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News: Ausgetrickst

Um dem bösen Räuber zu entgehen, sind alle Tricks erlaubt. Da tarnen sich kleine Schwebfliegen als wild um sich stechende Wespen oder harmlose Aale imitieren extrem giftige Seeschlangen. Am buntesten treibt es jedoch ein indonesischer Tintenfisch: Er begnügt sich nicht mit nur einer Art, sondern hat ein ganzes Repertoire von Tarntrachten auf Lager: Vom giftigen Plattfisch, über den Rotfeuerfisch bis zur Seeschlange kann er wahlweise die ganze Giftküche des Meeres nachahmen.
Es sollte ein ganz normaler Tauchgang werden. Als die Unterwasserfotografen Roger Steene und Rudie Kuiter im Jahr 1998 vor der Küste der indonesischen Insel Sulawesi ins Wasser sprangen, wollten sie nur mit ein paar netten Fotos zurückkehren. Reine Routine. Schließlich entdeckten sie einen Rotfeuerfisch. Vorsichtig näherten sich die beiden Taucher dem extrem giftigen Tier. Rotfeuerfische sind zwar keine Sensation, doch ihre bizarre Form macht sie zu einem heiß begehrten Fotomodell. Doch beim näher schwimmen wurde Steene stutzig. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das war kein Rotfeuerfisch, sondern irgend etwas anderes. Die Taucher glaubten ihren Augen nicht zu trauen. Vor ihnen schwamm – in der Gestalt eines Rotfeuerfisches – ein Tintenfisch.

Als die Fotografen ihre Bilder dem Meeresbiologen Mark Norman vom Melbourne Museum vorlegten, glaubte dieser ihnen kein Wort. Der Cephalopodenspezialist war bei der Entdeckung von 150 Tintenfischarten beteiligt, aber so etwas hatte er noch nicht gesehen. Schließlich ließ er sich doch zu einem Tauchgang zusammen mit den Fotografen überreden.

Die Beobachtungen der Unterwasserfotografen bestätigten sich: Der Tintenfisch kann tatsächlich einen giftigen Rotfeuerfisch nachahmen – ein Phänomen, das Biologen als Mimikry kennen. Den Trick, eine giftige oder wehrhafte Art zu imitieren, hat die Natur mehrfach erfunden. Bekanntestes Beispiel ist die gelb-schwarz gestreifte Schwebfliege, die Unbedarfte in Angst und Schrecken versetzt, sieht sie doch einer Wespe täuschend ähnlich. Bei Tintenfischen ist Mimikry allerdings nicht gang und gäbe. Die Kopffüßer verlassen sich vielmehr auf ihre Tarnkünste: Sie verstecken sich hinter einer dunklen, von ihnen ausgespuckten Flüssigkeitswolke – die berühmte Tinte – oder ändern rapide ihre Hautfarbe, sodass sie über dem Untergrund nicht mehr zu finden sind.

Doch was der neu entdeckte Tintenfisch treibt, stellt alles andere in den Schatten. Er begnügt sich nicht mit der Imitation einer einzigen Art, sondern hat ein ganzes Repertoire auf Lager: Mal zeigt er sich als giftiger Plattfisch, ein anderes Mal verwandelt er sich sogar in eine giftige Seeschlange. "Das sind nur die Formen, bei denen wir uns sicher sind", betont Tom Tregenza von der Leeds University, der den noch namenlosen Octopus jetzt zusammen mit Mark Norman und Julian Finn beschrieben hat. "Aber der Octopus ist noch zu vielen anderen Variationen in der Lage, die wir bis jetzt nur bei einem Exemplar beobachtet haben." Dabei scheint er je nach Bedarf sein Tarnkleid frei wählen zu können. Die Schlangenform bevorzugt er nämlich, wenn ein Damselfisch erscheint. Dieser Fisch frisst zwar normalerweise keine Tintenfische, ist aber extrem aggressiv. Seeschlangen jagen wiederum Damselfische, sodass diese sich schnell zurückziehen, sobald sie so ein Reptil erblicken – oder glauben zu erblicken.

Die Meeresbiologen wissen noch nicht, wie schnell sich der Tintenfisch "umkleiden" kann. Auf seine Trickkiste wird er jedoch vor allem auf Sandgrund zurückgreifen, da er hier Räubern schutzlos ausgesetzt ist, glaubt Norman. "Die wirklich verblüffenden Nachahmungen werden wahrscheinlich in eher eintönigen Lebensräumen zu finden sein. So etwas komplexes wie ein Korallenriff bietet dagegen so viele Versteckmöglichkeiten, dass der Selektionsdruck für die erstaunlichen Erscheinungsformen verringert ist." So wird den meisten Hobbytauchern dieses ungewöhnliche Tier entgehen, denn "in schlammigen Flussmündungen taucht normalerweise keiner".

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