Autismus: Das doppelte Empathieproblem
Autistische Menschen ticken in mancher Hinsicht anders als nicht autistische, »neurotypische« Personen: Sie nehmen zum Beispiel Mehrdeutiges eher wörtlich oder sind schneller überfordert, wenn viele Reize gleichzeitig auf sie einströmen. Zum Problem werden diese Eigenschaften vor allem dann, wenn das soziale Umfeld etwas von ihnen erwartet, was sie nicht leisten können – etwa am Arbeitsplatz.
Ein solches Fallbeispiel haben Sozialwissenschaftlerinnen aus den USA und Kanada 2024 herangezogen, um die Verständnisprobleme zwischen autistischen und nicht autistischen Menschen zu untersuchen. Unter fachlicher Beratung von Autisten verfassten die Forscherinnen eine fiktive Geschichte über einen autistischen Mitarbeiter, der in einem neurotypischen (nicht autistischen) Umfeld nicht wie gefordert funktionierte. 81 autistische und 173 nicht autistische Versuchspersonen sollten einschätzen, wie sich die Person in der Geschichte fühlte und was die Gründe für ihr Verhalten waren.
51 Prozent der Autisten, aber nur 31 Prozent der Nichtautisten konnten erklären, was in dem Mitarbeiter vorgegangen war. Allgemeines Wissen über Autismus trug in beiden Gruppen zur richtigen Interpretation bei; Bildungsniveau, Einkommen und Geschlechtsidentität hatten hingegen keinen Einfluss. Aber autistische Versuchspersonen waren auch unabhängig von ihrem Autismus-Fachwissen besser darin, die Geschichte zu interpretieren.
Die Theorie vom doppelten Empathieproblem
Diese Untersuchung reiht sich ein in die wachsende Zahl von Studien, die einer traditionellen und verbreiteten Auffassung widersprechen: dass sich Autisten schlecht in andere hineinversetzen können und dass daraus Störungen in der Kommunikation und sozialen Interaktion entstehen. Dieser einseitigen Defizittheorie setzte Damian Milton 2012 die Theorie des »doppelten Empathieproblems« entgegen: Das Problem werde von beiden Personen erlebt und entstehe aus ihren unterschiedlichen Veranlagungen, Vorerfahrungen, Normen und Erwartungen. Und das habe Folgen: Wenn die neurotypische Mehrheit autistische Menschen in dieser Weise wahrnehme, sähen sich diese selbst ebenso und zögen sich zunehmend aus der Mainstream-Gesellschaft zurück.
Mehrere kleinere Experimente haben ein solches Empathiedefizit seitens der Mehrheitsgesellschaft bestätigt. Unter anderem spielte eine Londoner Forschungsgruppe neurotypischen Erwachsenen Videoclips vor, in denen autistische und nicht autistische Menschen über emotionale Ereignisse in ihrem Leben berichteten. Die Versuchspersonen konnten sich in die glücklichen und traurigen Erfahrungen von Autisten weniger einfühlen als in die von Nichtautisten.
Dass Autisten untereinander oft eine bessere Verbindung aufbauen als zu Nichtautisten, ist selbst für nicht autistische Beobachter erkennbar, wie ein Team von der University of Texas in Dallas 2023 zeigte. In dieser Studie sahen sich rund 100 neurotypische Studierende Videoaufnahmen von Kennenlerngesprächen zwischen 42 autistischen und 44 nicht autistischen Männern an. Die Studierenden bewerteten die Interaktionen zwischen zwei Nichtautisten nur wenig besser als die Gespräche zwischen zwei Autisten. Kommunikationsprobleme gab es demnach vor allem dann, wenn ein Autist und ein Nichtautist aufeinandertrafen.
Das dreifache Empathieproblem
In Situationen, in denen die Verständigung ohnehin schon erschwert ist, sprechen Forschende sogar von einem dreifachen Empathieproblem. Berichte von mehr als 1200 autistischen Erwachsenen aus dem Vereinigten Königreich, Irland und den USA zeigen: Viele Probleme, die auch nicht autistische Menschen beim Arzt haben, treten bei Autisten verstärkt auf. Zu deren Schilderungen zählte zum Beispiel, »wie ein dummes Kind« behandelt, nicht ernst genommen oder auf den Autismus reduziert zu werden. »Ärzte sehen meine Diagnose und hören mir dann nicht mehr zu«, lautete ein Zitat.
Solche Erfahrungen machen auch Menschen ohne Autismus-Diagnose. Die Probleme von Autisten mit ihrer sozialen Umwelt sind nicht grundsätzlich anders. Von der neurotypischen Mehrheit unterscheiden sie sich weniger darin, woran sie sich stören, sondern, wie oft und wie intensiv sie solche Störungen erleben.
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