Ordnungsbedürfnis: »Würdest du mich wirklich lieben, würdest du mehr aufräumen!«
Der Wäschekorb quillt über, in der Spüle stapeln sich die Töpfe, und im Bad liegen schmutzige Handtücher kreuz und quer auf dem Boden verteilt. Während sich manche Menschen vor einem solchen Szenario mehr gruseln als in der Geisterbahn, haben andere dafür nur ein müdes Schulterzucken übrig: Unordnung fällt ihnen nicht besonders unangenehm auf, manchmal sagen sie sogar von sich selbst, sie bräuchten das kreative Chaos.
Unterschiedliche Menschen haben meist ein unterschiedliches Bedürfnis nach Sauberkeit und Ordnung. Das weiß jeder, der schon einmal mit anderen zusammengelebt hat. Nicht nur in Paarbeziehungen sorgt das Thema regelmäßig für Zündstoff: Auch Studienfreunde zerstreiten sich mitunter über einer unordentlichen Wohnung, in vielen WGs gibt es nicht umsonst Putzpläne.
Doch warum fühlen sich manche Menschen nur dann wohl, wenn eine Wohnung so aussieht, als hätte ihr Besitzer alle Aufräumratgeber von Marie Kondo verschlungen, während sich andere lieber als das Genie betrachten, welches das Chaos überblickt? Kann man sich einen gewissen Sinn für Ordnung antrainieren? Und wie gelingt das Zusammenleben trotzdem, wenn die Bedürfnisse nach Ordnung auseinanderdriften?
Chaotische Personen haben keinen guten Ruf
Das Wort »Ordnung« beschreibt per Definition einen durch Ordnen hergestellten, übersichtlichen Zustand. In vielen Ländern gilt eine aufgeräumte, saubere Umgebung als sozial erwünscht. Chaos und Dreck sind hingegen nicht sonderlich vorzeigbar. Das ergab auch eine Reihe von Experimenten, die der Psychologe Terrence G. Horgan an der University of Michigan im Jahr 2019 gemeinsam mit zwei Kolleginnen durchführte. Sie brachten Testpersonen entweder in ein sehr ordentliches oder sehr unordentliches Büro. Dann wurden diese gebeten, die Persönlichkeitseigenschaften der Forscherinnen und Forscher einzuschätzen, die dort vermeintlich arbeiteten. Menschen mit chaotischen Büros betrachteten die Teilnehmer als weniger gewissenhaft, weniger umgänglich und sogar als neurotischer als ihre ordentlichen Kollegen. Unordentlichen Personen werden also eher negative Eigenschaften zugeschrieben.
Warum wir Ordnung einen so hohen Wert beimessen, ist unklar. Laut dem Psychologen Brent Roberts von der University of Illinois in Urbana-Champaign knüpft der Glaube, Ordnung sei eine Art erwünschter Zustand, auch an die evolutionären Wurzeln des Menschen an, als dieser noch in der in der Savanne lebte, weitläufig, mit wenigen Reizen und wenig Ablenkung. Die wissenschaftliche Evidenz dafür, dass eine aufgeräumte Umgebung tatsächlich glücklicher oder weniger gestresst macht, ist bislang allerdings dünn.
Paare arbeiten sich oft am Konflikt nach mehr Ordnung ab, obwohl das eigentliche Problem die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft ist
Auch das gängige Vorurteil, Frauen seien in der Regel ordentlicher als Männer, lässt sich durch Studien eher nicht bestätigen. Es gibt zwar Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass sich Frauen als ordnungsliebender einschätzen als Männer, jedoch sind die Unterschiede im Verhältnis zu den Unterschieden innerhalb der Geschlechter klein und lassen sich auch nicht für alle Kulturen gleichermaßen bestätigen. Da die Hausarbeit in Partnerschaften allerdings immer noch recht ungleich verteilt ist, müssen sich Frauen häufiger mit den Themen Ordnung und Sauberkeit auseinandersetzen – und bekommen deshalb womöglich auch eher den gesellschaftlichen Erwartungsdruck zu spüren, erklärt die Diplompsychologin und Paartherapeutin Julia Bellabarba. Einer Umfrage aus dem Jahr 2015 zufolge verbrachten Frauen an Werktagen mehr als doppelt so viel Zeit mit Waschen, Kochen und Putzen wie ihre Partner. Umfragen aus den Jahren 2020 und 2021 weisen zudem darauf hin, dass sich dieses Ungleichgewicht durch die Corona-Pandemie noch verstärkt hat.
Häufig eskaliert der Streit um das Thema Ordnung in Beziehungen gerade dann, wenn ein Paar sein erstes Kind bekommen hat, berichtet Bellabarba. Der Druck auf Frauen steige dann, häufig werde ihr Umgang mit Kindern und Haushalt von der Außenwelt kommentiert. »Viele Frauen bekommen das Gefühl, nicht zu genügen und ständig zu versagen«, sagt die Therapeutin. Ein ordentliches Zuhause kann dann eine Strategie sein, den empfundenen Kontrollverlust auszugleichen. In ihrer Praxis beobachtet Julia Bellabarba immer wieder, wie sich Paare am Konflikt nach mehr Ordnung abarbeiten, obwohl das eigentliche Problem eher die himmelschreiende Ungerechtigkeit in der Gesellschaft ist.
»Ein ordentlicher Mensch bleibt in der Regel ein ordentlicher Mensch«
Wie ordnungsliebend jemand im Einzelnen ist, dürfte – ähnlich wie andere Persönlichkeitsmerkmale – hauptsächlich von einem Zusammenspiel aus Genen und Umweltfaktoren abhängen. Das legen etwa Studien mit ein- und zweieiigen Zwillingen nahe. »Wenn man die Ausprägung bestimmter Persönlichkeitseigenschaften von Eltern mit denen ihrer Kinder vergleicht, besteht zwar ein Zusammenhang, allerdings bloß ein geringer«, sagt auch Brent Roberts. Nur gewissenhafte Eltern zu haben, reicht also nicht aus, um später einmal selbst ordentlich zu werden.
Dennoch werden die Weichen für die Ordnungsliebe vermutlich vorwiegend in der Kindheit und Jugend gestellt. Einige Studien deuten darauf hin, dass die Ausprägungen der fünf großen Persönlichkeitsmerkmale Offenheit für Erfahrungen, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus und Gewissenhaftigkeit bei einem Menschen im Lauf des Lebens relativ stabil sind. Das gilt vor allem für die Gewissenhaftigkeit, zu der auch Ordnungsliebe als eine Facette zählt. »Ein ordentlicher Mensch bleibt in der Regel ein ordentlicher Mensch«, sagt Brent Roberts – auch wenn er einräumt, dass es generell zum Thema Ordentlichkeit sehr wenig Forschung gibt. Franz Neyer und Jens Asendorpf sprechen in ihrem Buch »Psychologie der Persönlichkeit« ebenfalls davon, dass Menschen im Lauf ihres Lebens eine immer stabilere Persönlichkeitsstruktur entwickeln.
Das bedeute allerdings nicht, dass der Charakter eines Menschen gänzlich unveränderlich sei, erklärt Roberts: »Auch wenn in diesen Studien nicht explizit erforscht wurde, ob Menschen lernen können, ordentlicher zu sein, können sie Aspekte ihrer Persönlichkeit sehr wohl gezielt verändern.«
Einfache Tricks können beim Aufräumen helfen
Wer aus eigenem Antrieb sein Leben gerne ein wenig besser organisieren möchte, für den gibt es bestimmte Strategien, die wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit hin untersucht wurden. Beispielsweise David Allens Selbstmanagementmethode »Getting Things Done«. Sie bezieht sich im Kern eher auf die generelle Organisation des Alltags und soll dazu dienen, einen besonders effektiven Workflow zu entwickeln. Dazu werden alle anstehenden Aufgaben in Listen gegliedert. Eine Strategie zur Bewältigung der Aufgaben ist die »Zwei-Minuten-Regel«: Dauert eine Tätigkeit weniger als zwei Minuten, sollte sie umgehend erledigt werden. Sie bezieht sich bei David Allen zwar nicht explizit auf das Aufräumen, kann aber auch darauf angewendet werden.
Aufräumratgeber empfehlen ebenfalls, lieber täglich zehn Minuten Ordnung zu schaffen, als eine stundenlange Aufräumaktion tagelang vor sich her zu schieben. Das Aufräumen fällt zudem leichter, wenn jeder Gegenstand einen festen Platz hat. Dieser sollte sinnvoll gewählt sein, zum Beispiel montiert man einen Schlüsselkasten am besten direkt neben der Eingangstür.
»Glückliche Paare erkennen, welche Konflikte nicht lösbar sind, und lernen, mit Differenzen zu leben«Julia Bellabarba, Paartherapeutin
Untersuchungen zufolge lässt sich das eigene Verhalten – und im moderaten Umfang auch die eigene Persönlichkeit – am besten durch möglichst konkrete Ziele verändern. Dabei helfen zum Beispiel Wenn-dann-Pläne. Statt sich vorzunehmen, allgemein ordentlicher zu sein, könnte man etwa den Plan fassen: Wenn ich Geschirr dreckig mache, dann spüle ich es direkt ab. Oder: Wenn ich mich umziehe, dann wandert die getragene Kleidung sofort in den Wäschekorb. So tastet man sich in kleinen Schritten an sein Ideal heran.
Aus dem Konflikt nach mehr Ordnung keinen Machtkampf machen
Doch muss man zwingend selbst zum Ordnungsfanatiker werden, nur weil beispielsweise der Partner ein stärkeres Bedürfnis nach Sauberkeit und Ordnung hat? Julia Bellabarba sieht das nicht so. »Das Problem besteht nicht darin, dass zwei Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben, sondern wie sie mit diesen unvermeidbaren Differenzen umgehen«, sagt die Diplompsychologin und Paartherapeutin. Das zeigen etwa Untersuchungen mit Paaren, die lange glücklich zusammen sind. »Glückliche Paare erkennen, welche Konflikte nicht lösbar sind, und lernen, mit Differenzen zu leben.«
Bellabarba beobachtet in der Praxis oft, wie Streitereien über vermeintliche Kleinigkeiten zu Machtkämpfen eskalieren. Die werden im Lauf der Zeit immer aggressiver, die Vorwürfe, die man sich gegenseitig macht, immer destruktiver. Am Ende ruft der eine vielleicht: »Würdest du mich wirklich lieben, würdest du Rücksicht auf meine Bedürfnisse nehmen und mehr aufräumen.« Und der andere erwidert: »Wenn du mich wirklich lieben würdest, würdest du mich so akzeptieren, wie ich bin, ohne mir ständig Vorwürfe zu machen.« »Es geht dem Einzelnen dann nicht mehr um die Sache an sich, sondern darum, zu gewinnen«, erklärt die Expertin.
Will man so wohnen, wie es den eigenen Bedürfnissen entspricht, muss man im Grunde allein leben. Teilt man den Haushalt hingegen mit anderen Menschen, sollte allen Beteiligten klar sein: Ich muss auch Sachen akzeptieren, die mir eigentlich tierisch auf die Nerven gehen. Genau das würden auch Paare machen, die lange Zeit miteinander glücklich sind, erklärt Julia Bellabarba. »Bei ihnen herrscht eine Mischung aus hoher Akzeptanz, Distanz, auch zu sich selbst, Wohlwollen und Humor.« Natürlich mache man auch immer wieder kleine Schritte aufeinander zu, völlig einig werde man sich in manchen Punkten aber nie sein. Und genau damit zu leben, sagt Bellabarba, sei die Kunst.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.