf Lehrpläne wie zuletzt in Baden-Württemberg oder eben die Bereitstellung von kostenlosen Unterrichtsmaterialien. 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen bieten das an."

Klub der Verlierer

Am Ende hat das Gerangel gleich mehrere Verlierer produziert. Geschlagen vom Feld geht zunächst die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Die BDA muss – wenngleich zähneknirschend – hinnehmen, dass die Publikation bald wieder erhältlich sein wird. Mehr noch: Die Affäre und die jetzt stattfindende Berichterstattung über die (versuchte und letztlich doch erfolglose) Einflussnahme ist schließlich allerbeste Werbung für die so heftig kritisierte Publikation. Deren Bestellzahlen werden garantiert in die Höhe schnellen. Streisand-Effekt nennt man das.

Beschädigt sind aber auch die Herausgeber und Autoren des Bands. Wenn Wissenschaftlern von so prominenter Seite diffamierende Absichten, Einseitigkeit, Propaganda und Indoktrination vorgeworfen wird, dann hinterlässt das Spuren. Tim Engartner gibt zu bedenken, dass "solche Anfeindungen auch einen Reputationsverlust" bedeuten können.

Verlierer ist aber auch die Bundeszentrale für politische Bildung selbst. Der Vorfall wirft nicht das schmeichelhafteste Licht auf die Institution, die in ihrem Gründungserlass auf eine "politisch ausgewogene Haltung" verpflichtet wurde. Im Vorwort zum Sammelband lobte BPB-Präsident Thomas Krüger noch ausdrücklich, dass darin auch "alternative ökonomische Paradigmen zum derzeit in Wirtschaft und Politik dominierenden Handlungsmodell des Homo oeconomicus" diskutiert werden.

Doch ein Wink aus dem Bundesinnenministerium genügte, um den solchermaßen angepriesenen Band postwendend aus dem Programm zu nehmen. Und das offensichtlich ohne eine substanzielle Erörterung der im Raum stehenden Vorwürfe, ohne eine Anhörung der verantwortlichen Herausgeber. Das zeigt, wie kurz die Leine ist, an der die Bundeszentrale für politische Bildung geführt wird. Und es zeigt, wie unverhohlen Lobbyverbände Einfluss nehmen wollen und auch können.

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