Strukturforschung: Aufstieg in die atomare Liga
Wer bauen will, sollte besser wissen, welche Form die Steine haben. Keine Selbstverständlichkeit im Nanoreich der Moleküle. Eine neue mathematische Rechenvorschrift verspricht nun, die Struktur kleiner und mittlerer Verbindungen schnell und präzise zu ermitteln.
Wer seine Liebsten zum Geburtstag ärgern will, der schenkt ihnen ein Puzzle. Vorzugsweise 1000 Teile, ohne Motiv, dafür hübsch einfarbige, individuell verschieden geformte Teilchen. Das gibt es tatsächlich im Spielwarenhandel zu kaufen. Noch eine Stufe gemeiner wird es, wenn die Puzzleteile alle gleich punktförmig sind, gar keine Farbe haben und als Vorlage nur eine lange Liste mit den unterschiedlichen Abständen zwischen ihnen existiert, anzuordnen in drei Dimensionen. Solche Fiesheiten sind nirgends zu erwerben, sondern man muss sie sich mit einem anstrengenden Studium verdienen. Und alleine am heimischen Küchentisch sind diese Monster auch nicht zu lösen. Da hilft nur geballte Computerkraft – und selbst die bringt häufig nicht mehr als eine kümmerliche Näherung.
So verrückt zu sein, um sich mit derartigen Problemen die Zeit zu verderben, ist eine unbestrittene Domäne der Wissenschaft. Doch seien wir fair: Am Ende der Quälerei lockt ein faszinierender Preis – die räumliche Struktur eines Moleküls in atomarer Detailauflösung. All die schönen Bilder in Schul- und Lehrbüchern, Filmen und Dokumentationen, von DNA-Wendeltreppen und Proteinfaltungen verdanken ihre Entstehung jenen Ultrapuzzlern, die aus Daten von Durchstrahlungen mit Röntgenlicht und Neutronen, Spitzen aus hochmagnetischer Resonanz und zackigen Spektren zunächst eben jene Abstandslisten erstellt und anschließend mit Intuition und Rechnerei den Aufbau der Moleküle entschlüsselt haben. Nicht selten stecken Jahre angestrengter Forschung und Heerscharen hoffnungsvoller Doktoranden hinter einer einzelnen Struktur.
Das Verfahren könnte in Zukunft einfacher und schneller werden. Mehr noch: Musste bislang die Probe in hoch geordneten Kristallen vorliegen, um verlässliche Aussagen zu ermöglichen, genügt fortan ein Pulver ohne periodische Muster. Möglich wird dies durch verbesserte Röntgentechniken und einem Auswertungsverfahren, das seine Entwickler den "Liga-Algorithmus" nennen.
Die neue Methode stammt von einem Wissenschaftlerteam um Simon Billinge von der Michigan State University und setzt an der Liste mit den Abständen zwischen jeweils zwei Atomen an, der so genannten pair distribution function (PDF). Um welche Atome es sich handelt und wo sie innerhalb des Moleküls zu finden sind, verrät die PDF nicht, nur wie weit es von Atom A zu Atom B ist, von Atom C zu Atom D und so fort, wobei es sich bei Atom A und Atom D durchaus um ein und dasselbe Atom handeln könnte. Eine Mammutaufgabe, daraus eine passende Struktur zu ermitteln, an der selbst modernste mathematische Finessen wie genetische Algorithmen sich mitunter die Zähne ausbeißen.
Das Liga-Verfahren der US-Amerikaner begegnet dem Datenwust mit einem ganz bescheidenen Anfang: Es pickt sich zufällig eine Verbindung zwischen zwei Atomen heraus. Diese beiden verknüpft es mit einem dritten Atom zu einem weiterhin 100-prozentig passenden Gespann. Daran kommt ein viertes Atom, ein fünftes und so fort. Ab der vierten Stufe kommt es natürlich zu Problemen: Die Abstände im Modell passen nicht mehr zu den Vorgaben aus der Liste. Es gilt folglich, schlechte Varianten auszusieben, unpassende Atome zu entfernen und neue einzusetzen. Und genau für diesen entscheidenden Vorgang haben die Forscher sich an den europäischen Fußball-Ligen orientiert.
Die Atom-Liga der Strukturaufklärung besteht aus so vielen Ebenen, wie das betreffende Molekül Atome hat. Bei einem thematisch passenden "Buckyball" C60 also 60 Ebenen. In jeder davon gibt es zehn "Teams", wobei ein "Team" in diesem Fall eine denkbare Zusammenstellung von Atomen ist. In der untersten Liga finden wir Teams aus nur jeweils einem Atom. In der zweituntersten Ebene sind es zweiatomige Mannschaften, darüber spielen die Dreier-Teams ... bis wir in der Bundesliga zehn Varianten mit vollen 60 Atomen bewundern dürfen. Deren Anordnung entspricht selbstverständlich überhaupt nicht der wirklichen Buckyball-Struktur. Darum beginnen nun die Spiele.
Für jedes Team bestimmt der Computer nach erprobten mathematischen Regeln, wie sehr die Anordnung der Atome von den Vorgaben der Liste abweicht. Eine zufällig ausgewählte Mannschaft spielt sich dann durch die Ebenen. Die Entscheidung zwischen Sieg und Niederlage hängt dabei vom Grad der Abweichungen ab. Je besser die Atome sitzen, umso eher steigt das Team auf, wobei jeder Schritt nach oben mit der Verpflichtung eines weiteren Atoms verbunden ist. Gute Teams gelangen so schnell nach oben, während die Verlierer beim Abstieg rechnerisch ermitteln, welche ihrer Atome besonders schlecht sitzen und diese dann rauswerfen.
Die Ähnlichkeit der Teams mit den Listenwerten wächst auf diese Weise in ungekannt kurzer Zeit an, bis schließlich der Spitzenreiter eine nahezu vollständige Übereinstimmung aufweisen kann. In Tests mit idealisierten Strukturen von bis zu 150 Atomen und mit echten Messdaten eines C60-Buckyballs errechnete sie volle 100 Prozent – und das in Zeitspannen, die verglichen mit genetischen Algorithmen halb so lang waren oder gar nur bei rund einem Zehntel der üblichen Dauer lagen.
Noch ist die Liga-Methode nicht allgemein anerkannter Weltmeister. Doch in ihr steckt das Potenzial für eine Revolution in der Strukturaufklärung. Im Gegensatz zu anderen Verfahren nutzt sie in ihrer reinen Form keinerlei Zusatzinformationen oder willkürliche Annahmen, sondern geht einzig von den Abstandsdaten aus. Gibt man jedoch sinnvolle Vorgaben ein – beispielsweise feste Kombinationen bekannter aromatischer Ringe – oder kombiniert man Daten aus verschiedenen Messungen mit unterschiedlichen Techniken – etwa von Röntgenstreuungen und NMR-Messungen –, sollte der Liga-Algorithmus selbst komplexe Makromoleküle analysieren können. Wozu früher jahrelange Arbeit nötig war, könnte dann in Monaten oder Wochen erledigt sein. Ein Triumph für den Hochleistungspuzzlesport.
So verrückt zu sein, um sich mit derartigen Problemen die Zeit zu verderben, ist eine unbestrittene Domäne der Wissenschaft. Doch seien wir fair: Am Ende der Quälerei lockt ein faszinierender Preis – die räumliche Struktur eines Moleküls in atomarer Detailauflösung. All die schönen Bilder in Schul- und Lehrbüchern, Filmen und Dokumentationen, von DNA-Wendeltreppen und Proteinfaltungen verdanken ihre Entstehung jenen Ultrapuzzlern, die aus Daten von Durchstrahlungen mit Röntgenlicht und Neutronen, Spitzen aus hochmagnetischer Resonanz und zackigen Spektren zunächst eben jene Abstandslisten erstellt und anschließend mit Intuition und Rechnerei den Aufbau der Moleküle entschlüsselt haben. Nicht selten stecken Jahre angestrengter Forschung und Heerscharen hoffnungsvoller Doktoranden hinter einer einzelnen Struktur.
Das Verfahren könnte in Zukunft einfacher und schneller werden. Mehr noch: Musste bislang die Probe in hoch geordneten Kristallen vorliegen, um verlässliche Aussagen zu ermöglichen, genügt fortan ein Pulver ohne periodische Muster. Möglich wird dies durch verbesserte Röntgentechniken und einem Auswertungsverfahren, das seine Entwickler den "Liga-Algorithmus" nennen.
Die neue Methode stammt von einem Wissenschaftlerteam um Simon Billinge von der Michigan State University und setzt an der Liste mit den Abständen zwischen jeweils zwei Atomen an, der so genannten pair distribution function (PDF). Um welche Atome es sich handelt und wo sie innerhalb des Moleküls zu finden sind, verrät die PDF nicht, nur wie weit es von Atom A zu Atom B ist, von Atom C zu Atom D und so fort, wobei es sich bei Atom A und Atom D durchaus um ein und dasselbe Atom handeln könnte. Eine Mammutaufgabe, daraus eine passende Struktur zu ermitteln, an der selbst modernste mathematische Finessen wie genetische Algorithmen sich mitunter die Zähne ausbeißen.
Das Liga-Verfahren der US-Amerikaner begegnet dem Datenwust mit einem ganz bescheidenen Anfang: Es pickt sich zufällig eine Verbindung zwischen zwei Atomen heraus. Diese beiden verknüpft es mit einem dritten Atom zu einem weiterhin 100-prozentig passenden Gespann. Daran kommt ein viertes Atom, ein fünftes und so fort. Ab der vierten Stufe kommt es natürlich zu Problemen: Die Abstände im Modell passen nicht mehr zu den Vorgaben aus der Liste. Es gilt folglich, schlechte Varianten auszusieben, unpassende Atome zu entfernen und neue einzusetzen. Und genau für diesen entscheidenden Vorgang haben die Forscher sich an den europäischen Fußball-Ligen orientiert.
Die Atom-Liga der Strukturaufklärung besteht aus so vielen Ebenen, wie das betreffende Molekül Atome hat. Bei einem thematisch passenden "Buckyball" C60 also 60 Ebenen. In jeder davon gibt es zehn "Teams", wobei ein "Team" in diesem Fall eine denkbare Zusammenstellung von Atomen ist. In der untersten Liga finden wir Teams aus nur jeweils einem Atom. In der zweituntersten Ebene sind es zweiatomige Mannschaften, darüber spielen die Dreier-Teams ... bis wir in der Bundesliga zehn Varianten mit vollen 60 Atomen bewundern dürfen. Deren Anordnung entspricht selbstverständlich überhaupt nicht der wirklichen Buckyball-Struktur. Darum beginnen nun die Spiele.
Für jedes Team bestimmt der Computer nach erprobten mathematischen Regeln, wie sehr die Anordnung der Atome von den Vorgaben der Liste abweicht. Eine zufällig ausgewählte Mannschaft spielt sich dann durch die Ebenen. Die Entscheidung zwischen Sieg und Niederlage hängt dabei vom Grad der Abweichungen ab. Je besser die Atome sitzen, umso eher steigt das Team auf, wobei jeder Schritt nach oben mit der Verpflichtung eines weiteren Atoms verbunden ist. Gute Teams gelangen so schnell nach oben, während die Verlierer beim Abstieg rechnerisch ermitteln, welche ihrer Atome besonders schlecht sitzen und diese dann rauswerfen.
Die Ähnlichkeit der Teams mit den Listenwerten wächst auf diese Weise in ungekannt kurzer Zeit an, bis schließlich der Spitzenreiter eine nahezu vollständige Übereinstimmung aufweisen kann. In Tests mit idealisierten Strukturen von bis zu 150 Atomen und mit echten Messdaten eines C60-Buckyballs errechnete sie volle 100 Prozent – und das in Zeitspannen, die verglichen mit genetischen Algorithmen halb so lang waren oder gar nur bei rund einem Zehntel der üblichen Dauer lagen.
Noch ist die Liga-Methode nicht allgemein anerkannter Weltmeister. Doch in ihr steckt das Potenzial für eine Revolution in der Strukturaufklärung. Im Gegensatz zu anderen Verfahren nutzt sie in ihrer reinen Form keinerlei Zusatzinformationen oder willkürliche Annahmen, sondern geht einzig von den Abstandsdaten aus. Gibt man jedoch sinnvolle Vorgaben ein – beispielsweise feste Kombinationen bekannter aromatischer Ringe – oder kombiniert man Daten aus verschiedenen Messungen mit unterschiedlichen Techniken – etwa von Röntgenstreuungen und NMR-Messungen –, sollte der Liga-Algorithmus selbst komplexe Makromoleküle analysieren können. Wozu früher jahrelange Arbeit nötig war, könnte dann in Monaten oder Wochen erledigt sein. Ein Triumph für den Hochleistungspuzzlesport.
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