Auswandern: Auf der Suche nach einer neuen Heimat
»Ihr habt eine Meise.« Das bekamen Niklas Dreyer und seine Frau Sandra (Namen geändert) von einigen Freunden zu hören, als sie ihnen vor fünf Jahren eröffneten, dass sie nach Portugal auswandern, dort ganz neu anfangen und ein Start-up gründen wollten. In einer Branche, von der der Politikwissenschaftler und die Betriebswirtin bis dahin nicht sehr viel Ahnung hatten. Und sie würden dafür in Berlin ihre gut dotierten Jobs aufgeben – während sie zwei kleine Töchter zu versorgen hatten.
Rückblickend räumt Dreyer ein, dass ihn zuweilen selbst die Angst vor der eigenen Courage packte und er die Sicht von Freunden und Familie in Deutschland nachvollziehen konnte. »Wir sind in ein Land gezogen, das wir abgesehen von einem Urlaub noch nicht wirklich gut kannten, dessen Sprache wir noch nicht richtig sprechen konnten – und wir haben ein Unternehmen in der Getränkebranche gegründet, in die wir uns erst hineinfinden mussten.« Aber: Beide hätten seit ihren gemeinsamen Reisen durch Europa und Südamerika gewusst, dass sie einmal in einem anderen Land leben wollen. »Unser erster Urlaub als Paar führte uns nach Portugal, und da hatten wir schon das Gefühl: Das ist es.«
Heute ist die Familie glücklich in ihrer neuen Heimat, einem hübschen Küstenstädtchen in der Nähe von Lissabon. Ihre Firma läuft, ein finanzkräftiger portugiesischer Partner stieg ein, die Kinder sprechen besser Portugiesisch als Deutsch. Und vom Wohnzimmerfenster ihres Reihenhauses aus kann man den Atlantischen Ozean sehen. Meistens von strahlender Sonne beschienen.
»Wir kamen von einem Deutschlandbesuch zurück, fuhren über die Autobahn. Und ich hatte plötzlich dieses Bauchgefühl: Ach, schön, wir sind wieder zu Hause«Niklas Dreyer, deutscher Auswanderer in Portugal
Dreyer, inzwischen 40, erinnert sich noch gut an die erste Zeit im neuen Land: »Es dauerte ungefähr drei Jahre, bis wir richtig angekommen waren, und es war manchmal durchaus eine emotionale Achterbahnfahrt, vor allem als Corona kam und unseren Radius einschränkte, gerade als wir mit unserem Getränkebusiness so richtig durchstarten wollten.« Aber dann gab es diesen Augenblick, als er das erste Mal an Portugal als »Zuhause« dachte: »Wir kamen von einem Deutschlandbesuch zurück, fuhren über die Autobahn. Und ich hatte plötzlich dieses Bauchgefühl: Ach, schön, wir sind wieder zu Hause.« Davor sei es immer umgekehrt gewesen.
Dass es in Portugal in den meisten Häusern keine vernünftigen Heizungen gibt, dass häufiger mal die Sicherungen rausspringen und die Menschen in Portugal einfach eine andere Art haben, Dinge anzugehen – das fiel Dreyer kaum noch auf.
Es hätte auch anders kommen können. Dem Statistischem Bundesamt zufolge wanderten 2021 rund 250 000 Deutsche aus. Im Gegenzug kehrten im selben Jahr aber auch gut 180 000 Ausgewanderte wieder zurück. Laut einer Studie der OECD, eines Zusammenschlusses der 38 weltweit führenden Industrienationen, sind die Deutschen im internationalen Vergleich eher mobil. Allein 3,8 Millionen Deutsche – rund fünf Prozent – lebten demnach 2015 in einem anderen OECD-Land. Damit liegt Deutschland weltweit auf Platz drei, hinter Großbritannien und Polen.
Warum Deutsche ihr Land verlassen
Vom frühen 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts kehrten die Deutschen ihrer Heimat den Rücken, um vor sozialer Not und politischer Verfolgung zu fliehen. Das belegen Studien wie die der Anthropologin Brigitte Bönisch-Brednich über Deutsche, die zwischen 1936 und 1996 nach Neuseeland ausgewandert waren. Heute wandern die Deutschen meist nicht deshalb aus, weil die Not sie treibt, sondern weil es sie ins Ausland zieht: Der Großteil will neue Erfahrungen machen und sich beruflich verbessern. Weniger als die Hälfte geben an, aus Unzufriedenheit mit dem Leben in Deutschland ausgewandert zu sein, berichtet das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) nach einer Umfrage 2015. Der Anteil der Hochqualifizierten liegt bei 70 Prozent: Überproportional viele sind Akademikerinnen und Akademiker, Führungskräfte oder anderweitig gut ausgebildet.
Ein Teil der Auswanderer will die Heimat von vornherein nur für begrenzte Zeit verlassen, etwa weil der Job im Ausland befristet ist. Aber die meisten starten mit offenem Ende. Wie es ihnen ergeht, hat der Psychologe und Psychotherapeut Hans-Ulrich Dombrowski untersucht und in mehreren Büchern zusammengetragen. Demnach ist Auswandern mit einer zweiten Pubertät vergleichbar. »In ein anderes Land aufzubrechen, das ist wie der Abnabelungsprozess von den Eltern, den wir als Teenager oder junge Erwachsene vollziehen. Und während dieses Prozesses lernen die Ausgewanderten sich selbst oft erst richtig kennen, wenn sie in der Fremde auf sich selbst zurückgeworfen sind«, hat der Psychologe beobachtet. Er bietet Coaching für Auswanderungswillige an und begleitet sie per Videosprechstunde weiter, wenn sie in der neuen Heimat schwierige Phasen durchlaufen.
Die vier Phasen des Auswanderns
Jede Auswanderung durchlaufe im Prinzip vier Phasen, erläutert Dombrowski. Zuerst die Honeymoon-Phase – mit Aufregung, Vorfreude und Enthusiasmus bei der Ankunft. Dann die Phase des Realitätsschocks und der Enttäuschung, wenn der Alltag nicht so einfach ist und die Einheimischen nicht so offen sind wie erhofft, die eigenen Kenntnisse der neuen Sprache schlechter, als man gedacht hat. Darauf folgt die Phase der Dekompensation mit Heimweh und Frust. Und am Ende steht, im Idealfall, die Phase des Ankommens und des endgültigen Einlebens. »Vor allem in den mittleren beiden Phasen zeigt sich, wie resilient die Neuankömmlinge sind«, sagt Dombrowski.
Nach seiner Erfahrung ist Resilienz der wichtigste Erfolgsfaktor. »Wenn jemand als Kind und Jugendlicher positive Erfahrungen bei der Bindung und Sozialisation gemacht hat und ein Gefühl der Sicherheit und der Kontrolle über sein Leben erfahren hat, dann besteht für eine solche Person natürlich auch eine hohe Wahrscheinlichkeit, Belastungssituationen zu bewältigen und mit Unsicherheiten und negativen Gefühlen gut umzugehen«, erläutert der Psychologe. Die Schwierigkeiten, die man in der alten Heimat hatte, lösen sich nicht einfach in Luft auf, warnt er. »Wer vorher Kontaktprobleme hatte, wird es auch im neuen Land nicht leicht haben, denn dort kommen ja noch die fremde Sprache und kulturelle Unterschiede dazu.«
In der Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung berichteten 40 Prozent der Befragten, dass sich die Auswanderung negativ auf ihren Freundes- und Bekanntenkreis ausgewirkt habe, unter anderem weil die alten Kontakte mit der Zeit schwinden. Fast ebenso viele sagten, sie könnten sich eine Rückkehr in die alte Heimat vorstellen. Die Hauptgründe für die Rückkehr waren jedoch andere: Knapp zwei Drittel der Rückkehrer nannten »partnerschaftsbezogene und familiäre Gründe« und mehr als die Hälfte (auch) berufliche, etwa wenn Ziele sich nicht wie gewünscht verwirklichen ließen.
Das bestätigt eine noch nicht abgeschlossene Studie des BiB. Darin wurden 11 000 deutsche Staatsangehörige zwischen 20 und 70 Jahren, die 2017 oder 2018 ausgewandert oder zurückgekehrt waren, nach ihren Erfahrungen befragt. Nur etwa jeder fünfte Rückkehrer oder Rückkehrwillige war mit seinem Leben in der neuen Heimat unzufrieden. Umgekehrt wollte aber auch nur jeder fünfte Ausgewanderte für immer im Ausland bleiben. Die Hälfte bekundete bereits zu Beginn, irgendwann wieder zurückzuwollen. Das liegt unter anderem daran, dass viele lediglich für ein zeitlich begrenztes Jobangebot ins Ausland gingen oder von ihrem Arbeitgeber entsendet wurden.
»Alles ist neu und fremd. Man muss sich allein zurechtfinden, und das unterschätzen viele«Petia Genkova, Psychologin
Auch die Wirtschaftspsychologin Petia Genkova, Professorin an der Hochschule Osnabrück, forscht zum Thema Auswandern, Schwerpunkt interkulturelle Kommunikation. Über enttäuschte Rückkehrer sagt sie: Häufig habe das mit einer hohen Defizitmotivation zu tun. »Sind Menschen von ihrem Leben im Heimatland frustriert, entwickeln sie oft umso stärker paradiesische Vorstellungen von der künftigen ›Heimat‹.« Das sei ein wenig mit frisch Getrennten vergleichbar, die sich nach der Liebesenttäuschung ebenfalls oft räumlich verändern wollten: Hauptsache, weg.
»Natürlich hat das Weggehen einen gewissen therapeutischen Effekt durch die Veränderung des Umfelds«, fügt sie hinzu. Aber: Anders als bei einer professionellen Therapie werde man in der neuen Heimat nicht betreut und geleitet. »Alles ist neu und fremd. Man muss sich allein zurechtfinden, und das unterschätzen viele – vor allem diejenigen, die das neue Land bisher nur im Urlaubsressort kennen gelernt haben«, sagt Genkova, die selbst als junge Frau als Gaststudentin nach Deutschland kam.
Tipps für Auswanderwillige
Die Tatsache, dass man über das Internet Zugriff auf zahllose Foren und Plattformen zum Thema Auswandern in alle Erdteile hat, verleitet offenbar häufig zu der Annahme, das Zielland eigentlich schon recht gut zu kennen. Selbstverständlich helfe das Netz sehr bei der Vorbereitung, weil man sich mit bereits Ausgewanderten austauschen könne, sagt die Psychologin. »Es ersetzt aber sicherlich nicht, selbst zunächst einmal hinzureisen und sich gründlich umzuschauen, ehe man die Entscheidung trifft auszuwandern.«
Sie empfiehlt: »Wer kulturellen Stress und Frustration vermeiden will, sollte darüber nachdenken, in der neuen Heimat Integrationskurse zu besuchen.« Zudem sei es wichtig, im Alltag möglichst schnell regelmäßigen Kontakt mit Einheimischen zu bekommen. Beides helfe, kulturelle Unterschiede zu überbrücken und Missverständnissen vorzubeugen. Ein Klassiker sei beispielsweise das unterschiedliche Verständnis von Pünktlichkeit. »So wie etwa Spanier oder Südamerikaner erst einmal lernen, dass Deutsche Unpünktlichkeit als unhöflich empfinden und verärgerte Reaktionen nicht etwa als generelle Ablehnung ihrer Person oder gar Rassismus zu werten sind, lernen Deutsche umgekehrt in südlichen Ländern, gelassener zu werden.«
Ein weiteres Beispiel für kulturelle Unterschiede beschreibt Brigitte Bönisch-Brednich in ihrem Buch »Auswandern. Destination Neuseeland. Eine ethnografische Migrationsstudie« aus dem Jahr 2002, auf das auch der Psychologe Hans-Ulrich Dombrowski hinweist. »Deutsche, die in den 1970er oder 1980er Jahren nach Neuseeland ausgewandert waren und in neuseeländischen Firmen arbeiteten, stießen ihre Kollegen mit ihrem strengen deutschen Arbeitsethos vor den Kopf.« In Neuseeland, so gibt es Dombrowski wieder, nehme man den Büroalltag nämlich viel lockerer, mit langen Teepausen und pünktlichem Feierabend ohne Überstunden. »Übereifer und eine gewisse Verbissenheit der neuen deutschen Kollegen stießen deshalb eher auf Abwehr.«
Ein Tipp ist Dombrowski wichtig: »Für den Anfang kann es zwar hilfreich sein, sich einen Expats-Stammtisch mit anderen Ausgewanderten zu suchen, um sich austauschen zu können. Aber irgendwann muss man sich davon lösen – sonst ist das Risiko groß, dass man sich viel zu viel über die negativen Dinge im neuen Land austauscht und sich womöglich in eine schlechte Stimmung hineinsteigert.«
In einer solchen Expats-Bubble wollten auch die Wahlportugiesen Niklas und Sandra Dreyer nie landen. »Portugal ist beliebt bei Digitalnomaden, die überall auf der Welt remote für ihre Auftraggeber arbeiten können«, sagt Niklas Dreyer. Und die meisten Portugiesen sprächen Englisch; deshalb machten sich viele Expats nicht die Mühe, Portugiesisch zu lernen. »Doch ein solches Leben wollten wir ausdrücklich nicht, weil man auf diese Weise keine echten Freundschaften mit Portugiesen schließen kann. Denn das funktioniert nun mal am besten über die Sprache.«
»Ich habe schnell gemerkt, dass man auf Mallorca nicht wirklich ankommt, wenn man kein Spanisch spricht«Pamela Harig, Goldschmiedin auf Mallorca
Die gleiche Erfahrung machte Pamela Harig, die vor 20 Jahren nach Mallorca auswanderte. Harig ist Goldschmiedin, wollte raus aus Deutschland und fand einen Job in Mallorcas Hauptstadt Palma. Ihr Chef war Deutscher, spanische Sprachkenntnisse waren deshalb nicht unbedingt wichtig. Auf der Baleareninsel leben viele Ausländer, so dass Neuankömmlinge sich fast ausschließlich in dieser Blase bewegen können. »Doch ich habe schnell gemerkt, dass man auf Mallorca nicht wirklich ankommt, wenn man kein Spanisch spricht.«
Sie fasste den Plan, sich mit einem eigenen Goldschmiede-Atelier selbstständig zu machen. »Parallel habe ich sechs Monate lang intensiv im Einzelunterricht Spanisch gelernt. Am Ende dieser Zeit war ich gut genug, um Gespräche mit Kunden, mit Behörden und mit meinem Steuerberater zu führen.« Jeden Morgen trank Harig ihren Kaffee in einem Café um die Ecke. »So bin ich mit Mallorquinern in meinem Viertel ins Gespräch gekommen. Bald kannten sie mich dort«, erzählt Harig. Sie sei schon immer kontaktfreudig gewesen. »Aber abgesehen davon ist es gut fürs Ankommen, wenn man sich kleine Rituale schafft – wie eben seinen Cortado immer in einem bestimmten Café zu trinken.«
Später legte sie sich einen Hund zu – »auch eine sehr gute Möglichkeit, mit anderen netten Hundebesitzern beim morgendlichen und abendlichen Spaziergang ins Gespräch zu kommen«. Die Mallorquiner seien eher zurückhaltende, abwartende Menschen. »Als ich hierherzog, gab es noch deutlich weniger Mallorquiner, die gut Englisch sprechen konnten, als heute. Spanisch war für mich daher der Türöffner.« Heute bestehen ihr Freundeskreis und ihr berufliches Netzwerk zum Großteil aus Spaniern.
Auch Niklas Dreyer hat sein Netzwerk mittlerweile fast ausschließlich in Portugal. »Sollten wir mit unserem Unternehmen doch einmal Schiffbruch erleiden, würde ich nicht versuchen, in Deutschland einen neuen Job zu finden. Dann würde ich hier mein Netzwerk mobilisieren. Ich wüsste sofort, wen ich anrufen oder anmailen könnte.« Er hat inzwischen gelernt, dass man in Portugal mit der direkten deutschen Art häufig nicht weiterkommt. Sehr wohl aber, wenn man erst einmal ein paar Sätze über die Familie, die Gesundheit und das Leben im Allgemeinen tauscht«. Den Satz »Ihr habt eine Meise« hat er von seinen alten deutschen Freunden schon seit Langem nicht mehr gehört.
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